Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Leistungsdruck bei Schülern
"Schulpsychologen werden immer wichtiger"

Das Schulsystem lasse Kinder "sich selber als Notenbündel wahrnehmen". Um "regelrechte Ängste" bei Schülern abzubauen, brauche es mehr Schulpsychologen, sagte der Präsident des Bayrischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands BLLV, Klaus Wenzel im DLF und fordert eine Schulpolitik, "die junge Menschen ernst nimmt".

Klaus Wenzel im Gespräch mit Jörg Biesler | 15.12.2014
    Klaus Wenzel, Präsident des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV), spricht am 11.11.2014 in der Clermont-Ferrand-Schule in Regensburg (Bayern) während einer Pressekonferenz zu den Journalisten.
    Klaus Wenzel, Präsident des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV):" Oorientieren uns einmal an den Bedürfnissen der Kinder im 21. Jahrhundert." (picture alliance / dpa / Armin Weigel)
    Jörg Biesler: Gerade haben wir von Leistungsdruck und der großen Arbeitslast von Schülerinnen und Schülern gehört. Das merken auch die Schulpsychologen, deren ebenfalls hohe Arbeitsbelastung der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband beklagt. Klaus Wenzel ist dessen Präsident. Guten Tag, Herr Wenzel!
    Klaus Wenzel: Guten Tag, Herr Biesler!
    Biesler: Die Arbeitssituation der Beratungslehrer und Schulpsychologen muss dringend verbessert werden, fordern Sie auf Grundlage einer Studie. Wie sieht sie denn aus, die Arbeitssituation?
    Wenzel: Also völlig unbefriedigend, vor allem läuft das schon seit vielen Jahren so. Wir haben vor fast zehn Jahren schon mal als BLV, als Bayerischer Lehrer- und Lehrerinnenverband, eine Umfrage gemacht, um die Situation der Beratungslehrkräfte und Schulpsychologen etwas genauer kennenzulernen. Wir haben sie jetzt wiederholt vor wenigen Monaten, und es hat sich nichts verbessert. Leider hat sich einiges verschlechtert. Und wir erwarten dringend von der Politik, dass jetzt was getan wird, dass dieser Personenkreis, der ja immer wichtiger wird in unseren Schulen, auch ganz konkret unterstützt wird.
    Biesler: Ja, was sich wohl verändert hat, entnehme ich Ihrer Studie, ist die Tatsache, dass Eltern häufiger zur Beratung kommen, wenn wir vielleicht zuerst mal darüber sprechen: Müssen die sich heute mehr kümmern oder wollen die sich mehr kümmern? Warum kommen die häufiger in die Beratung?
    Wenzel: Also es gibt mindestens zwei Gründe, das Erste: Viele Eltern haben heute ein Kind und in dieses Kind wird alles Mögliche reinprojiziert an Wunschvorstellungen, an Erwartungen, und wenn es nicht gleich funktioniert, dann kommen die Eltern in die Sprechstunde. Das Zweite: Die Eltern schauen sich die Arbeitslosenstatistik an und merken, dass es eine ganz stabile Tendenz gibt – je höher der Schulabschluss der jungen Menschen, umso geringer die Wahrscheinlichkeit, dass sie dauerarbeitslos werden. Also besteht natürlich Interesse seitens der Eltern, dass ihre Kinder möglichst hohe Abschlüsse haben. Und der dritte Punkt: Wir wissen heute, dass im Beschäftigungs- und im Ausbildungssystem die Ansprüche immer höher geworden sind. Das heißt, junge Menschen müssen ziemlich viel mitbringen, dass sie erfolgreich im Ausbildungssystem bestehen können. Und deswegen macht sich auch eine gewisse Nervosität unter den Eltern breit und sie kommen, sobald eine drei oder vier auf dem Zeugnis steht. Früher sind sie gekommen, wenn eine fünf oder sechs auf dem Zeugnis stand.
    Biesler: Das heißt, der Druck steigt von allen Seiten auf die Schülerinnen und Schüler, aus dem Elternhaus, aber möglicherweise auch aus der Schule, und ich lese bei Ihnen, die Erwartungen der Schüler, die seien häufig unerfüllbar, das heißt: Die Kinder projizieren auch schon irgendwas, wie sie sein möchten, und wenn sie das nicht erreichen können, sind sie verzweifelt?
    Verzweifelt, aber auch depressiv und agressiv
    Wenzel: Ja, sie sind verzweifelt, sie sind oft aber auch depressiv, sie können auch aggressiv werden. Wir erleben viel zu häufig, dass Kinder nicht nur Unlust haben, in die Schule zu gehen, sondern regelrechte Ängste. Und um so was abzubauen, bräuchten wir eben dringend Schulpsychologen, Beratungslehrkräfte, die uns nicht in dem Maße zur Verfügung stehen, wie wir das gern hätten.
    Biesler: Wie stark ist denn der Einfluss der Einführung des sogenannten Turboabiturs, also des verkürzten Abiturs und des damit auch einhergehenden Ganztagsunterricht auf die Problematik?
    Wenzel: Ein guter Ganztagsunterricht kann sehr hilfreich sein, der kann nämlich entlasten, er kann entspannen, vor allem, wenn es eben ein gebundener, rhythmisierter Ganztag ist. Rhythmisiert bedeutet, dass tagsüber ein Wechsel stattfindet zwischen Anspannung und Entspannung. Insofern ist der Ganztag sicherlich kein Grund dafür, dass die Stresssymptome zunehmen bei Schülern. Aber die Einführung des G8, nicht nur wegen der schlampigen Art und Weise der Einführung, sondern vor allem wegen der strukturellen Veränderungen, das ist ein echter Stressfaktor für viele Schülerinnen und Schüler. Vorhin in dem Beitrag hieß es so schön, wir bräuchten eine Didaktik des sozialen Lernens, wir bräuchten insgesamt eine Kultur eines neuen Lernens, wir müssten uns verabschieden von der Vorstellung, dass Deutsch und Mathematik und die Fremdsprachen, dass das die Hauptfächer sind. Ich glaube, dass inzwischen Kunst, Sport und Musik die wirklichen Hauptfächer geworden sind, damit sich selbstbewusste Persönlichkeiten entwickeln können. Davon sind wir sehr, sehr weit entfernt. Wir sorgen dafür, dass unsere Kinder sich selber als Notenbündel wahrnehmen, also nicht mehr die Persönlichkeit steht im Vordergrund, sondern die Art der Noten, und das wird bis zur zweiten Stelle nach dem Komma gezählt, und danach bemisst sich der Wert von jungen Menschen. Das ist katastrophal, so kann es nicht weitergehen.
    Biesler: Das klingt, als würden Sie sich eine ganz andere Art von Schule vorstellen, die mehr so in Richtung Waldorfschule, vielleicht ohne das Brimborium der Waldorfschule drum herum, wäre?
    "Aufhören mit der ständigen Bepunktung und Benotung"
    Wenzel: Also, da sprechen Sie was ganz Entscheidendes an. Ich schätze sehr die Pädagogik an den Waldorfschulen, aber was Sie so Brimborium nennen, die Anthroposophie, da hätte ich meine Schwierigkeiten. Vielleicht nehmen wir eine gute Mischung aus dem, was in Montessorischulen angeboten wird, auch, was an vielen staatlichen Grundschulen an sehr Positivem angeboten wird, und orientieren uns einmal an den Bedürfnissen der Kinder im 21. Jahrhundert, dann wäre schon viel getan, dann würden wir aufhören mit der ständigen Bepunktung und Benotung, alles muss getestet werden, alles muss gerankt werden. Also ich wünsche mir tatsächlich eine neue Schulkultur, eine andere Lernkultur und eine Schulpolitik, die den jungen Menschen ernst nimmt.
    Biesler: Sagt Klaus Wenzel, der Präsident des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes. Danke schön!
    Wenzel: Ich danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.