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Kinder, Tiere und Wasser

Drei Dinge sollten Filmemacher unbedingt vermeiden, wenn sie keinen Misserfolg haben wollen, heißt es in Hollywood: Kinder, Tiere und Wasser. "Life of Pi - Schiffbruch mit Tiger" hat alle drei. Doch Regisseur Ang Lee straft die Behauptung Lügen. Ihm ist ein bildgewaltiger, tiefgründiger Film gelungen.

Von Rüdiger Suchsland | 22.12.2012
    Ein Sturm zieht auf. Das Boot wird hin und her geworfen von den Wellen. Zuerst ist es nur ein Abenteuer. Endlich mal Abwechslung für Pei, der eigentlich Patel heißt, ein indischer Junge, der mit seiner ganzen Familie und vor allem mit dem ganzen Zoo des Vaters auf dem Ozean unterwegs ist, um in Übersee ein neues Leben anzufangen.

    Doch der Sturm wird immer heftiger, und es wird bitterernst: Plötzlich sinkt das Schiff, und Pei findet sich wieder in einem Rettungsboot, als einziger Überlebender - zusammen mit einem Tiger!

    Lernprozesse mit glücklichem Ausgang - das ist es, wovon Ang Lee fast immer erzählt. Der in Taiwan geborene, seit 30 Jahren in New York lebende Filmemacher Ang Lee hat es schon immer verstanden, das Fernöstliche mit dem westlichen, das Konkrete mit dem Spirituellen, das Magische mit dem Realistischen zu mischen.

    Nur wenige unter den zeitgenössischen Filmemachern haben ein derart weites Spektrum von Interessen. Es reicht von dem Familiendrama "The Icestorm" bis zum Superheldenfilm "Hulk", von der chinesischen Familiengeschichte "Eat Man Drink Woman" bis zur Jane Austen-Kostümverfilmung "Sinn und Sinnlichkeit", vom schwulen Liebemelo "Brokeback Mountain" bis zum Martial-Arts-Film "Tiger & Dragon" - zweimal gewann er den Goldenen Löwen von Venedig, zweimal in Berlin einen Golden Bären. Und mehrere Oscar gewannen seine Filme sowieso.

    Mit "Life of Pi - Schiffbruch mit Tiger" beweist Ang Lee einmal mehr seine enorme Vielfalt, seine große Begabung aber auch seine nie versiegende Neugier auf Herausforderungen. Denn dies ist zwar einmal mehr eine Literaturverfilmung, immerhin gewann Yann Martel für die Vorlage einst den renommierten Booker-Price und verkaufte über sieben Millionen Bücher. Aber dies ist auch Ang Lees erster Film mit der neuen, noch mehr schlecht als recht funktionierenden 3-D-Technik. Aber eines kann man gleich feststellen: Ang Lee ist es gelungen, der neuen Technik Bilder abzuringen, wie man sie noch nie gesehen hat. Das Wichtigste aber: Es ist ihm gelungen, das man über die Technik gar nicht weiter reden muss, dass sie das tut, was jede gute Technik tun sollte: Sie tritt in den Hintergrund, und wird nicht vom Hilfsmittel zum Zweck an sich.

    Drei Dinge, so sagt man in Hollywood, solle man als Filmemacher unbedingt vermeiden, wenn man keinen Misserfolg haben will: Kinder, Tiere und Wasser. "Life of Pi" aber hat sie alle drei.

    Vor allem aber erzählt er eine Geschichte von zwei Lebewesen, die sich über zwei Stunden lang ausschließlich auf dem offenen Meer auf einem Boot abspielt. Geht es noch langweiliger? Wir wissen von Anfang an, das Pei diesen monatelangen Trip überleben wird. Denn er erzählt die Story.

    Geht es noch spannender, wäre die bessere Frage.

    Denn man staunt, was für eine Dramatik, was für ein Abenteuer Ang Lee dieser so scheinbar statischen und zugleich hochkonstruierten Konstellation abringt.

    Wir Zuschauer begegnen einem Schwarm fliegender Fische, fluoreszierenden Quallen, einem riesigen Wal. Wir sehen den Kampf um Wasser und Nahrung, wir erleben das Arrangement zwischen Mensch und Tier.

    "Life of Pi" ist ein Fest für die Augen und alle anderen Sinne, er zeigt großartige, ungesehene Bilder, und bietet eine wundersame visuelle Erfahrung - aber es ist auch ein philosophischer Film, im dem die zentralsten Fragen aufgeworfen werden - nach dem Verhältnis des Menschen zur Natur, nach dem Sinn des Lebens, nach dem Tod, nach Gott und nach Macht wie Ohnmacht des Menschen. Sinn und Sinnlichkeit also in einem.

    Das kleine Boot steht hier symbolisch für die ganze Welt. Und so muss man "Life of Pi" durchaus begreifen als populäre und vielleicht sehr zeitgemäße Version anderer, klassischer symbolisch aufgeladener Seemannsgeschichten: "Robinson Crusoe" oder "Moby Dick".

    Sehr zeitgemäß ist der Film auch in seiner Sentimentalität, die manche als Kitsch empfinden werden - und in der Weise, in der er auf die neuen spirituellen Bedürfnisse des Westens antwortet.

    Denn es gibt zwei Lesarten dieses seltsamen Märchens: Eine spirituelle und eine realistische. In Asien, so erzählte Ang Lee bei der Europapremiere, bevorzuge man die Realistische. Die Liebhaber der Spirituellen leben im Westen.
    Der kanadische Autor Yann Martel mit "Life of Pi" (Dt. "Schiffbruch mit Tiger"), für das er 2002 den Booker Prize gewann
    Der kanadische Autor Yann Martel mit "Life of Pi" (Dt. "Schiffbruch mit Tiger"), für das er 2002 den Booker Prize gewann (AP Archiv)