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"Labor der Demokratie"

Jahrhunderte lang war Europa ein Schlachtfeld. Die Kaiser und Könige, Päpste und Fürsten stritten um die Zonen ihrer Verfügungsgewalt auf dem Kontinent. Sie taten es mit Strategien der Heirat und mit Strategien des Krieges. Der entscheidende Machtgewinn geschah im Hochzeitsbett oder mit Waffengewalt. Gibt es eine Ebene zwischen der Algarve und St. Petersburg, auf der nie ein paar tausend Männer einander niedergemetzelt haben?

Von Peter von Matt | 07.05.2010
    Gäbe es sie, man müsste dort ein Denkmal errichten und hinschreiben: "Dies ist die einzige größere Fläche Europas, auf der nie eine Schlacht stattgefunden hat".

    Der Einflussbereich der Großmächte wurde auf dem Kontinent mit nahezu physikalischer Präzision immer neu austariert. "Europäisches Gleichgewicht" lautete das Zauberwort seit der frühen Neuzeit, "Balance of Power". Verschob sich das Gleichgewicht durch eine Heirat zugunsten einer Nation, musste dies sofort durch Schlachten wieder korrigiert werden. Prinzessinnen wurden eingesetzt wie Schachfiguren. Noch der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71, der in direkter Kausalität mit dem Ersten und Zweiten Weltkrieg verknüpft ist, wurde durch eine solche Heiratsaffäre ausgelöst.

    Ich bin 1937 geboren. Als ich ein Kind war, ging es wieder los auf dem gequälten Kontinent. Nur standen jetzt keine Hochzeitsbetten mehr zur Debatte, es zählten allein die Panzer und Bomben - bis Europa weithin in Trümmern lag. Doch am Ende dieses Zweiten Weltkriegs war zum ersten Mal nicht mehr vom europäischen Gleichgewicht die Rede. Die "Balance of Power" hatte sich ins Weltweite verschoben. Man nannte das den Kalten Krieg. Unter seinem prekären Schutz konnte das westliche Europa von einem ewigen Schlachtfeld zu einem Labor der Demokratie werden. Das ist das Faszinierende auch noch am heutigen Europa.

    Was ist ein Labor? Ein Raum, in dem gearbeitet wird. Hart. Ausdauernd. Ein Labor ist nichts Spektakuläres. Da flattern keine Fahnen, blasen keine Trompeten, werden keine schallenden Reden gehalten. Da wird gedacht und erprobt. Die Experimente, welche Fehler ans Licht bringen, sind oft wichtiger als jene, bei denen alles aufzugehen scheint. Pannen gibt es in einem Labor, Sackgassen, Streit der Wissenschaftler. Auf eine kühne Hypothese kommen hundert mühselige Erprobungen. Scheint einmal etwas endgültig zu gelingen, sodass man schon den Wein bereitstellt, um den Tag zu feiern, taucht doch noch ein Störfaktor auf, und alles muss neu angefangen werden. Das braucht Zeit und stiftet Ärger.

    Genau so ist es mit der Demokratie im europäischen Labor, im gemeinsamen Labor der EU und in den vielen Einzellabors der europäischen Staaten. Die Demokratie ist immer mühsam und glanzlos. Sie ist unheroisch. Sie lebt vom Kompromiss. In jeden Wein gießt sie Wasser. Auf das Bedürfnis nach heroischem Aufschwung antwortet sie mit Kommissionen. Das Gold der Throne ersetzt sie durch Aktenmappen. Dem Rausch der Macht, der Europa so oft mit Blut überschwemmt hat, hält sie Sitzungen entgegen, mit Traktandenlisten und Mineralwasser. So sieht das Labor aus, in dem der Friede zwischen den Völkern Europas bewahrt und gesichert wird. Wer darüber spotten mag, soll es tun. Die Demokratie gestattet auch dies.

    Kurzbiografie:
    Peter von Matt, geboren 1937 in Luzern, als Sohn eines Buch- und Schreibwarenhändlers. Er studierte Germanistik, Anglistik und Kunstgeschichte in Zürich, Nottingham und London und promovierte 1964 über Franz Grillparzer. 1970 folgte die Habilitation über E.T.A. Hoffmann. Nach einer Assistenz-Professur war von Matt von 1976-2002 ordentlicher Professor an der Universität Zürich und hatte Gastprofessuren an anderen Universitäten der Schweiz sowie an der Stanford University in den USA. Er veröffentlichte zahlreiche wissenschaftliche Schriften und Essays, insbesondere zur Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts.

    Über die Fachgrenzen hinaus bekannt wurde der Literaturwissenschaftler mit seinen Büchern "… fertig ist das Angesicht. Zur Literaturgeschichte des menschlichen Gesichts" (1983), "Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur" (1989) und "Verkommene Söhne, missratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur" (1995). Mit diesen und späteren Werken wie "Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist" (2006) begeisterte von Matt das Publikum und die Kritiker. Er gilt als ein Autor, der die Literatur zum Sprechen bringt, oft überrascht er mit eigenen Interpretationen und Formulierungen. 1991 erhielt er den Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essays, weitere Preise und Auszeichnungen folgten: u.a. 1997 der Orden Pour le mérite für Wissenschaften und Künste, 2002 der Europäische Essaypreis "Charles Veillon" und 2006 der Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Künste, Berlin. Peter von Matt ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt, und der Akademie der Wissenschaften, Göttingen. Viel gelobt wurde 2001 "Die tintenblauen Eidgenossen". Über die literarische und politische Schweiz". Zuletzt erschien "Wörterleuchten. Kleine Deutungen deutscher Gedichte" (2009).

    Peter von Matt lebt als freier Autor und emeritierter Professor für Neuere Deutsche Literatur in Zürich.