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Laufsport
Der dritte Gang

Mit hohem technischen Aufwand untersuchen Sportartikelhersteller, Sportmediziner und Sportwissenschaftler regelmäßig, welche Kräfte auf den menschlichen Körper wirken, um die Leistungsfähigkeit zu verbessern. Manchmal kann zu viel Technik aber dazu führen, Wesentliches zu übersehen.

Von Magdalena Schmude | 19.06.2017
    Eine junge Frau beim Joggen.
    Forscher haben herausgefunden: Neben Laufen und Gehen gibt es noch eine dritte Gangart. (imago / Westend61)
    Seinen persönlichen Aha-Moment erlebte Martyn Shorten, als der Biomechaniker beim Boston Marathon an der Strecke stand und den Läufern im hinteren Teil des Feldes zusah. Ihm fiel auf, dass die meisten der Teilnehmer nicht viel mit den Testpersonen gemeinsam hatten, die er und seine Kollegen in Sport-Labors mit viel technischem Aufwand vermessen, um die Biomechanik des Laufens zu untersuchen.
    "Solche Studien werden an Universitäten durchgeführt, und da sind viele der Probanden, jung, männlich und entweder Studenten oder Elitesportler. Aber als wir eine Umfrage auf einer Laufwebseite mit Millionen Teilnehmern durchgeführt haben, waren die Läufer im Schnitt öfter weiblich, schwerer oder hatten einen höheren Body Mass Index. Und sie laufen langsamer und weniger Kilometer als die Probanden, mit denen wir im Labor arbeiten."
    Zurück auf die Straße
    Deshalb ging Martyn Shorten, der mit seiner Firma BioMechanica Sportartikelhersteller berät, zurück auf die Straße, um nach durchschnittlichen Testpersonen zu suchen und deren Daten zu sammeln. Bei Volksläufen wie dem Boston Marathon stellten er und sein Team eine Kamera an den Rand der Strecke und filmten die Läufer.
    "Wir wollten wissen, welche Strategien die Leute am Schluss des Feldes haben. Ob sie laufen oder eher gehen. Denn es gibt dieses etwas seltsame Tempo, das irgendwie dazwischen liegt. Man kann so schnell nicht gehen, aber auch nicht so langsam laufen."
    Eine unerwartete Entdeckung
    Gehen und Laufen lassen sich biomechanisch als verschiedene Gangarten unterscheiden. Gehen ist eine pendelnde Bewegung, bei der das Bein durchgedrückt und wie ein Hochsprungstab benutzt wird, über den der Körperschwerpunkt nach vorne schwingt. Bei jedem Schritt sind kurz beide Füße gleichzeitig am Boden.
    Laufen ist dagegen eine hüpfende Bewegung. Bei jedem Schritt landet die gesamte Körpermasse auf einem Bein, das dann gestaucht wird und sich anschließend, ähnlich wie eine Sprungfeder, wieder durchdrückt. Dazwischen gibt es eine kurze Flugphase, bei der keiner der Füße den Boden berührt.
    Doch als Martyn Shorten und sein Team ihre Aufnahmen von den Marathonläufern auswerteten, fanden sie etwas Unerwartetes.
    "Die Leute machen etwas ganz anderes. Etwas, das wir 'geerdetes Laufen' nennen. Es sieht aus wie Laufen oder Joggen, aber es gibt dabei keine Flugphase. Die Leute heben nie vollständig ab und es gibt stattdessen einen kurzen Moment, wenn beide Füße Kontakt mit dem Boden haben. Also etwas, das wir eigentlich dem Gehen zuordnen. Aber wenn man die Videos sieht, ist es ganz klar eine laufende Gangart, nur ohne Flugphase."
    Anders laufen zum eigenen Schutz
    Etwa 50 Prozent aller Läufer im hinteren Teil eines Marathons-Feldes waren in dieser Gangart unterwegs. Sie liefen, ohne jemals mit beiden Füßen gleichzeitig den Boden zu verlassen.
    "Das ist wahrscheinlich eine Anpassung, damit sie entweder ökonomischer laufen oder um die Belastung auf den Körper zu reduzieren, wie unsere Messungen zeigen. Der menschliche Körper ist ziemlich gut darin, Lösungen zu finden. Also gibt es das geerdete Laufen nicht ohne Grund. Entweder weil die Leute älter sind, oder schwerer oder nicht ganz so stark. Es ist einfach ein Weg, um ihren Körper vor den wirkenden Kräften zu schützen."
    Von der Wissenschaft bisher total vernachlässigt
    Dass das geerdete Laufen beim Menschen so lange unentdeckt geblieben ist, ist überraschend. Denn im Tierreich ist es unter Zweibeinern weit verbreitet. Wachteln, Rebhühner und Fasane nutzen diese Gangart, genauso große Laufvögel wie der Strauß.
    "Es hat sich einfach niemand darum geschert, mal nachzusehen, ob Menschen diese Gangart nutzen. Weil Wissenschaftler wie ich lieber im Labor auf die Zahlen starren, die ihre schicke technische Ausrüstung ausspuckt, statt draußen zu sein und mit den Sportlern zu arbeiten, haben wir einige wichtige Dinge übersehen."