Freitag, 19. April 2024

Archiv


Jüdisch-christliche Wurzeln

Christian Wulff hat mit seiner Aussage, der Islam gehöre für ihn zu Deutschland, eine neue Kulturdebatte angestoßen. Doch auch jüdisch-christliche Wurzeln sind in Deutschland nicht wegzudenken, wie eine Podiumsdiskussion an der Universität Hannover zeigt.

Von Bettina Mittelstrass | 03.02.2011
    Es gibt sie, die christlichen Wurzeln deutscher Kultur, das ist eine Tatsache, sagt Christian Waldhoff, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Bonn:

    "Es gibt viel mehr christliche und religiöse Wurzeln in der Rechtsordnung als die meisten, auch Juristen, wissen. Da können wir jetzt ganz viel im Staatsrecht anfügen. Das Wahlrecht stammt aus dem kirchlichen Recht etwa. Dass Mehrheit entscheidet, das setzt sich in kirchlichen Wahlverfahren – Wahl von Bischöfen, auch Papstwahl – durch. Aber auch im Strafverfahren: in dubio pro reo - im Zweifel für den Angeklagten - kommt aus dem kirchlichen Recht."

    Andererseits – sagt Ulrich Haltern, Professor für deutsches und europäisches Staats- und Verwaltungsrecht an der Leibniz Universität Hannover:

    "Kulturelle Wurzeln sind nie naturalistisch. Sondern kulturelle Wurzeln sind das, was sich eine gegenwärtige Gemeinschaft vorstellt, was ihre kulturellen Wurzeln sein könnten. Das ändert sich also. Von Jahr zu Jahr, von Tag zu Tag, je nach aktuellem Anlass und ist aussagekräftiger für die Gegenwart als für die Vergangenheit."

    Und deshalb - so Peter Antes, Professor für Religionswissenschaften an der Leibniz Universität Hannover - hat die Rede von den "jüdisch-christlichen Wurzeln" derzeit auch einen bestimmten Sinn:

    "Die Stoßrichtung der Rede von den jüdisch-christlichen Wurzeln zielt vor allem auf Abgrenzung vom Islam und ist von daher eher anti-islamisch konzipiert und auch so gemeint und ein völlig neues Phänomen."

    Christian Waldhoff, Ulrich Haltern und Peter Antes waren drei von fünf Gästen auf dem Podium beim "Leibniz Forum Hannover". Das öffentliche Gespräch der Wissenschaftler zur aktuellen politischen Diskussion füllte den Saal im historischen Museum Hannover bis auf den letzten Platz.

    "Meine Damen und Herren, ich freu mich, dass Sie den Weg hierher gefunden haben und so zahlreich erschienen sind. Das ist keine Selbstverständlichkeit."

    Veranstalter Wenchao Li, Philosoph und Inhaber einer renommierten Leibniz-Stiftungsprofessur in Hannover, traf mit der Wahl des Themas – der Frage nach den sogenannten "jüdisch-christlichen Wurzeln" der deutschen Gesellschaft – in einen Nerv, der zur Zeit Probleme macht. Peter Antes:

    "Es ist nicht im Prinzip problematisch, aber es will betonen in dieser Rede, dass das jüdisch-christliche Menschenbild – wobei es wahrscheinlich im Verständnis primär um das christliche Menschenbild geht – ein anderes ist, als das islamische. Wobei unterstellt wird, dass der Islam frauenfeindlich, antidemokratisch, unmodern, reformunwillig und so weiter ist."

    Hier die "Modernen" - da die "Rückständigen" legt die Formel vom "jüdisch christlichen" nahe. Blickt man weiter zurück, dienten Jahrhunderte lang immer andere Religionsgemein-schaften als Projektionsflächen für das, was nicht modern ist, erläutert Peter Antes.

    "In den letzten 300 Jahren ging es immer um die Auseinandersetzung von Religion und Moderne und zwar zunächst gegen den jüdischen Glauben gerichtet als reformunwillig und reformunfähig und im Grunde genommen mit der Moderne nicht vereinbar, auch mit den Vorstellungen einer heiligen Schrift. Danach, Ende des 19. Jahrhunderts, zu Beginn des 20. Jahrhunderts werden diese Argumente dann vor allen Dingen nach neuen Verbindungen mit Frauenfeindlichkeit und Antidemokratie in protestantischen Ländern gegen die Katholiken erhoben. Und diese Argumente kehren jetzt genau wieder im Argumentieren gegen den Islam."

    Jenseits der gewollten Abgrenzung gegenüber dem Islam ist die Rede von den "jüdisch-christlichen Wurzeln" der Deutschen noch auf eine andere Weise problematisch, sagt die Professorin für Jüdische Religionslehre, Almut Shulamit Bruckstein Coruh:

    "Es gab keine jüdisch-christliche Tradition. Das ist eigentlich ein unanständiges Wort."

    Der Bindestrich ist eine Provokation. Almut Bruckstein Coruh, die am Wissenschaftskolleg zu Berlin im Arbeitskreis Moderne und Islam arbeitete und die Ausstellung "TASWIR – Is-lamische Bildwelten und Moderne" im Martin Gropius Bau kuratierte, verweist immer wie-der auf den Fehler in der Konstruktion dieser Verbindung:

    "Sie schließt insbesondere das Rabbinische aus. Man könnte ja damit meinen mit dem Jüdisch-Christlichen - vielleicht deswegen geht es ja auch so durch, deswegen schreit nicht jeder "Was ist das?", weil die Leute meinen – das Jüdische des "jüdisch-christlichen" sei das Biblische, Alttestamentarische. Aber das ist ja sozusagen ein großer Irrtum. Weil die jüdische Tradition hat als ihr Herzstück und ihr Rückrad natürlich das Rabbinische Juden-tum. Also ohne Talmud und ohne rabbinische Tradition gibt es kein Judentum. Und das rabbinische Judentum grenzt sich ja im vierten Jahrhundert ab von den Patristen, ab von dieser Engführung, dass der Logos und die Vernunft der Christus sein soll."

    Vom Judentum als die "ältere Schwesternreligion" des Christentums könne mit Blick auf das rabbinische Judentum keine Rede sein, sagt die Wissenschaftlerin. Im Gegenteil stehe seit dem vierten Jahrhundert die Abgrenzung und Auseinandersetzung der beiden Traditio-nen im Vordergrund ihrer Geschichten. Sie "wegzukürzen" mit der Formulierung "jüdisch-christliche Wurzel" ist für Almut Bruckstein Coruh ein unheimlicher Vorgang.

    "Das ist gelungen, die Erinnerung an das Rabbinische, was das Fremde war, völlig aus-zulöschen aus dem Bewusstsein der Westeuropäer, insbesondere der Deutschen. Und das hat was ganz Unheimliches, weil im 19. Jahrhundert war das noch da, dass man wusste, das Rabbinische ist etwas Widerständiges dem Eigenen gegenüber. Und da hat man auch den Juden als Orientalen gesehen. Dieses Gesamte – der Jude als Orientale – ist komplett weg, auch in Israel. Es ist ja eine europäische Idee, diese zionistische Idee. Insofern auch in Israel gibt es so eine Art Europäisierung des Orientalen und dieser Fremdbegriff, dieser Projektionsbegriff – in Israel ist es der Palästinenser, der Araber, der Feind und in Europa ist es der Muslim, ganz klar."

    Die sprachlich provozierte Symbiose hänge in Deutschland nicht nur mit der Abgrenzung nach Außen, sondern auch mit dem Erlebnis des Dritten Reiches zusammen.

    "Ich denke dass der Begriff der jüdisch-christlichen Wurzeln wirklich in den letzten zehn Jahren dazu angetan war nach innen hin die Traumatisierung der völlig mörderischen Ver-hältnisse bis 45 zwischen Juden und Christen zu überspielen."

    Mit Blick auf den Zweck der Formel in der aktuellen Debatte, fiel die Einschätzung, ob sie nun mehr schadet als nutzt, auf dem Podium unterschiedlich aus. Christian Waldhoff hat keine großen Probleme im Bezug auf das Recht von religiösen Wurzeln zu sprechen:

    "Die Rechtsordnung ist zwar stark religiös geprägt, sie wird aber als weltliche Rechts-ordnung angewendet und damit gegenüber allen Religionen und allen Menschen mit unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen gleichermaßen."

    Ullrich Haltern sieht zwar das ausschließende Moment –

    "Andererseits wird der Begriff auch benutzt, um auf christliche Toleranz hinzuweisen und somit durch die Hintertür wieder eine Inklusion herbei zu führen. Ob das erfolgreich sein wird, hängt von den sagen wir mal diskursiven Verhandlungen der gesellschaftlichen Gruppen ab."

    Für Peter Antes steckt in den wiederkehrenden Vorwürfen an Religionsgemeinschaften "antimodern" zu sein, auch eine Chance:

    "Was interessant ist, ist, dass sie natürlich einen positiven Einfluss auch auf die inneren Entwicklungen in den jeweiligen Religionen haben. Im Falle des Judentums ist das liberale Judentum dann entstanden als Antwort darauf. In der katholischen Kirche kam es zu Re-formbewegungen und im Islam gibt es heute auch neue Tendenzen dieser Art."

    Almut Bruckstein Coruh bleibt hingegen skeptisch, was die seltsame neue Symbiose des "jüdisch-christlichen" angeht:

    "Es wäre viel interessanter, auch politisch, über die engste Verwobenheit jüdischer rabbinischer und islamischer Figuren und Denktraditionen nachzudenken. Die sind näm-lich wirklich ganz nah, ganz, ganz nah."