Verfassungsgeschichte: Trockener Stoff, und das ausgerechnet für Kinder ab zehn? Die 100 Seiten nordrhein-westfälischer Historie, die der Tübinger Historiker Frie vorgelegt hat, werden nie langweilig. Das liegt daran, dass Frie mit dem Erzählen ernst macht, statt zu dozieren. Er holt die Kinder in ihrer Lebenswirklichkeit ab - und seine wunderbar plastischen Erklärungen abstrakter Zusammenhänge verfangen auch bei Erwachsenen. Warum brauchen wir Verfassungen? Weil es immer, wenn es was zu verteilen gibt, Gebrauchsanweisungen für den Umgang miteinander geben muss - wie bei Fries zuhause, wenn Verwandte Schokolade mitbrachten und der Bruder sich die Tafel unter den Nagel riss.
Unsere Lösung hieß: Du teilst, ich such' aus. Das ist sehr praktisch. Wenn der, der teilt, ungerecht teilt, wird der, der aussucht, das größere Stück der Schokolade nehmen. Der, der teilt, wird also aus Eigeninteresse fair sein.
Eine gute Verfassung funktioniert so ähnlich: Sie stellt Regeln auf und verteilt Macht so, dass keiner übermächtig wird.
Wie nah der Autor am jungen Leser ist, zeigt sich auch bei seiner anschaulich vereinfachten Erklärung historischer Prozesse.
Alles, was sich verändert, hat eine Geschichte. Du kannst ein Spiel daraus machen. Denk dir eine Geschichte für jedes Teil um Dich herum aus. Woher kommt der Schrank, in dem Deine Hosen liegen? Wie sind die Löcher in den Bettbezug gekommen? Wenn wir erst wissen, dass alles eine Geschichte hat, dann wissen wir, dass nichts normal ist. Dass es nicht normal ist, wenn einer sein Frühstücksmesser an der Hose abwischt, das wissen wir. Aber es ist auch nicht normal, wenn man sein Frühstücksmesser nicht an der Hose abwischt. Das haben sich die Menschen nämlich erst vor ein paar hundert Jahren angewöhnt. Vorher machte das jeder, jedenfalls, wenn er ein Messer hatte. Und eine Hose.
Schon diese kurze Passage zeigt: Geschichte wird hier als politische Sozialgeschichte verstanden. Frie ist souveräner Kenner dieser Geschichte. Der gebürtige Münsterländer - ein Westfale also - lehrt seit zwei Jahren in Tübingen, als Nachfolger des wohl bedeutendsten Föderalismus-Historikers Dieter Langewiesche. Und so ist das Buch auch größtenteils keine Verfassungsgeschichte, wie im Titel angedeutet - aber das tut der Qualität keinen Abbruch. Ein beträchtlicher Teil widmet sich der Geschichte des heutigen Bundeslandes - und seiner Vorgeschichte. Frie geht zunächst bis zur Französischen Revolution zurück. Die eigentliche Geschichte Nordrhein-Westfalens ist jedoch erst 60 Jahre alt. Wie lange sind 60 Jahre?
Es ist die Zeit, die man braucht, um als Kindergartenkind Opa zu werden. Oder Oma, je nachdem. Ich werde vor 200 Jahren anfangen. Das sind drei Opas hintereinander und noch ein wenig mehr.
Der Historiker Frie erklärt die komplizierte Entstehung des Kunstgebildes NRW so einfach wie möglich. Auch hier hebt er auf die Mentalitätsgeschichte ab, er erklärt, warum es so schwer war für die neu geschaffenen "Rheinländer" und "Westfalen", sich als gemeinsame Einheit zu verstehen. Frie erzählt, wie die beiden ein jeweils eigenständiges Selbstbewusstsein erarbeitet haben:
In einem Westfalenlied, das so etwas wie eine westfälische Nationalhymne wurde, beschrieben sich die Westfalen als ehrlich, einfach und treu. Bauern seien sie und Norddeutsche. Von den Rheinländern sagten sie genau das Gegenteil: Sie seien unzuverlässig, eingebildet, launisch und eigentlich schon fast Süddeutsche. Händler seien die Rheinländer, die jedem das sagten, was er hören wollte. Die Rheinländer fanden auch, dass sie Kaufleute seien. Aber sie fanden das gut: Sie redeten gerne mit anderen Menschen, seien offen, freundlich, lustig. Die Westfalen seien nicht ehrlich, sondern einfallslos, nicht einfach, sondern blöde, nicht treu, sondern langweilig.
Gelegentlich unterlegt Frie den plaudernden Erzählton mit zarter Ironie. Eine seiner Stärken ist auch, dass er mit dem jungen Leser in einen echten Dialog eintritt, indem er Fragen stellt, die er anschließend beantwortet. Ein rundherum empfehlenswertes politisches Kinderbuch, bei dem eines noch erwähnt werden sollte: Die kongenialen Illustrationen des mehrfach ausgezeichneten politischen Karikaturisten der Frankfurter Rundschau.
Ewald Frie: Das Schokoladenproblem. Die Verfassung von Nordrhein-Westfalen jungen Menschen erzählt.
Greven Verlag, 102 S., 14,90 Euro
ISBN: 978-3-774-30433-8
Unsere Lösung hieß: Du teilst, ich such' aus. Das ist sehr praktisch. Wenn der, der teilt, ungerecht teilt, wird der, der aussucht, das größere Stück der Schokolade nehmen. Der, der teilt, wird also aus Eigeninteresse fair sein.
Eine gute Verfassung funktioniert so ähnlich: Sie stellt Regeln auf und verteilt Macht so, dass keiner übermächtig wird.
Wie nah der Autor am jungen Leser ist, zeigt sich auch bei seiner anschaulich vereinfachten Erklärung historischer Prozesse.
Alles, was sich verändert, hat eine Geschichte. Du kannst ein Spiel daraus machen. Denk dir eine Geschichte für jedes Teil um Dich herum aus. Woher kommt der Schrank, in dem Deine Hosen liegen? Wie sind die Löcher in den Bettbezug gekommen? Wenn wir erst wissen, dass alles eine Geschichte hat, dann wissen wir, dass nichts normal ist. Dass es nicht normal ist, wenn einer sein Frühstücksmesser an der Hose abwischt, das wissen wir. Aber es ist auch nicht normal, wenn man sein Frühstücksmesser nicht an der Hose abwischt. Das haben sich die Menschen nämlich erst vor ein paar hundert Jahren angewöhnt. Vorher machte das jeder, jedenfalls, wenn er ein Messer hatte. Und eine Hose.
Schon diese kurze Passage zeigt: Geschichte wird hier als politische Sozialgeschichte verstanden. Frie ist souveräner Kenner dieser Geschichte. Der gebürtige Münsterländer - ein Westfale also - lehrt seit zwei Jahren in Tübingen, als Nachfolger des wohl bedeutendsten Föderalismus-Historikers Dieter Langewiesche. Und so ist das Buch auch größtenteils keine Verfassungsgeschichte, wie im Titel angedeutet - aber das tut der Qualität keinen Abbruch. Ein beträchtlicher Teil widmet sich der Geschichte des heutigen Bundeslandes - und seiner Vorgeschichte. Frie geht zunächst bis zur Französischen Revolution zurück. Die eigentliche Geschichte Nordrhein-Westfalens ist jedoch erst 60 Jahre alt. Wie lange sind 60 Jahre?
Es ist die Zeit, die man braucht, um als Kindergartenkind Opa zu werden. Oder Oma, je nachdem. Ich werde vor 200 Jahren anfangen. Das sind drei Opas hintereinander und noch ein wenig mehr.
Der Historiker Frie erklärt die komplizierte Entstehung des Kunstgebildes NRW so einfach wie möglich. Auch hier hebt er auf die Mentalitätsgeschichte ab, er erklärt, warum es so schwer war für die neu geschaffenen "Rheinländer" und "Westfalen", sich als gemeinsame Einheit zu verstehen. Frie erzählt, wie die beiden ein jeweils eigenständiges Selbstbewusstsein erarbeitet haben:
In einem Westfalenlied, das so etwas wie eine westfälische Nationalhymne wurde, beschrieben sich die Westfalen als ehrlich, einfach und treu. Bauern seien sie und Norddeutsche. Von den Rheinländern sagten sie genau das Gegenteil: Sie seien unzuverlässig, eingebildet, launisch und eigentlich schon fast Süddeutsche. Händler seien die Rheinländer, die jedem das sagten, was er hören wollte. Die Rheinländer fanden auch, dass sie Kaufleute seien. Aber sie fanden das gut: Sie redeten gerne mit anderen Menschen, seien offen, freundlich, lustig. Die Westfalen seien nicht ehrlich, sondern einfallslos, nicht einfach, sondern blöde, nicht treu, sondern langweilig.
Gelegentlich unterlegt Frie den plaudernden Erzählton mit zarter Ironie. Eine seiner Stärken ist auch, dass er mit dem jungen Leser in einen echten Dialog eintritt, indem er Fragen stellt, die er anschließend beantwortet. Ein rundherum empfehlenswertes politisches Kinderbuch, bei dem eines noch erwähnt werden sollte: Die kongenialen Illustrationen des mehrfach ausgezeichneten politischen Karikaturisten der Frankfurter Rundschau.
Ewald Frie: Das Schokoladenproblem. Die Verfassung von Nordrhein-Westfalen jungen Menschen erzählt.
Greven Verlag, 102 S., 14,90 Euro
ISBN: 978-3-774-30433-8