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Konzerttheater Bern
"Die Welt ist uns nicht gegeben, sondern aufgegeben"

Mit der Relativitätstheorie stellte Albert Einstein unsere Vorstellungen von Zeit und Raum auf den Kopf. Im Konzerttheater Bern trifft der Physiker im Stück "Die Formel" mit Lenin, Klee und Walser zusammen. Eine fiktive historische Begegnung – betrachtet mit dem Wissen und den Erfahrungen von heute.

Von Cornelie Ueding |
    Szene aus dem Theaterstück "Die Formel" in Bern. Männer stehen und sitzen um eine mit einer Formel beschrifteten Tafel und debattieren.
    Szene aus dem Theaterstück "Die Formel" in Bern (Philipp Zinniker)
    Man stelle sich vor, Lenin, Einstein, Klee und Robert Walser wären sich 1905, als das 20. Jahrhundert noch jung war, zufällig in Bern begegnet. Auf Durchreise nur, aber lange genug, um sich etwas kennen zu lernen - und einander doch nicht eine Spur näher zu kommen. Drei der Figuren waren revolutionäre Vordenker des 20. Jahrhunderts, drei "Weltformel-Erfinder": Einstein als Repräsentant eines naturwissenschaftlich-logischen Denkens, das alles bisher Gültige überwinden sollte; Lenin als "Erfinder" der weltverändernden Formel einer "Diktatur des Proletariats"; schließlich Paul Klee als malender Magier der Subjektivität.
    Für pittoreske Momente kommen weitere Persönlichkeiten aus dem Fundus europäischer Kulturgeschichte mit apodiktischen Aussagen zu Wort: Savonarola, Tizian, St. Just, Ulrike Meinhof, Margaret Thatcher. Aber was sich etwas akademisch, verkopft, ja schematisch anhört - ist nur die eine Seite der Geschichte. Denn da sind noch die eigentlichen Hauptpersonen des Stückes: der Dichter Robert Walser, der wunderliche Ver-Querdenker, Außenseiter und notorische Anti-Formalist, der in dieser artistischen Gedankenrevue singt, statt Floskeln und Formeln aufzusagen. Immer eifrig dabei und stets haarscharf daneben, singend, sprechend, tänzelnd, treibt er, höflich verschraubt und von der "Höhe seiner Bedeutungslosigkeit herab" sein Spiel mit den Bedeutenden und enttarnt sie in ihrem Systemfetischismus, witzig, erhellend, als intellektuelle oder künstlerische Hardliner.
    Gefangene Marionetten
    Und da sind die Frauen an der Seite der "großen Geister". Kluge, wahrnehmungsfähige Frauen, die nicht im Licht der Öffentlichkeit stehen. Aber auch ihre Gespräche untereinander enden ebenso in der Banalität wie die der drei Männer, die sich in wechselseitigem Unverständnis erschöpfen und, permanent aneinander vorbeidriftend, es bestenfalls im Hinterzimmer zu gemeinsamem dilettantischen Musizieren hinter verschlossenen Türen bringen. Neben ihren quirligen Frauen wirken die "Bedeutenden" wie in ihren eigenen Fäden gefangene Marionetten.
    Freilich dürfen auch die Frauen nicht offen zeigen, was sie denken und fühlen. Doch das Theater kann ihnen eine Stimme geben. Ein zweites Ich, eine Gesangsstimme! Als Ausdrucksmittel ihrer Angstträume.
    Gequälte Abbilde ihrer selbst
    In der Regie von Gerd Heinz verwandelt sich das Libretto in ein doppelbödiges und doppeldeutiges Pandämonium der Wahrnehmungsgeschichte. Mit der Botschaft, dass die Zukunft nicht aus dem Ungeist der abstrakten und herrschsüchtigen Weltformeln kommt, sondern aus dem Lebensgeist der Individuen. Und es sind die stärksten Momente, wenn die Frauen, jede für sich, an die Rampe treten. Sie erstarren zum gequälten Abbild ihrer selbst, ringen um Fassung, während jeweils ein Double, verschattet hinter einem Gazevorhang, von der weltabgewandten, verdrängten, desillusionierten Seite ihres Daseins singt - und unter der Last dieses Lebens zusammenbricht.
    Sei es die Frau Lenins, die den politischen Kampf ihres Mannes passioniert mitträgt - jedoch geradezu körperlich erfährt, was geschehen wird, wenn sich der verordnete Rhythmus konkret in die Nerven und Hirne der Menschen einschreibt.
    Sei es Klee’s Lebensgefährtin, die fassungslos miterlebt, wie das Werk des Künstlers auf dem Kunstmarkt zur Handelsware mutiert. Sei es die Begleiterin des schon früh seiner Genialität bewussten Einstein, der sie wie ein lästiges Handgepäckstück auf dem Weg zum Nobelpreis-gewürdigten Weltruhm buchstäblich auf dem Bahnsteig stehen lässt. Die Geige ja – die Frau: nun ja...
    Mysterienspiel ohne Pathos
    Thorsten Raschs spröder und zugleich affektbetonter Klangteppich, der über dem Ganzen liegt, gibt der Sprache eine fast schmerzhafte klangkörperliche Präsenz und jene emotionale Dimension, die dem bloßen Sprechen dieser Figuren verwehrt bleibt. Und die fantastisch miteinander verwobenen Worte werden von der Musik nicht nur begleitet und untermalt, sondern in einer Klangwolke von Dissonanzen förmlich zerpflückt. Dieses "Mysterienspiel" um Ideen, Erkenntnis, Realität und Verlogenheit des Systemdenkens ist ein Gesamtkunstwerk im besten Sinne, ohne jeglichen Beigeschmack von Pathos und Bedeutsamkeit.