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Linguistisches Großprojekt
Spracherwerb bei Kleinkindern

Sprechen lernen kann doch jedes Kind. Aber: Wie machen sie das? Wie lernen sie intuitiv grammatische Regeln, Aussprachemerkmale und vieles andere mehr? Diesen und anderen Fragen geht ein linguistisches Forschungsprojekt an der Universität Zürich nach.

Von Thomas Wagner | 11.12.2014
    Kinder lernen Sprechen – im südasiatischen Nepal:
    "Das erste Beispiel kommt aus dem Chintang: Die Mutter spricht zu dem Kind: Sag' doch mal, ‚was hast Du mir gebracht?' Diese Form ist nicht so einfach: Da muss man das ‚Du' und das ‚Mir', also alles in eine Verbform packen."
    Kinder lernen Sprechen – in Japan:
    "Das Beispiel kommt aus dem Japanischen: eine Interaktion zwischen der Mutter und dem Kind. Und hier sehen wir ein häufiges Muster, weil die Mutter mit dem Kind verschiedene Verbformen durchprobiert. Es geht um das Wort Drücken: Die Mutter sagt: Hast Du schon gedrückt? Ja. Ich will auch drücken und so weiter."
    Robert Schikowski kann auf seinem Notebook Tausende solcher Beispiele aufrufen, bei denen Kleinkinder erste Gehversuche im Sprechen unternehmen – in den unterschiedlichsten Sprachen. Robert Schikowski arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter in einem Forschungsprojekt der Uni Zürich mit, dessen Fragestellung spannender nicht sein könnte:
    "Worum es uns geht, ist, herauszufinden: Wie schaffen es Kinder, eine beliebige Sprache zu lernen? Weil Sie können ja ein Kind haben, das in Deutschland geboren wurde. Und Sie versetzen es zwei Monate nach Kanada. Und dann wird es die athapaskische Sprache lernen in der Umgebung, in der es aufwächst. Und diese Sprachen unterscheiden sich extrem. Also was sind die zugrunde liegenden Mechanismen?"
    Gibt es universal gültige Gesetzmäßigkeiten des Spracherwerbs?
    Beschreibt Sabine Stoll, Professorin für Allgemeine Sprachwissenschaft am Institut für vergleichende Sprachwissenschaft an der Uni Zürich, die Stoßrichtung ihrer Arbeit: Sie will gemeinsam mit ihrem Team herausfinden, ob es universale, das heißt für alle Sprachen gültige Gesetzmäßigkeiten des Spracherwerbs gibt. Dabei unterscheiden die Linguisten in mehrere Phasen:
    "Von einem Monat bis acht Monate sind die Babys in der Lage, beliebige Phoneme, das sind die kleinsten Lauteinheiten, die in einer Sprache eine Relevanz haben, zu unterscheiden. Und es fängt langsam an, bestimmte Wörter zu segmentieren. Es hat aber noch nicht festgestellt, was es für eine Bedeutung hat."
    "Das kommt dann so ungefähr nach neun Monaten, dass Kinder merken, dass einzelne Wörter auch Bedeutung haben. Ab dem neunten Monat kommt dann der Symbolerwerb hinein. Und dann geht auch wirklich der Spracherwerb los, wo sie ab 12 Monaten dann ihre ersten Wörter äußern. Und dann fängt die aktive Phase an."
    Da ist auch genau jene Phase, bei der die Zürcher Wissenschaftler genauer hinsehen - und hinhören:
    "Wenn wir wirklich von den ersten paar Wörtern ausgehen, die Kinder lernen – nun, das ist wirklich ähnlich in allen Sprachen. Die fangen mit irgendwelchen Verwandtschaftsbezeichnungen an. Sprich, so Mama, Papa und so weiter. Das, denke ich, ist relativ universal. Aber danach findet dann diese Teilung statt, je nachdem, welche Grammatik es gibt."
    Will heißen: Je nachdem, wie eine Sprache grammatikalisch strukturiert ist, entwickeln Kinder dafür passgenaue – und je nach Sprachfamilie unterschiedliche – Lernstrategien. Und wie unterschiedlich Sprachen strukturiert sein können, wird erst so richtig klar beim Studieren der Fallbeispiele in dem Züricher Forschungsprojekt. Robert Schikowski:
    "Nahkutticaihattibiri - Also das ist ein Wort aus dem Chintang. Das ist eine sehr kleine Sprache, die in einem Dorf im Osten von Nepal gesprochen wird. Und dieses Wort bedeutet: 'Sie-könnten-es-Euch-wegnehmen-und-alles-aufessen', ja."
    Für einen Satz im Deutschen benötigen Menschen aus Chintang ein einziges Verb
    Wofür die Deutschen einen ganzen Satz benötigen, reicht den Bewohner des Dörfchens Chintang ein einziges Verb:
    "Diese eine Verbform ist extrem komplex. Und es stellt sich die Frage: Wie lernen Kinder das?"
    So Sabine Stoll. Um zu verstehen, wie Kinder die hochkomplexen Verbformen im Chintang lernen, hören sich die Wissenschaftler die Klangbeispiele immer wieder aufmerksam an: Man könnte vermuten, dass Kinder in Chintang zuerst die komplexen Verben lernen, vor den weitaus weniger wichtigen Nomen. Schließlich kommen Verben auch sehr viel häufiger vor. Aber:
    "Wenn die so komplex sind, fokussieren sie sich auf die eher einheitlichen und einfacheren Elemente, nämlich Nomen. Also Chintang fokussieren sie sich erst einmal auf Nomen."
    Das heißt: Im Chintang lernen Kinder zuerst die einfacheren und später erst die komplexeren, aber wesentlich wichtigeren Sprachelemente. Daraus leitet Sabine Stoll die spannende Frage ab:
    "Gibt es eine allgemeine Tendenz, ob Nomen oder Verben zuerst erworben werden?"
    Hierzu schauen sich die Züricher Wissenschaftler viele andere Beispiele in völlig anders strukturierten Sprachen an – auf der Suche nach universalen, einheitlichen Strategien. Eine Tendenz lässt sich daher jetzt schon erkennen:
    "Was wir bis jetzt gefunden haben, ist, dass es wahrscheinlich eine grammatische Beeinflussung gibt der Elemente, die als erstes erworben werden, nämlich indem die komplexeren Elemente etwas später erworben werden als die einfacheren."
    Allerdings ist die Präferenz, einfachere grammatikalische Elemente vor den komplexeren zu lernen, nur eine von mehreren Regeln des frühkindlichen Lernens.
    "Es sind verschiedene Faktoren, die da eine Rolle spielen. Einerseits ist es die Frequenz im Input: Wie häufig hört ein Kind spezifische Strukturen? Also die Häufigkeit, mit der ein Element verwendet wird? Und dann unter anderem auch unterschiedliche Lernstrategien.
    Lernstrategien
    Bei diesen sogenannten 'Lernstrategien', die die Eltern bei ihren Kindern anwenden. Machen die Züricher Wissenschaftler große Unterschiede zwischen den einzelnen Sprachen aus: Im Englischen, aber auch im Deutschen bringen Eltern ihren Kleinkindern zunächst einmal Nomen, Hauptwörter bei:
    "Sag mal, was ist das? Schau mal, da ist ein Bär, da ist eine Flasche. Und so weiter."
    Ganz anders dagegen verhalten sich Eltern, die Mandarin oder Koreanisch sprechen:
    "Sie versuchen Kinder, mehr dazu zum Sprechen zu bringen, indem sie über Handlungen sprechen."
    Statt "Hund", "Baum" und "Katze" lernen die Kinder fort als Erstes Begriffe wie "Über die Straße gehen" oder "Mittagessen kochen". All diese Elemente zusammen – grammatikalische Komplexität, Häufigkeit des Hörens, Handlungs- oder gegenstandsorientiertes Sprechen – überlagern sich gegenseitig und bestimmen in ihrer Gesamtheit, wie Kleinkinder sprechen lernen.
    "Und wir versuchen jetzt herauszufinden, in welcher Relation diese Elemente zueinander stehen für den Erwerb."
    Dazu haben sich die Züricher Sprachwissenschaftler Zeit genommen; auf fünf Jahre ist das Projekt ausgelegt.
    Ein indonesisches Kleinkind unterhält sich mit seiner Mutter über Spielzeugtiere – auch dies eines der vielen Tausend Beispiele, die die Züricher Sprachwissenschaftler untersuchen. Sie haben insgesamt zehn Sprachen in den Fokus ihrer Forschungen gerückt. Wichtigste Bedingung: Die Sprachen müssen gegenseitig so unterschiedlich wie möglich strukturiert sein. Sabine Stoll:
    Wir suchen Sprachen aus, die maximal unterschiedlich sind in ihrer Grammatik, die sich total unterscheiden. Und wenn wir sozusagen dann Mechanismen finden, die in diesen total unterschiedlichen Sprachen auftreten, dann kommen wir am nächsten an die Universalität von Mechanismen, die Kinder im Spracherwerb anwenden."
    Dazu ist nach Ansicht der Züricher Sprachwissenschaftlerin Eile geboten. Das
    "Also einige der Sprachen, die wir untersuchen, sind auch vom Aussterben bedroht, was dann natürlich bedeutet: Jetzt können wir's noch anschauen, wie Kinder diese Sprachen lernen. Aber in ein paar Jahren wird es wahrscheinlich keine Kinder mehr geben, die diese Sprachen lernen. Und deswegen ist es so wahnsinnig wichtig, dass wir uns in der Linguistik, in der Spracherwerbsforschung, auch auf bedrohte Sprachen fokussieren."