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Erfolgsdruck Schule
Ausgebrannt mit 15 Jahren

Zu 36 Schulstunden pro Woche kommen noch Hausaufgaben, Referate und Prüfungsvorbereitung. Viele Schüler kommen auf 50 bis 60 Lern-Wochenstunden. Wird der Druck aber zu groß und die Freizeit immer knapper, dann können Kinder innerlich ausbrennen. Was läuft falsch, wenn zehn Prozent der Schüler eine psychiatrische Behandlung benötigen?

Von Susanne Arlt | 15.12.2014
    Bei Geraldine Przybilla fing es an, als sie in die siebte Klasse kam. Nach dem Wechsel aufs Gymnasium fühlte sie zum ersten Mal diesen Druck. Vorher war ihr das Lernen immer leicht gefallen. Doch jetzt ging plötzlich nichts mehr. Sie schrieb zwar mit, was die Lehrer an die Tafel notierten. Doch die Zwölfjährige hatte nicht das
    Gefühl, dass sie den Lernstoff auch verstand. An einen Vertrauenslehrer oder Schulpsychologen konnte sie sich nicht wenden, die gab es an ihrer Schule nicht.
    Und ihre Klassenlehrerin war mit den 25 anderen Schülern beschäftigt.
    "Dann saß ich zuhause und dachte mir, lern was, lern was und habe mir angeschaut, was ich aufgeschrieben habe und wusste aber nicht wirklich, was ich zu tun hatte. Und dann kam ich in die Schule, hab einfach nur noch versucht, dem Lehrer zuzuhören, das aufzuschreiben und hatte gar keine Planung, wie ich was zu lernen hatte. Und dann schreibe ich Tests und habe sie alle verhauen."
    Zum Leistungsstress kam sozialer Druck
    Der Teufelskreis begann. Geraldines Noten wurden immer schlechter, von ihren Mitschülern fühlte sie sich zunehmend ausgegrenzt. Zum Leistungsstress kam also
    auch noch der soziale Druck hinzu. Schließlich wurde Geraldine Przybilla krank, bekam immer wieder eine Bronchitis. Das waren damals sicherlich auch psychosomatische Gründe, sagt die heute 15-jährige.
    "Ich konnte einfach überhaupt nicht mehr. Ich wusste, wenn ich wieder gesund werde, dann muss ich wieder in die Schule, aber mir war klar, ich kann nicht mehr."
    Alexander Goldin erging es ähnlich. Bei ihm war es vor allem die Erwartungshaltung der Eltern, die den begabten Jungen so sehr stressten. Zuerst schickten sie ihn auf ein sogenanntes Schnellläufer-Gymnasium. Schüler können dort in nur elf Jahren ihr Abitur machen. Dem schulischen Druck war der damals Zehnjährige nicht
    gewachsen.
    "Na, der Leistungsdruck war, dass ich bis abends zehn, elf Uhr immer hab lernen müssen, und dass mich meine Eltern sehr autoritär erzogen haben und darunter habe ich dann irgendwann gelitten. Also ich musste erfüllen, man hat mich dazu gezwungen, alles erfüllen zu müssen."
    Weil seine Noten immer schlechter wurden, wechselte Alexander Goldin nach der sechsten Klasse auf ein normales Gymnasium. Dort wurde es aber auch nicht
    besser. Seine neuen Mitschüler mobbten ihn, weil er jetzt die besten Noten bekam. Er wurde ausgegrenzt, beleidigt. Seine Leistungen wurden wieder schlechter, eines Tages verlor Alexander ganz den Anschluss und ging gar nicht mehr Schule. Er fühlte sich damals so verloren, sagt der heute 18-jährige.
    20 Prozent der Kinder in Deutschland sind psychisch auffällig
    Studien des Berliner Robert Koch-Instituts zur Kinder- und Jugendgesundheit belegen, etwa 20 Prozent der Kinder in Deutschland sind psychisch auffällig. Michael von Aster, Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Berliner DRK Klinikum Westend, hat die Erfahrung gemacht, dass mehr als die Hälfte dieser Kinder Probleme in der Schule haben und im Unterricht oft scheitern.
    "Kinder fühlen sich in bestimmten Bereichen überfordert, sie können den Erwartungen nicht genügen. Sie können aber auch nicht ausweichen. Es besteht allgemeine Schulpflicht. Es entsteht Schulunlust, Schulunmotiviertheit, das Vermeiden von Misserfolg ist der hauptsächliche Antrieb, der in der Schule dann gegeben ist und das ist eine Situation, wenn man die sich als Erwachsener vorstellt eigentlich nur damit zu vergleichen, dass wenn jemand seinem täglichen Beruf nachgeht und er kriegt jeden Tag nur Kritik zu hören, dann würde er das auch nicht lange gesund aushalten. "
    Dass die Zahl psychisch erkrankter Schüler wachse, liege am Regelsystem, glaubt von Aster. Das sei einfach nicht flexibel genug für die inzwischen sehr heterogene
    Schülerschaft, meint von Aster. Schon bei der Einschulung seien die Fähigkeiten und das vorhandene Wissen der einzelnen Kinder auf einem sehr unterschiedlichen
    Stand.
    "Das heißt, jeder Schüler braucht möglicherweise unterschiedliche Hilfestellungen, unterschiedliche didaktische Orientierungen, unterschiedliche Intensität von Lehrerintervention. Und da denke ich oft, dass Lehrer strukturell überfordert sind, nicht individuell, wenn sie dieser Vielfalt im Gegenübersein von 25, 30 Schülern gerecht werden sollen."
    In den Regelschulen, moniert der Kinderpsychiater, fehle die Didaktik des sozialen Lernens. Er wünscht sich, dass neben Mathe und Rechtschreibung auch das soziale Verhalten der Kinder bewertet wird. An Privatschulen wie der Freien Schule Anne-Sophie in Berlin-Zehlendorf wird auf diese Dinge mehr Wert gelegt. Jeder der 170 Schüler hat einen Vertrauenslehrer, mit dem er alle zwei bis drei Wochen ein Coaching-Gespräch führt. Dort geht es um die schulischen Leistungen, aber auch um persönliche Probleme, sofern das gewünscht ist. Auch der Unterricht ist weniger streng strukturiert. Nach einer halben Stunde Frontalunterricht können sich die Schüler aussuchen, in welchen individuellen Lerngruppen sie weiterlernen möchten. Geraldine Przybilla und Alexander Goldin haben an dieser Schule wieder ihren Weg zurück in den Schullalltag gefunden.
    "Weil ich auf einmal diese Freiheit, diese Ruhe hatte, mich hier hinzusetzen und mich mit den Sachen auseinanderzusetzen, die ich zu tun hatte. War sehr
    ungewohnt zuerst, Freie Schule Anne Sophie, ich habe so ein Vorurteil gehabt, ja freie Schulen, ist ja toll. Aber im Endeffekt war es super gut, dass ich hier
    meine Ruhe habe."