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Josef sucht die Freiheit

Josef sucht die Freiheit, an seinem dreizehnten Geburtstag. Was die Freiheit ist, wer wüßte das zu sagen, doch Josef glaubt zumindest den Weg zu kennen, wie man sie erlangen kann. Er will Bescheid wissen, genau so viel wissen wie die Erwachsenen um ihn herum. Deshalb versteckt er sich und belauscht sie. Am Ende des Tages wird er mehr wissen als ihm lieb sein kann.

Joachim Büthe |
    "Josef sucht die Freiheit", erstmals erschienen 1928, ist das Debut des Erzählers Hermann Kesten, geboren 1900. Es wurde sogleich mit dem renommierten Kleist-Preis ausgezeichnet, eine frühe Anerkennung dieser Geschichte einer Desillusionierung innerhalb kürzester Zeit, wie sie radikaler kaum hätte ausfallen können. Dabei ist es weniger die Kritik an den sozialen Verhältnissen, am unwürdigen Leben in den mit Recht so genannten Mietskasernen, die diese Radikalität ausmacht. Noch in der Anklage steckt die Hoffnung, durch sie zur Verbesserung der Verhältnisse beizutragen. Wer Kestens Welt betritt, muß auch diese Illusion fahren lassen. Seinen Text satirisch und seine Tonlage ironisch zu nennen, wäre ein Euphemismus. Die Verhältnisse sind schlecht, doch die Menschen sind um keinen Deut besser, so lautet der sarkastische Befund.

    Josefs Vorfahren haben bessere Tage gesehen. Daß die Familie nun, vom Vater verlassen, beengt und an der Armutsgrenzelin einem Zimmer hausen muß, schuldet sich nur zu einem kleinen Teil ökonomischem Pech, zu einem größeren egozentrischer Verschwendungslust und Verantwortungslosigkeit. Josef selbst ist überdurchschnittlich intelligent, das Gymnasium kann er immerhin noch besuchen. Sein zerstörerischer Wissensdurst wird befeuert von der Ahnung, daß die ihm zugewandte Fassade liebevoller Zuneigung ihr Fundament längst verloren hat. Auf seinem Horchposten hinter der Matratze erfährt er, wie situativ bedingt Zu- und Abneigung sein können, nicht zuletzt an sich selbst. Er muß auch mit anhören und -sehen, wie hinfällig und im Zweifelsfall käuflich die sogenannte Tugend ist. Hermann Kesten konfrontiert seinen kleinen Helden mit Bildern, die George Grosz entworfen haben könnte: die Prostitution als zentrale Metapher einer Epoche. In einem späteren Roman von Kesten wird Josef wiederkehren, ein ausschweifender Mensch, so der Titel.

    Noch ist Josef dreizehn, und diese erzählerische Perspektive durchgehalten zu haben, ist nicht der geringste Teil von Hermann Kestens Leistung. Es ist eine schlingernde, auch plötzlich die Richtung ändernde, Bewegung zwischen Allmachtsphantasien, kindlicher Hilflosigkeit und sich steigernder Verzweiflung. Nur selten schimmert durch das altkluge Kind eine Diktion hindurch, die denn doch eher die des Autors sein dürfte. Am Ende hat Josef gelernt, daß Freiheit in erster Linie Freiheit von etwas ist: Freiheit des Vergessens oder Freiheit des Todes. Es ist nur sein starker Wille, der ihn vor Letzterem bewahrt. Fünf Jahre nach Erscheinen des Buchs geht Kesten in die Emigration, und seine Verdienste um die deutsche Exilliteratur sind so enorm, daß sie hier nicht einmal angedeutet werden können. Einen Wohnsitz in Deutschland wird er nie mehr nehmen, doch in der Nachkriegsliteratur bleibt er präsent: ein allseits anerkannter Essayist und ein Romancier, dem gelegentlich auch Skepsis entgegenschlägt. Zu reißerisch, lautet ein häufig vorgebrachter Einwand, und Kesten hat in der Tat einen gewissen Hang zum Melodram. In der Art, wie er am Ende seines Erstlings das Romanpersonal abräumt, ist er bereits spürbar.