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Kopftuch als Karrierekiller

70 Prozent aller türkischen Frauen tragen ein Kopftuch. Weil das Kopftuch seit dem Militärputsch von 1980 aber an allen öffentlichen Einrichtungen verboten ist, scheiden verbeamtete Berufe und staatliche Anstellungen für sie von vorneherein aus - ein Grund für die niedrige türkische Frauenerwerbsquote.

Von Susanne Güsten | 08.07.2010
    Ein türkisches Teehaus – hier verirrt sich auch hinter dem Tresen keine Frau hinein. Gekellnert wird in der Türkei fast ausschließlich von Männern, und nicht nur das: Sogar der Beruf des Damenfriseurs ist hierzulande fest in männlicher Hand. In der Türkei sind immer weniger Frauen berufstätig. Dabei schwindet nicht einfach die Zahl von Landarbeiterinnen, was durch den strukturellen Wandel der türkischen Wirtschaft erklärbar wäre. Was die Weltbank ebenso wundert wie die OECD, das ist der seit den 80er-Jahren andauernde Rückzug von studierten und hochqualifizierten Frauen aus dem türkischen Arbeitsmarkt. Vom "Rätsel der türkischen Frauenerwerbsquote" spricht die Weltbank in diesem Zusammenhang. Die 27-jährige Soziologin Neslihan Akbulut findet das Phänomen weniger rätselhaft:

    "Ich habe mein Studium in Schweden mit einem Master abgeschlossen und habe dann in der Türkei begonnen, Arbeit zu suchen. Erst habe ich nach einer Stelle gesucht, die meiner Ausbildung entspricht, aber da hat mich natürlich niemand genommen. Dann habe ich mich auf niedriger bewertete Stellen in geringeren Berufen beworben, zuletzt sogar in einer kleinen Werkstatt als Bürokraft, aber da wurde ich auch nicht genommen. Jetzt arbeite ich für einen geringen Lohn als Sekretärin für einen Verein, der sich für die Gleichberechtigung von Frauen mit Kopftuch einsetzt."

    Neslihan Akbulut trägt ein Kopftuch, so wie die meisten Frauen in der Türkei, genauer: 70 Prozent aller türkischen Frauen. Weil das Kopftuch seit dem Militärputsch von 1980 an allen öffentlichen Einrichtungen verboten ist, scheiden verbeamtete Berufe und staatliche Anstellungen für sie von vorneherein aus. Bleibt natürlich der private Sektor – doch auch da erweist sich das Kopftuch als Karrierehindernis, wie die Soziologin Dilek Cindoglu von der Bilkent-Universität in Ankara jetzt nachgewiesen hat:

    "Selbst eine Sekretärin in einem kleinen Betrieb muss mal zur Steuerbehörde gehen, sie muss zu Geschäftstreffen, zu Kundenbesuchen, zu Ämtern und so weiter. Eine Frau mit Kopftuch kann da nicht überall hingehen. Deshalb spreche ich von einer Ausstrahlung des Kopftuchverbots im öffentlichen Sektor auf den privaten Sektor, einem sogenannten Spillover-Effekt."

    Das gilt nicht nur für Sekretärinnen, sondern erst recht für qualifiziertere Berufe. Von der Apothekerin über die Journalistin bis zur Zahnärztin dekliniert Cindoglu die Probleme durch:

    "Nehmen wir eine Rechtsanwältin: In den Gerichtssaal darf sie im Kopftuch nicht, sie kann also keinen Prozess führen. Sie könnte den Papierkram erledigen, Dokumente einreichen, aber die Beamten am Gericht sehen das nicht gerne, wie mir immer wieder berichtet wurde."

    Große Kanzleien stellen deshalb keine Juristinnen mit Kopftuch ein. Die Ergebnisse der Studie decken sich mit den Erfahrungen, die Neslihan Akbulut bei ihren Bewerbungen machte:

    "Die Firmen sorgen sich um ihr Image. Ich habe mich etwa bei einem Demoskopie-Institut beworben als Soziologin; die haben gesagt, eine Kopftuchfrau können wir nicht rausschicken zu Befragungen, denn was denken dann die Interviewpartner."

    Wenn hoch qualifizierte Frauen im Kopftuch überhaupt eingestellt werden, so stellte Cindoglu in ihrer Studie fest, dann meist nur zu Hilfsdiensten in Hinterzimmern, wo sie nicht gesehen werden – und das natürlich zu deutlich niedrigeren Gehältern. Tausende hoch qualifizierte junge Türkinnen wandern deshalb ab aus der Türkei, so wie jetzt auch Neslihan Akbulut:

    "Ich könnte hier höchstens weiter als Sekretärin arbeiten, aber so will ich mein Leben nicht verbringen. Mein Mann und ich haben nun beschlossen, ins Ausland zu gehen."

    Fünf- bis sechstausend junge Türkinnen studieren derzeit an ausländischen Universitäten von Österreich bis Malaysia, weil sie die Hochschulen im eigenen Land mit Kopftuch nicht besuchen können. Viele kehren nach Abschluss der Ausbildung gar nicht erst zurück oder wandern wie Neslihan Akbulut später aus, um ihren Beruf ausüben zu können. Andere ziehen sich gezwungenermaßen zurück an Heim und Herd. Ändern dürfte sich daran so bald nichts, jedenfalls nicht solange die Putschverfassung von 1982 weiter gilt und von der kemalistischen Justiz gegen alle Reformversuche verteidigt wird.

    Als die Regierung vor zwei Jahren versuchte, per Verfassungsänderung das Kopftuchverbot an den Hochschulen aufzuheben, landete die Regierungspartei dafür vor dem Verfassungsgericht - und schrammte mit nur einer Stimme am Parteiverbot vorbei.