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Leben in der Enklave

Vor rund zwei Wochen haben sich Israel und die radikalislamische Hamas auf eine Waffenruhe geeinigt. In Israel tobt nun der Wahlkampf. Ein Thema dabei ist die Siedlungspolitik im Westjordanland. Dort leben viele Palästinenser in kleinen Enklaven, umgeben von Zäunen, Checkpoints und gesperrten Straßen.

Von Anne Françoise Weber | 31.01.2009
    Walid, Ahmad und Aiman kommen aus der Schule. Die 14-jährigen Jungs gehen eine halbe Stunde auf kleinen Feldwegen, um ihr Dorf Al-Tirah zu erreichen. Dass sie zusammen unterwegs sind, liegt nicht nur an ihrer Freundschaft: Die Kinder der Schule von Al-Tirah haben die Anweisung, nie allein zu gehen. Denn ihre Schule, ein kleines Naturstein-Gebäude aus den vierziger Jahren, liegt ein wenig außerhalb, zwischen zwei Dörfern - und mitten in der jüdischen Siedlung Beit Horon.

    Die drei erzählen, dass es fast jeden Tag Ärger mit Siedlern und Wachleuten gibt. Einmal seien Schüler mitgenommen und ins Gefängnis gesteckt worden - zum Glück nur für einen Tag.

    Von drei Seiten umschließt eine Betonmauer die Schule, auf der vierten Seite verläuft, hinter einem Zaun, die Schnellstraße 443. Diese Straße, die Jerusalem mit Tel Aviv und einigen wichtigen Siedlungen verbindet, ist für die Bewohner von Al-Tirah, Beit Ur al-Fawqa und vielen anderen Dörfern in der Umgebung nur ein Hindernis. Denn seit der zweiten Intifada dürfen die Schnellstraße nur Israelis und Bewohner von Ostjerusalem nutzen; die palästinensischen Anwohner müssen sie an bestimmten Stellen über- oder mit Tunneln unterqueren. Auch die Kinder müssen durch einen dunklen Tunnel, durch den manchmal Abwässer fließen, um die Schule von Al-Tirah zu erreichen:

    Der weite Schulweg - drei Kilometer morgens, drei Kilometer nach Schulschluss - beeinträchtigt die Schüler, erklärt der Schulrektor Ahmad Abu Bakr. Sie kommen müde nach Hause, machen keine Hausaufgaben und keine Hausarbeit und sind psychisch angegriffen.

    Der Schule ist es zudem verboten, irgendwelche Baumaßnahmen durchzuführen. Der Platz ist eng für die 245 Schülerinnen und Schüler, oft müssen sich drei ein Pult teilen. Wenn Eltern aber entscheiden, dass sie das ihren Kindern nicht zumuten wollen, wird es schwierig.

    Wenn jemand um die nötigen Papiere für den Schulwechsel bittet, bekommt er sie nicht, sagt Mathematik-Lehrer Khaled Haddar.

    "Wir erlauben keine Wechsel, sonst hätten wir keine Schüler mehr. Wer hat diese Schule gebaut? Mein Großvater, und mein Vater war hier Lehrer. Ich werde sie nicht aufgeben, auch wenn jedes Jahr Offiziere von der israelischen Armee kommen und uns allen sagen, dass wir die Schule verlassen sollen. Sie bieten an, in Al-Tirah und Beit Our die besten Schulen zu bauen."

    Aber für die Lehrer von Al-Tira ist das Festhalten an der kleinen Schule, die älter ist als der Staat Israel, eine Frage des Prinzips. Keinen Zentimeter Land mehr wollen sie abtreten - zuviel ist ihnen durch Siedlungen, Straßen, Sicherheitszonen und Sperranlagen schon genommen worden. So harren sie aus und geben den Traum von einem vereinten Palästina an ihre Schüler weiter: "Jerusalem ist in unseren Herzen", steht auf einem kleinen Schild an der Schulwand. In die Schule zu gehen, ist in Al-Tirah auch ein Politikum.

    Mittagsidylle im wenige Kilometer entfernten Dorf Beit Our al-Fawqa. In dem kleinen Gebäude, das als Krankenstation dient, ist heute Doktor Mohammad Iskafi anzutreffen, Leiter des Notfallprogramms bei der palästinensischen Gesellschaft für Medizinische Hilfe. Stolz zeigt er die Räume und öffnet den Medizinschrank.

    "Das sind die wichtigsten Medikamente", sagt er. "Etwa 94, alle nötig für den Allgemeinarzt und die Frauenheilkunde. Die Leute zahlen nur drei Schekel dafür, wenn sie nicht ganz von der Zahlung befreit sind. Am häufigsten werden hier akute Erkrankungen der Atem- oder Harnwege bei Kindern behandelt, bei Erwachsenen chronische Krankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck und Herzerkrankungen", so der Notarzt.

    Die Bewohner von Beit Our al-Fawqa haben Glück, dass es diese Klinik gibt und sie wenigstens für die medizinische Grundversorgung nicht mehr den Weg voller Umwege nach Ramallah antreten müssen. Unterstützt werden solche Kliniken auch mit EU-Geldern, zum Beispiel in Zusammenarbeit mit der Frankfurter Hilfsorganisation medico international. Der medico-Vertreter in Israel, Tsafrir Cohen, sieht das Projekt selbst durchaus kritisch:

    "Es gibt hier eigentlich zu viele Kliniken tatsächlich, weil die Bewegungsfreiheit so eingeschränkt ist, dass überall eine Klinik gebaut wird. Die Menschen können nicht zu Gesundheit gehen, also kommt die Gesundheit zu ihnen. Wir bauen eine Klinik, damit die Leute das Dorf nicht verlassen müssen und im Dorf den Arzt aufsuchen können. Wir haben die Besatzung eigentlich jetzt mit etabliert, indem wir den Menschen ermöglichen, einfach zuhause zu bleiben. Es gibt keinen Streit mehr mit den Israelis, die Menschen haben sich arrangiert mit einem Enklavensystem, in dem sie ihr Dorf nie verlassen."

    Nur gibt es viel zu oft Notfälle, in denen ein schneller Transport in ein größeres Krankenhaus dringend nötig wäre. In Beit Sira, einem Dorf westlich von Beit Ur al-Fawqa und damit noch näher an den Sperranlagen zum israelischen Kernland gelegen, gibt es zwar auch eine kleine Klinik. Doch das Team klagt über mangelnde Ausstattung und zu großen Andrang. Nur dreimal die Woche kommt ein Arzt hierher, nachmittags bleibt die Klinik ganz geschlossen.

    "In den letzten zwei Jahren hatten wir hier sechs Todesfälle", sagt Gemeinderat Hamid Hamdan. "Grund war die Entfernung nach Ramallah, die Leute sind auf dem Weg gestorben. Vergangenes Jahr kamen zwei Kinder bei einem Verkehrsunfall ums Leben, weil keine offene Klinik in der Nähe war, um erste Rettungsmaßnahmen durchzuführen."

    Unterhalb des Dorfes, mit Sicht auf hohe Zäune und schmucke israelische Häuser dahinter, erzählt Hamdan, umringt von neugierigen Kindern, was die Abriegelung des Westjordanlands hier bedeutet:

    "Vor der Intifada im Jahr 2000 und vor dem Bau der Mauer haben ungefähr 95 Prozent der Arbeitskräfte aus Beit Sira in Israel gearbeitet. Seit dem Bau der Mauer liegt die Arbeitslosigkeit ungefähr bei 80 Prozent. Der Bildungsgrad ist hier nicht sehr hoch, daher gibt es keine Arbeit für die Leute, außer in Israel. Manche versuchen, illegal nach Israel zu kommen. Manche werden verletzt, manche werden festgenommen, manche versuchen es immer wieder. Ihnen ist nur wichtig: Sie wollen leben, sie wollen nach Israel."

    Vor einigen Jahren wurde die Mädchengrundschule zur Oberschule aufgestockt, weil für viele Schülerinnen der Weg in die Nachbarorte zu beschwerlich war und sie deswegen die Schule abbrachen. Jungen können nur bis zur achten Klasse in Beit Sira lernen. Für eine neue Schule erhält der Gemeinderat keine Baugenehmigung von den israelischen Behörden. Wer noch länger die Schule besuchen will, geht in die eingemauerte Schule von At Tira - drei Kilometer Fußweg und am Ende durch den Tunnel.