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Karls-Jahr
Priesterliche Handbücher eröffnen eine ganz neue Welt

Vor 1.200 Jahren, am 28. Januar, starb Karl der Große. Der König der Franken wurde schon zu Lebzeiten als "Pater Europae" bezeichnet. Das Deutsche Historische Institut in Paris widmete seiner Herrschaft vergangene Woche eine dreitägige internationale Tagung.

Von Suzanne Krause | 03.04.2014
    Im holzgetäfelten großen Veranstaltungssaal des Deutschen Historischen Instituts in Paris ist kein Platz mehr frei, als Rolf Große, im Haus Spezialist für das Mittelalter und Organisator der Tagung, die Veranstaltung eröffnet.
    Am vergangenen 28. Januar, 1.200. Todestag von Karl dem Großen, wurde an der Sorbonne in Paris ein bedeutendes Werk präsentiert, berichtet Rolf Große: Die komplette Neuauflage der Karls-Biografie von Einhard, der wichtigsten zeitgenössischen Quelle. Der Karolinger-Spezialist Michel Sot und die Latein-Expertin Christiane Veyrard-Cosme haben das Werk vollständig neu übersetzt und mit Anmerkungen zum aktuellen Forschungsstand versehen. Die zuvor letzte französische Übersetzung von Einhards "Vita Karoli Magni" stammt von 1923.
    Das Interesse an Karl dem Großen ist also keineswegs abgeflaut. Im Gegenteil, sagt Rolf Große. Rund um das Karls-Jahr erscheinen mehrere Biografien. Und zur Karls-Tagung in Paris reisten fast alle Spezialisten aus Europa und sogar den Vereinigten Staaten zum Austausch an, resümiert Veranstaltungsleiter Große.
    Was vernachlässigt worden ist in der Forschung, ist die Frage der Peripherien. Wir müssen uns auch die Frage stellen, ist das, was wir als Regierungsprogramm Karls des Großen verstehen, wirklich der Aktion und Initiative Karls des Großen entsprochen? Was war die Reaktion? Die Frage ist auch, wie weitgehend waren die Reformen, wie erfolgreich waren die Reformen. Wir sprechen ja von der karolingischen Renaissance, die eine Wiederbelebung des geistigen Lebens bezweckte, die auch allgemein das Bildungsniveau heben wollte. Wir wissen aber nicht, wie weit das ging, ob auch untere Schichten oder einfachere Bevölkerungsschichten erreicht wurden.
    Dieser Frage widmet sich Historikerin und Kunstgeschichtlerin Carine Van Rhijn von der niederländischen Universität Utrecht. Van Rhijn erforscht seit langem, wie die Priester Karls ehrgeizige Bildungsreform lokal umsetzten. Aktuell studiert sie Handbücher, die Diözesen damals an ihre Priester verteilten: Gebrauchsanweisungen für den Alltag in Kirche und Dorf.
    Diese Handbücher enthalten alle Texte, mit denen die Priester dem Volk die Leitgedanken der Bildungsreform mündlich vermitteln konnten. Zudem wird hier auch manche schwierige Frage beantwortet, die an einen Priester herangetragen werden konnte. Das Volk bestand damals zwar zumeist aus armen Bauern, die weder lesen noch schreiben konnten, aber dumm waren sie nicht. Sie fragten beispielsweise, warum die Jungfrau Maria denn verheiratet gewesen sei. Die Idee der jungfräulichen Empfängnis ging ihnen ein, die Notwendigkeit einer Eheschließung weniger. Ich sehe es geradezu vor mir, wie ein Priester dann erst einmal verzweifelt nach Argumenten suchte. Im Handbuch fand er eine einfache Erklärung: Zu Zeiten von Joseph und Maria wurde eine unverheiratete Schwangere zu Tode gesteinigt. Um also dafür zu sorgen, dass das Jesus-Kind auf die Welt kommen konnte, bestimmte Gott, Maria mit Joseph zu verheiraten.
    Carine Van Rhijn ist die erste, die priesterliche Handbücher durchforstet. Alle zwei Wochen stöbere sie in Handschriftensammlungen in aller Welt neue Ausgaben auf, bislang 78 Exemplare. Bisher schienen diese Werke, häufig angefleddert, aus Papierresten erstellt, von geringer Bedeutung. Ein Trugschluss, meint Carine Van Rhijn.
    Dank dieser Quellen ist es also nun auch möglich, etwas vom lokalen Leben des einfachen Volks verstehen zu können. Früher blieb das den Archäologen vorbehalten, indem sie ausgruben, was damals weggeworfen wurde. Aber über diese Handschriften, diese Priesterbücher erhalten wir ein bisschen ein Gespür dafür, was die Leute früher eventuell dachten und taten. Dies eröffnet uns eine ganz neue Welt.
    Doch auch die herkömmlich genutzten historischen Quellen zu Karl dem Großen erfahren neue Beachtung. Bei der Pariser Tagung zeigt sich das sehr deutlich, sagt der belgische Historiker Alain Dierkens.
    Heute will man nicht nur mit den historischen Texten, die mittlerweile alle einzeln publiziert sind, arbeiten. Sondern man schaut nun eher auf die unterschiedlichen Sammlungen, Bücher, in die sie damals eingebracht wurden.
    Denn mittlerweile wird offensichtlich: Die Zusammensetzung einer Textsammlung war jeweils davon abhängig, für wen und für welchen Teil des Karls-Reichs sie gedacht war.
    Die Art und Weise, wie hier Kapitularien, also königliche Gesetzesvorgaben und ähnliche Texte vermittelt wurden, welche Texte man in einer Sammlung zusammenfasste, all das verschafft uns heute neue Informationen. Dieser Ansatz ist vielversprechender als bislang gedacht.
    Zwar strebte Karl der Große in seinem Vielvölkerreich erfolgreich eine Einheit an. Aber dieser Begriff habe wenig gemein damit, was wir heute unter Vereinheitlichung verstehen, stellt Tagungsleiter Rolf Große klar:
    Es gab durchaus Unterschiede innerhalb des Frankenreiches, die akzeptiert wurden. Worauf es ankam, war die Harmonie. Diese unterschiedlichen Dinge mussten harmonisch zusammenpassen.
    Ein Dauerbrenner bei der Karls-Forschung bleibt auch nach der Pariser Veranstaltung weiterhin aktuell: Im vergangenen Jahrtausend gelang es nicht, die letzte Ruhestätte des Frankenreich-Kaisers zu finden. Für den Historiker und Archäologen Alain Dierkens ein Krimi ohne Ende.
    Karl der Große ist sicherlich in der Aachener Dom-Kirche bestattet worden. Mit Domkirche meine ich entweder im Gotteshaus selbst oder in dessen Vorhof. Diesbezüglich sind sich auch die Quellen relativ einig. Allerdings sind die Meinungen sehr geteilt, ob sein Grabmal nun unterirdisch lag oder ob er in einem Sarkophag oberirdisch bestattet wurde. Da streiten sich die Spezialisten weiter, je nachdem, ob sie sich auf Quellen aus dem 9. oder dem 11. Jahrhundert berufen. Derzeit werden die Ergebnisse der letzten Grabungen analysiert. Und neue stehen bevor, im Rahmen der Ausstellungen, die Aachen derzeit im Karls-Jahr vorbereitet.