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Jenseits von Timoschenko

Am 13. Juni trifft die deutsche Mannschaft in Charkiw auf die Niederlande. Ausgerechnet in Charkiw. Die ostukrainische Stadt ist in den vergangenen Wochen in die Schlagzeilen geraten, weil die ukrainische Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko dort im Gefängnis sitzt. Negative Schlagzeilen also für die Ukraine und für den Austragungsort Charkiw. Dabei ist die Stadt eine Reise wert. Auch wenn bei den Vorbereitungen für das Sportereignis einiges im Argen liegt.

Von Gesine Dornblüth | 02.06.2012
    Sonntag Nachmittag in Charkiw. Im Schewtschenko-Park sind Hüpfburgen aufgebaut. Jung und Alt sitzen auf Parkbänken, essen Zuckerwatte, lauschen den sechs Frauen, die in volkstümlichen Kleidern gegen den Wind ansingen. Igor ist Möbeltischler und Mitte 20. Er sitzt mit einem Freund im Schatten und trinkt Bier.

    " Die Europameisterschaft wird ein Fest. Es wird großartig, wenn viele Leute kommen. Das ist gut für unsere Stadt und für das Land. In der Stadt wurden die Straßen verbreitert, Hotels gebaut, Parks angelegt. Unsere Parks muss man einfach gesehen haben."

    In Charkiw spielen Deutschland, die Niederlande, Dänemark und Portugal. Es ist die interessanteste Gruppe, findet Wladimir Tschistilin. Er ist Journalist und Fußballfan und hat sich für alle Spiele in seiner Heimatstadt akkreditiert.

    "Charkiw ist eine Fußballstadt. Wir haben hier einen fußballbegeisterten Oligarchen: Olexander Jaroslawskij. Er hat in den 90er Jahren den Klub "Metalist Charkiw" gekauft. Der Verein hat es bis in die Europa-League gebracht. Jaroslawskij hat das Stadion modernisiert. Er hat ein Fünfsternehotel gebaut und den Flughafen saniert. Ohne ihn hätte es Charkiw schwer gehabt, den Europäern irgendetwas zu bieten."

    Tschistilin läuft durch das Stadtzentrum. Überall werden Fassaden renoviert. Zwischen 40 und 60.000 Fans erwartet Charkiw an den Spieltagen. Auf so einen Ansturm sei die Stadt nicht vorbereitet, meint der Journalist.

    "Ich kann mir ganz elementare Dinge nicht vorstellen: Wo die Leute alle essen werden, wo sie auf die Toilette gehen. Die Niederländer waren klug, sie haben einen eigenen Fanbereich eingerichtet, den sie komplett selbst ausstatten. Das ist ihre Rettung."

    Oleksandr Netschiporenko weist diese Sorgen von sich. Er ist der EM-Beauftragte von Charkiw. Netschiporenko hat einen Fitnessclub als Treffpunkt vorgeschlagen. Die Anlage ist neu. Am Pool stehen Liegestühle, eine Bar, eine Großbildleinwand. Gleich nebenan ist ein Kasino mit einem Bowlingzentrum.

    "Alles, was wir der UEFA versprochen haben, ist rechtzeitig fertig geworden: Das Stadion, die Parkplätze, der Flugplatz. Mit der Fanmeile fangen wir bewusst so spät wie möglich an, damit die Einheimischen nicht so viele Unannehmlichkeiten haben."

    Die Fanmeile wird auf dem "Platz der Freiheit" in Charkiw errichtet. Es ist einer der größten Plätze Europas. Netschiporenko ist selbst Fußballfan. Kürzlich war er beim Champions-League-Finale in München, um die dortige Fanmeile zu besichtigen. Sie hat ihm nicht gefallen.

    " Am Eingang lagen leere Flaschen, weil es keine Mülleimer gab. Die Leute sind über Scherben gelaufen. So etwas wird bei uns nicht vorkommen."

    In den letzten Wochen ist viel Kritisches über die EM-Vorbereitungen in der Ukraine geschrieben worden. Vor allem über die explodierenden Kosten. Das Stadion in Kiew beispielsweise ist mit 600 Millionen EUR das teuerste der Welt. In der Ukraine regieren Oligarchen. Kritiker sagen, sie hätten die Preise künstlich in die Höhe getrieben und die Hälfte der Auftragsgelder in die eigene Tasche gesteckt. Netschiporenko, der EM-Beauftragte in Charkiw, schließt so etwas für seinen Verantwortungsbereich aus.

    " Die Stadt Charkiw hat umgerechnet eine Milliarde Euro erhalten. Wir haben jede einzelne Kopeke kontrolliert. Was die Gelder auf Landesebene betrifft – dazu kann ich nichts sagen, da sind wir nicht zuständig."

    Im Schewtschenko-Park nimmt der Möbeltischer Igor noch einen Schluck Bier. Ihn kümmern die Korruptionsvorwürfe wenig.

    "Selbst wenn sie nur 30 Prozent der Gelder ausgegeben und 70 Prozent in die eigene Tasche gesteckt haben – man sieht ein Ergebnis. Und das finde ich beeindruckend genug."

    Wladimir Tschistilin, der Journalist, blickt jetzt nach vorn.

    "Es ist mit Recht viel Negatives über die EM gesagt worden. Aber ich will jetzt endlich Fußball sehen. Die deutsche Mannschaft. Ich werde die Deutschen anfeuern!"