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Literatur
Der Leser als Ermittler

In Zeiten einer Entpolitisierung erscheint uns die Dokumentarliteratur der 1960er-/70er-Jahre schon fast als historisches Relikt. Gleichwohl hat das Dokumentarische in der heutigen Literatur wieder Konjunktur. Inwiefern kann das eigentlich sperrige, da die Illusion der fiktionalen Erzählwelt störende Dokument auch und gerade in der Spannungsliteratur Wirkung erzielen?

Von Frank Zimmer | 03.08.2014
    Der Krimi "Tannöd" (l) der Bestsellerautorin Andrea Maria Schenkel ist von einem Mordfall aus dem Jahr 1922 inspiriert, den auch der Journalist Peter Leuschner in seinem Buch "Der Mordfall Hinterkaifeck" untersuchte.
    Der Krimi "Tannöd" (l) der Bestsellerautorin Andrea Maria Schenkel ist von einem Mordfall aus dem Jahr 1922 inspiriert, den auch der Journalist Peter Leuschner in seinem Buch "Der Mordfall Hinterkaifeck" untersuchte. (picture alliance / dpa / Stephan Jansen)
    Wie wird literarisch mit dokumentarischen Mitteln an geschichtliche Ereignisse erinnert? Und verhilft das dokumentarische Erzählen der Literatur zu mehr Authentizität und Wirklichkeitsnähe - wird damit gar das gesellschaftskritische Projekt der 1960er-/70er-Jahre mit anderen, populäreren Mitteln fortgeschrieben? Frank Zimmer stellt mit einem Blick auf erfolgreiche deutschsprachige und skandinavische Kriminalliteratur der letzten Jahre, zum Beispiel von Andrea Maria Schenkel, Jussi Adler-Olsen und Leif GW Persson, diese Fragen zur Diskussion.
    Seine Untersuchungen stellte Frank Zimmer auf dem Forum Essay 2014 "Alles Lüge?! Über Dokumentarismus" vor. Frank Zimmer, geboren 1976, studierte Skandinavistik, Germanistik und Geschichte in Kiel und Lund (Schweden). Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni Kiel, Verlagslektor in Berlin und lebt heute als Gymnasiallehrer in Hamburg.

    Der Leser als Ermittler
    Dokumentarisches Erzählen im Kriminalroman
    Von Frank Zimmer
    "Vielleicht hat das Erforschen der Wirklichkeit kein anderes Ziel als dieses: Unsere gewohnten Reaktionen gegenüber einer Welt infrage zu stellen, die eigentlich nie 'alltäglich' ist, das Gefühl der Unsicherheit dem Leser als Erfahrung zu vermitteln. Und schließlich: Uns zu dem Punkt zu führen, an dem das metaphysische Fragen beginnt."
    Die Literatur im Dienste einer tieferen Erkenntnis über die Wirklichkeit und menschlichen Existenz: So formulierte es der schwedische Schriftsteller Torsten Ekbom 1962 in einem Aufsatz mit dem programmatischen Titel "Der Roman als Wirklichkeitserforschung" und griff damit erkennbar für den französischen nouveau roman Partei. Eine ästhetische Reaktion auf diese Funktionalisierung der Literatur war der Dokumentarismus, wie er in den 1960er- und frühen 1970er-Jahren in vielen Literaturen Europas in Mode kam.
    Doch wie verhält es sich heute mit dem dokumentarischen Erzählen - heute, wo die großen Ideologiedebatten vorüber sind, wo die Leserschaft entpolitisiert zu sein scheint? Und mehr noch: Wie verhält es sich mit dem dokumentarischen Erzählen in jenem Unterhaltungsgenre, das die Bestsellerlisten ebenso dominiert wie die Prime-Time-Plätze im Fernsehen - dem Krimi?
    Trauma und Glücksfall zugleich
    Stockholm, 28. Februar 1986. Natürlich war der schwedische Staatsminister Olof Palme ohne Leibwächter im Kino gewesen, geborgen im Schoße des Volksheims, jenem mentalen Überbau des schwedischen Wohlfahrtsstaates.
    Schweden, Exportweltmeister in Sachen Krimi, bekam so seinen eigenen großen Kriminalfall. Anders als bei den Kommissaren Beck und Wallander jedoch blieb der Mord ungelöst - bis heute. Im Jahr 2010 hob der schwedische Reichstag rechtzeitig die Verjährungsfrist auf. Es kann also weitergehen mit der Tätersuche, doch an eine Aufklärung glaubt in Schweden niemand mehr. Und so wurde der Fall längst zu einem veritablen Trauma, das das Volksheim Schweden in seinen Grundfesten erschütterte.
    Und zu einem Glücksfall für Geschichtenerzähler: Der Palme-Mord hinterließ auch in der Literatur seine Spuren. Seit den späten 80er-Jahren erschienen reihenweise Kriminalromane und Thriller über die Ermordung des Staatsministers. Für den ersten Ermittler im Mordfall Palme, Hans Holmér, bedeutete der Fall das Ende seiner Polizeikarriere und den Beginn seiner Schriftstellerlaufbahn: Bis zu seinem Tod 2002 schrieb er ein Dutzend Krimis. Und umgekehrt erklärte sich ein Büchermensch zum Privatermittler: Ebbe Carlsson, der Verlagsdirektor von Bonniers - dem größten schwedischen Verlagshaus -, begab sich Ende der 80er-Jahre selbst auf die Suche nach dem Täter, logistisch unterstützt durch die Justizministerin Anna-Greta Leijon. Als die Ermittlungen des Privatmannes im Sommer 1988 aufflogen, musste die Ministerin zurücktreten. Die Grenzen zwischen Literatur und Wirklichkeit - sie werden beim Kriminalfall Olof Palme neu verhandelt.

    Der ermordete frühere schwedische Ministerpräsident Olof Palme im Jahr 1985
    Der ermordete frühere schwedische Ministerpräsident Olof Palme im Jahr 1985 (AP)
    Und das bis heute: Schauen wir uns einen erfolgreichen schwedischen Kriminalroman an, der sich auch über 20 Jahre nach dem Mord an Olof Palme auf Tätersuche begibt. Es geht um Leif GW Perssons Roman "Faller fritt som i en dröm" von 2007 (auf Deutsch 2010 unter dem Titel "Zweifel" erschienen - man möge sich nicht über den deutschen Titel wundern, seit Stig Larssons Erfolgskrimis sind Einworttitel bei skandinavischen Krimis unter Marketingaspekten fast ein Muss).
    Der Autor Leif GW Persson ist in Schweden ein Promi: Professor für Kriminologie, im Fernsehen omnipräsenter Sicherheitsexperte, Profiler und politischer Berater - sowie Bestsellerautor.
    Entgegen der Genrekonvention ist in dem Krimi "Zweifel" der Mord bereits längst geschehen: Es ist der Mord an Olof Palme; ihn gilt es weiterhin aufzuklären. Das "umfangreichste Ermittlungsmaterial in der Weltgeschichte", wie es am Romananfang heißt, soll neu gesichtet werden, ein ehrgeiziger Kriminalchef gibt sich mit der Unaufklärbarkeit des Geschehens nicht länger zufrieden. Irgendwo müsse doch ein Ermittlungsfehler passiert sein, irgendetwas übersehen worden sein.
    Damit weist der Roman - dies allerdings genretypisch für den Krimi - eine analytische Struktur auf: Nicht die verbrecherische Tat steht im Zentrum, sondern ihre Aufdeckung; allerdings mit der Modifikation, dass es hier um eine Art Recycling von Ermittlungsarbeit geht. Die 20-jährige Spurensuche im Fall Palme wird hier noch einmal auf den Prüfstand gestellt, jeder Stein noch einmal umgedreht.
    Schon das Cover der deutschen Buchausgabe signalisiert den möglicherweise dokumentarischen Charakter des Romans. Es ist ein Ausschnitt einer realen schwedischen Zeitungsschlagzeile aus "Aftonbladet" vom Tag nach der Ermordung Palmes zu sehen. Das im Original abgedruckte Foto Palmes wurde bereits bis zur Unkenntlichkeit retuschiert, wohl auch, weil Palme heutzutage und hierzulande nicht als solcher identifiziert worden wäre.
    Auf der ersten Seite werden dem Leser dann die unterschiedlichen Theorien der Fluchtwege präsentiert, illustriert durch eine Karte der Stockholmer Innenstadt. Im Folgenden wird dann immer wieder aus Aktennotizen und Vernehmungsprotokollen zitiert. Auch wird auf reale Personen, die für die Palme-Ermittlung zentral waren, Bezug genommen. Schließlich hat der Autor selbst eine Art Cameo-Auftritt, hat sich also selbst in den Roman hineingeschrieben - der Krimi liest sich so gesehen wie ein Schlüsselroman.
    Damit enthält der Text ein zentrales Merkmal dokumentarischen Erzählens: eine doppelte Referenzstruktur. Er verweist durch die Fremdreferenzen auf einen realen historischen Kontext, signalisiert jedoch zugleich, dass es sich um eine Fiktion handelt. Dies im Übrigen auch schon deshalb, weil es genregemäß, aber kontrafaktisch natürlich am Ende einen Täter geben wird, der der Ermordung des Staatsministers überführt wird. Die Schlussworte des Romans konterkarieren diese vom Leser geforderte Auflösung des Falls:
    "Ungeachtet der Frage, ob Wahrheit absolut oder relativ ist, und ungeachtet der Tatsache, dass viele von uns auf der Suche nach ihr sind, bleibt sie am Ende doch fast allen verborgen. In der Regel aus Notwendigkeit oder zumindest aus Fürsorge für jene, die sie doch nicht verstehen würden."
    Die Eindeutigkeit des Endes - ein Täter ist überführt worden - verflüchtigt sich hier also in eine etwas resignative, vielleicht auch elitäre Aussage: Die Wahrheit offenbare sich nur wenigen, sei nur wenigen erträglich und begreiflich.
    Spannender als die Frage nach dem Täter ist es aber ohnehin zu begreifen, wie und warum der Krimi dokumentarisch erzählt. Viel lässt sich aus Leif GW Perssons Roman über dokumentarisches Schreiben in der Kriminalliteratur erfahren.
    Doch was heißt überhaupt dokumentarisches Erzählen?
    Die Möglichkeiten des Erzählbaren
    Erzählen bedeutet, aus den Möglichkeiten des Erzählbaren auszuwählen und über Erinnern und Vergessen zu entscheiden. Das zentrale Merkmal vom dokumentarischen Erzählen ist dabei die Einbindung authentischen Materials mittels Montagetechnik, das heißt mittels eines Verfahrens, bei dem vorgefertigte Teile zu einem neuen ästhetischen Ganzen zusammengesetzt werden; diese Teile verweisen aber - und das ist ganz wichtig - sozusagen als "Vorfabrikate" weiter auf einen außerästhetischen, realweltlichen Kontext. Die montierten Textfragmente oder Bildquellen erscheinen in ihrem neuen Zusammenhang gleichsam als Fremdkörper. In Leif GW Perssons Krimi "Zweifel" sind diese "Vorfabrikate" beispielsweise Zeitungsartikel und Untersuchungsberichte.
    Sichtbare Spuren der Recherche
    Zwei Arbeitsschritte weist das Verfahren der Montage damit auf: den der Fragmentierung und Entformung (bezogen auf den Ausgangskontext) sowie den der Kombination und Neuformung (mit Blick auf das veränderte Umfeld). Entscheidend für das dokumentarische Erzählen ist dabei, dass die Arbeitsschritte sichtbar bleiben, dass sich Spuren der Recherche finden lassen.
    Als Konsequenz des Montageverfahrens wird die Grenze zwischen Kunst und Nicht-Kunst relativiert und die klassische Autonomievorstellung der Kunst negiert. Es wird bewusst etwas von außen hereingeholt und dieses Hereinholen auch keineswegs kaschiert.
    Der Dokumentarismus der 1960er-Jahre entwickelte sich nicht zuletzt aus einem Misstrauen der autonomen Kunst und der Fiktion gegenüber und zielte auf eine gesellschaftliche, mithin politische Wirkung ab. Es ging um die Überwindung eines "politischen Analphabetismus", wie Hans Magnus Enzensberger es 1968 formulierte. Nicht um die Abschaffung der Dichtung, sondern um ihre Erneuerung und Relegitimierung. Literatur definierte sich fortan über ihr Verhältnis zur gesellschaftlichen Wirklichkeit.
    Der sich seit den 1990er-Jahren etablierende neue Dokumentarismus - so kann zumindest in Bezug auf die skandinavische Literatur konstatiert werden - zeigt dagegen ein viel größeres Vertrauen in die Möglichkeiten der Fiktion. Dieser neue Dokumentarismus ist geprägt durch die Auffassung, dass alle Wirklichkeitsdarstellung ein konstruktives und kontingentes Moment aufweist und dass der Literatur eine wichtige Rolle bei dieser Konstruktion und bei ihrer Bewusstmachung zukommt.
    Sofern es sich um dokumentarisch erzählende Romane und damit um als Ganzes fiktionale Texte handelt, kann man von einer ambivalenten Referenzstruktur sprechen: Sie signalisieren sowohl Fremdreferenzialität durch das montierte Material als auch Selbstreferenzialität und Fiktionalität. Dies etwa bereits, indem sie sich selbst im Untertitel als "Roman" bezeichnen - ein klares Kommunikationssignal an den Leser, den Text insgesamt als fiktional wahrzunehmen. Das Fiktionale dominiert folglich die Referenzstruktur. Denn wie es der französische Erzähltheoretiker Gérard Genette in seiner Studie "Fiktion und Diktion" einmal formuliert: "Für die Fiktion als Diskurs gilt zweifellos [ ... ]: Das Ganze ist fiktiver als jeder seiner Teile."
    So auch in Leif GW Perssons Krimi: Die Ermittlerfigur des Romans mag Anleihen bei realweltlichen Personen aufweisen, ist jedoch im Text als fiktional angelegt, mit einer für den Roman typischen Privathandlung, die in faktualen Texten zum Kriminalfall Palme fehlen würde.
    Von dokumentarischem Erzählen im engeren Sinne kann man also nur sprechen, wenn das Dokumentieren für den Rezipienten erkennbar ist. Solche Texte haben damit einen per se performativen Charakter und - so wäre zu betonen - sie stören bewusst die Illusion der fiktionalen Als-Ob-Wirklichkeit. Kurzum: Dokumentarisches Erzählen ist eigentlich gänzlich unattraktiv für den auf Spannung hin ausgerichteten Kriminalroman. Oder etwa nicht?
    Der Wunsch nach Glaubwürdigkeit und Wirklichkeitsnähe
    Distanz, Illusionsstörung, Fragmentierung, Retardierung des Leseflusses - nicht eben das, was man klassischerweise von einem unterhaltenden Spannungsroman erwartet. Und doch gibt es einen wichtigen Anknüpfungspunkt, den das dokumentarische Erzählen für den Krimi spannend macht: nämlich den Wunsch oder die Lesererwartung nach Glaubwürdigkeit und Wirklichkeitsnähe. In Leif GW Perssons "Zweifel" ist es die Faszination des unaufgeklärten Kriminalfalls um die Ermordung Olof Palmes - zumindest beim schwedischen Leser wird die Lektüre von einem breiten, medial vermittelten Wissen über die Tat und die jahrelange Ermittlungsarbeit überlagert. Dadurch, dass der Roman dieses Wissen aufgreift und in das Erzählen einbindet, wird für den Leser die an sich dominant fiktionale Handlung glaubwürdig und realistisch.
    Glaubwürdigkeit ist denn auch für den neuen Dokumentarismus ein ganz zentraler Begriff. So schreibt der schwedische Schriftsteller Steve Sem-Sandberg, Verfasser des polyfonen Dokumentarromans "De fattiga i Łódź "in einer Zeitungsdebatte 1994 Folgendes:
    "Wirklich, das heißt sowohl literarisch als auch dokumentarisch glaubwürdig, wird ein Verlauf erst, wenn Fakten und Fiktion unablässig in- und übereinander gleiten, sodass der Leser die Geschichte nicht bloß als eine Folge von Geschehnissen sieht, sondern genauso als eine Serie von Fehldeutungen, Verwechslungen und Verheimlichungen."
    Es soll dem von Sem-Sandberg geforderten Dokumentarismus also nicht um Faktizität gehen, sondern um Glaubwürdigkeit: Das "Wirkliche" sei nur als komplexes und unabschließbares Ineinander von Gefundenem und Erfundenem wahrzunehmen; es weise weder Kausalität noch klare Strukturen auf. Die zu dokumentierende Vergangenheit sei nämlich - so betont Sem-Sandberg weiter - stets von Fiktionen überlagert, stets mit Geschichten semantisiert. In einem poetologischen Essay hatte Sem-Sandberg bereits 1990 entsprechend erklärt: "Das Wirkliche ist das Unübersetzbare."
    Glaubwürdigkeit - was heißt das aber jetzt für den Kriminalroman? Glaubwürdigkeit - eine solche kann durch das Etikett "Based on a true story" evoziert werden oder durch den mittlerweile fast obligaten Verweis auf gründliche Recherchearbeit (was oftmals die Funktion von Danksagungen ist) oder dadurch, dass der Krimiautor zum Beispiel ehemaliger Ermittlungsleiter ist, wie bei erwähntem Hans Holmér, oder eben Kriminalistikprofessor und Profiler wie Leif GW Persson.
    Auch ein Blick auf die deutschen Bestsellerlisten der letzten Jahre zeigt dieses Phänomen: Da wäre ein praktizierender Strafverteidiger wie Ferdinand von Schirach zu nennen, der Gerichtsmediziner Michael Tsokos von der Berliner Charité, der Gefängnisarzt Joe Bausch von der JVA Würl, zugleich Kölner "Tatort"-Pathologe, oder der Profiler Axel Petermann von der Bremer Kriminalpolizei (seit 2011 auch Berater des Frankfurter Tatorts) - allesamt schreibende Kriminalisten, die eine breite Leserschaft finden.
    Voyeurismus des Bösen
    Vielleicht liegt dem Erfolg dieser Experten als Autoren auch ein Voyeurismus des Bösen zugrunde: Wir wollen bloß Zuschauer sein, uns in Sicherheit wähnen, zugleich aber auch möglichst nah dran sein. Und durch die professionellen Autoren wird diese Nähe vermeintlich garantiert.
    Glaubwürdigkeit und Wirklichkeitsnähe lassen sich schließlich auch dadurch suggerieren, dass die Recherche sichtbar in den Erzähltext Eingang findet: durch montiertes Material. Und da wären wir dann beim dokumentarischen Erzählen.
    Das ist wahrlich nicht die Regel im Krimi, viele der erfolgreichen skandinavischen Krimiautoren der letzten Jahre wie der Schwede Stig Larsson oder der Norweger Jo Nesbø erzählen ihre Geschichten, ohne dokumentarische Erzählverfahren anzuwenden. Wenn realweltliche Bezüge hergestellt werden, dann in der Regel indirekt, zum Beispiel, indem ein reales Verbrechen als Inspiration dient oder das Setting auf ein solches verweist. Wie bei dem in den letzten Jahren so erfolgreichen dänischen Krimi-Autor Jussi Adler-Olsen, der in seinem vierten Roman um den Ermittler Carl Mørk ein dunkles Kapitel der dänischen Medizingeschichte aufgreift: Auf der Insel Sprogø wurden in einer geschlossenen Anstalt zwischen 1923 und 1961 vermeintlich psychisch kranke Frauen in Isolationshaft verwahrt und viele von ihnen zwangssterilisiert. Dieses Geschehen dient dem Krimiplot als historischer Hintergrund, ohne dass der Text explizit ein dokumentarisches Erzählen aufweist.
    Man kann eine Begründung für diesen Verzicht auf Dokumentation bei Jo Nesbø nachlesen, nämlich in der Vorbemerkung zu seinem Krimi "Kakerlakkene" (auf Deutsch "Kakerlaken"), wo es heißt:
    "Keine der Personen oder Geschehnisse im Buch darf mit wirklichen Personen oder Geschehnissen verwechselt werden."
    Diesen Satz haben wir so oder ähnlich schon hundertmal gelesen, doch es geht weiter:
    "Dafür ist die Wirklichkeit viel zu unglaubwürdig."
    Mit diesem lakonischen Satz wird natürlich die Funktion des Dokumentierens als Versuch, einer Geschichte Glaubwürdigkeit zu verleihen, grundlegend infrage gestellt.
    Liest man die mit Cliffhangern und falschen Fährten lehrbuchmäßig auf Spannungserzeugung hin ausgelegten Krimis Jo Nesbøs um den Ermittler Harry Hole, dann könnte man wirklich meinen, seine minutiös ausgearbeiteten Plots seien glaubwürdiger konstruiert als so manche vermeintlich wirklich geschehene Straftat, wie sie uns beispielsweise Ferdinand von Schirach in seinen mit "Stories" betitelten Büchern "Verbrechen" von 2009 und "Schuld" von 2010 erzählt.
    Die Suche nach Wahrheit
    Trotzdem scheint - neben einem Voyeurismus des Bösen - Glaubwürdigkeit und Wirklichkeitsnähe ein zentrales Motiv zu sein, warum einige Krimis und Thriller dokumentarische Erzählverfahren verwenden.
    Die Suche nach Wahrheit, der Wunsch nach beglaubigten Geschichten, nach Geschichten mit Wirklichkeitsgehalt - nicht bloß erdachte Als-ob-Wirklichkeiten, dieses Streben macht dokumentarisches Erzählen, wiewohl eigentlich den Grundsätzen der Spannungserzeugung widersprechend, macht dokumentarisches Erzählen für den Kriminalroman spannend.
    Ein weiteres Motiv wäre Historizität: Denn auffällig ist, dass dokumentarische Verfahren in der Unterhaltungsliteratur vor allem dort Anwendung finden, wo es um geschichtliche Ereignisse geht. Dies erscheint nur konsequent, folgt man Walter Benjamin, der in seinem im Wesentlichen dokumentarisch erzähltem "Passagen-Werk" konstatierte:
    "Geschichte schreiben, heißt also Geschichte zitieren. Im Begriff des Zitierens liegt aber, dass der jeweilige historische Gegenstand aus seinem Zusammenhange gerissen wird."
    Eine Lupe vergrößert   im Fachbereich Daktyloskopie der Kriminaltechnischen Untersuchungsstelle (KTU) in Tübingen, Baden-Württemberg, einen Fingerabdruck.
    Auf der Suche nach der Wahrheit (AP)
    Der Leser als Ermittler
    Das dahingehend nicht zuletzt auch kommerziell erstaunlichste Beispiel in der deutschen Literatur ist wohl Andrea Maria Schenkels "Tannöd", 2006 im kleinen Hamburger Nautilus-Verlag erschienen, um ganz wider Erwarten ein Bestseller zu werden: Es widersetzt sich den Genrekonventionen insofern, als es zu einem großen Teil aus aneinandergereihten Zeugenaussagen besteht. Diese sind zwar fiktiv, auch wenn die Geschichte auf einen realen sechsfachen Mord aus dem Jahr 1922 zurückgeht - trotzdem ist es gerechtfertigt, hier von dokumentarischem oder eben pseudodokumentarischem Erzählen zu sprechen. Es macht die Lektüre ungewohnt sperrig und fragmentiert, zugleich aber auch ungeahnt faszinierend. Der Kriminalfall erscheint wie ein Puzzle, das sich dem Leser - ähnlich den Ermittlern - erst nach und nach zu einem Gesamtbild zusammenfügt. Die Rekonstruktionsarbeit ist mühsam, muss sie der Leser doch - anders als das gleichsam "betreute Lesen" in so manch anderem Kriminalroman - selbst leisten: Der Leser wird zum Ermittler.
    Ein weiteres, gänzlich anders Beispiel für einen historischen Spannungsroman, der dokumentarisch erzählt, wäre Robert Harris "An Officer and a Spy", auf Deutsch unter dem Titel "Intrige" im vergangenen Jahr veröffentlicht.
    Überwiegend im Stile eines historischen Romans erzählt Harris die Geschichte der Dreyfus-Affäre aus den 1890er-Jahren in Frankreich neu, montiert dabei aber immer wieder realgeschichtliche Quellen wie Briefe, Zeitungsartikel, Verhandlungsprotokolle sowie inzwischen vom französischen Verteidigungsministerium freigegebene Geheimdossiers.
    Doch schauen wir wieder nach Skandinavien: Dass dokumentarisches Erzählen gerade dort, genauer gerade in Schweden durchaus auch im Unterhaltungsgenre populär ist, lässt sich vielleicht literaturgeschichtlich erklären. Zum einen weist das Genre des Krimis eine lange sozialkritische Tradition auf - ausgehend in den 1960er und 70er-Jahren mit dem Paar Maj Sjöwall und Per Wahlöö, den Erfindern von Kommissar Martin Beck (auch im deutschen Fernsehen immer noch und immer wieder präsent); dann mit Henning Mankell und seinem Kommissar Wallander in der 1980er und 1990er-Jahren. Neben Krimispannung bieten diese Romane, häufig verbunden mit nordischer Melancholie, auch eine gesellschaftskritische Analyse. Damit ist eine erste Traditionslinie benannt, die in Richtung Dokumentarismus verweist.
    Ein richtungsweisender Dokumentarroman
    Zum anderen wäre der skandinavische Dokumentarroman schlechthin zu erwähnen: Per Olov Enquists "Legionärerna" von 1968 (auf Deutsch 1969 als "Die Ausgelieferten" erschienen). Der Erzähler dort sieht sich selbst als Ermittler, der Indizien für ein politisch-moralisches Versagen Schwedens sammelt: 1946 wurden 146 baltische Weltkriegs-Flüchtlinge, die während des Zweiten Weltkriegs aufseiten der Wehrmacht gekämpft hatten, aus Schweden in die stalinistische Sowjetunion ausgeliefert - und einige landeten im Arbeitslager. Dieser Roman hat das Genre popularisiert und erweist sich durch seine erzählerische Komplexität auch heute noch als modern und richtungsweisend.
    Der schwedische Schriftsteller Ola Larsmo schrieb entsprechend über Enquists Roman:
    "Die Frage, die "Die Ausgelieferten" aufwirft, parallel zu seinen geschichtlichen Themen, ist eine grundlegende Frage darüber, wie wir mit 'Fakten' umgehen, wie wir unsere Wirklichkeit konstruieren. Davon handelt alle bedeutende Dokumentarliteratur."
    Damit verlagert sich der Akzent von der Handlungsebene des Textes auf die Darstellungsebene und auf die Frage, wie vom Menschen erzählt werden kann. Umberto Eco schreibt in "Das offene Kunstwerk" unter der Rubrik "Form als Engagement":
    "Der eigentliche Inhalt des Kunstwerks wird somit seine Art, die Welt zu sehen und zu beurteilen, ausgedrückt in einem Gestaltungsmodus, und auf dieser Ebene muss dann auch die Untersuchung der Beziehungen zwischen Kunst und Welt geführt werden."
    In Enquists "Die Ausgelieferten" macht sich die Ermittlerfigur selbst zum Objekt der Dokumentation, hinterfragt permanent die eigene Standortgebundenheit und Glaubwürdigkeit. Soweit gehen auf kommerziellen Erfolg ausgerichtete Krimis nicht; dennoch lässt sich mit dem durchaus auch verkaufsträchtigen Roman Enquists wohl erklären, dass - anders als hierzulande - in Skandinavien viele Bücher immer noch die Genrebezeichung "Dokumentarroman" im Untertitel tragen.
    Der norwegische Schriftsteller Jan Kjærstad liest in der Zeitung
    Der norwegische Schriftsteller Jan Kjærstad (picture alliance / dpa / Indrelid Trygve)
    Jan Kjærstads "RAND", auf Deutsch "Rand", 1990 in Norwegen erschienen, 1994 hierzulande, trägt die Genre-Bezeichnung "Roman" im Untertitel; sympathisch: Wird doch sonst jeder skandinavische Roman, in dem eine Leiche vorkommt, verkaufsträchtig als "Krimi" lanciert. Und "RAND" könnte völlig zu Recht als Krimi bezeichnet werden. Zugleich enthält er dokumentarische Elemente: Denn die literarische Produktivität der Auseinandersetzung mit dem Palme-Mord beschränkt sich nicht allein auf die schwedische Literatur.
    So lässt sich der Rekurs auf das Attentat auch in Jan Kjærstads Roman leicht erkennen. "RAND" beruht im Wesentlichen auf der Schilderung einer Mordermittlung, die jedoch problematisiert wird und zu keinem eigentlichen Untersuchungsergebnis führt. Der Roman spielt im Oslo der späten 1980er-Jahre und handelt von einem Serienmörder, dem Icherzähler, der insgesamt sechs Taten begeht, ohne dass der Text dafür eine psychologische Erklärung liefert und ohne dass sich Signale finden ließen, wonach der Erzähler ein Psychopath sei, der ein Doppelleben führe. Insgesamt zeigen sich deutliche Parallelen zu Bret Easton Ellis' ein Jahr später veröffentlichtem Roman "American Psycho". Die in Kjærstads "Norwegian Psycho" präsentierte Welt erscheint als chaotisch, sodass erst die radikalste Form der Entropie, das Schwerverbrechen, am Romanende wieder einen Zusammenhang stiftet.
    Die Morde und der Verlauf der Morduntersuchung in "RAND" weisen eine Reihe von Analogien und Anspielungen zum "Palme-Diskurs" auf. Dieser intertextuelle Bezug wird bereits von Jan Kjærstad selbst hergestellt, nämlich in "'Rand'bemerkninger i kalenderen", einer Art Arbeitsjournal zum Roman. So lautet ein Eintrag wie folgt: "MAI 88. In Stockholm. Gehe die U-Bahn-Treppe hoch. Die Palmesache drängt sich hinein in die Erzählung."
    Im Roman wird das erste Mordopfer "auf offener Straße" aufgefunden, wie der Icherzähler in der Zeitung liest. Und die Nachforschungen ergeben schließlich, dass alle sechs Mordopfer einige Tage vor ihrem Tod dieselbe Kinovorstellung besucht hatten. Nun wurde Olof Palme bekanntlich auf offener Straße im Zentrum Stockholms erschossen, als er sich mit seiner Frau von einem Kinobesuch auf dem Weg nach Hause befand.
    Besonders augenfällig sind die Anspielungen in "RAND" hinsichtlich der Untersuchungsarbeit und ihrer Protagonisten, insofern ähnlich dubiose und international orientierte Konspirationstheorien entworfen werden wie auch in der schwedischen Öffentlichkeit nach dem Palme-Mord. Ganz explizit wird auf Palme linguistisch Bezug genommen, führen die Nachforschungen den Icherzähler doch einige Male in ein Palmenhaus des Botanischen Gartens in Oslo, sodass das Lexem Palme und Palmen vielfach vorkommt. Diese Lesart mag auf den ersten Blick überzogen erscheinen, doch legt der Roman an vielen Stellen - ganz im Sinne des postmodernistischen "linguistic turn"' - eine solche Fokussierung auf die Signifikanten nahe.
    Liest man RAND also als ein Pastiche auf den Palme-Mord, dann lässt sich mit dem schwedischen Literaturwissenschaftler Bo G. Jansson sagen:
    "Indirekt handelt RAND [ ... ] teils von der faktischen schwedischen Wirklichkeit des Palmemordes und teils von der fortlaufenden Narrativierung und Fiktionalisierung dieser faktischen Wirklichkeit."
    Und - folgt man dem Autor von "RAND" - so handelt sein Roman auch von der Herausforderung für dieses Erzählen der Wirklichkeit. In dem Essay "Et plot som aldri tar slutt. Den polyteistiske roman" (Ein Plot, der nie zu Ende geht. Der polytheistische Roman) schreibt Kjærstad über den Palme-Mord und dessen Folgen für ein historisch-dokumentierendes Erzählen:
    "Das Publikum kennt den zeitgenössischen Plot vom großen politischen Mord. [ ... ] Behauptung: Betrachtet man heute die faktischen Geschehnisse, so sieht man, dass der traditionelle Plot zu einfach gestrickt ist und es deshalb einer neuen Erkenntnis über die Welt bedarf. Eine Geschichte nach der alten Plot-Methode zu strukturieren, bedeutet, sie gegenüber möglichen anderen Verständnissen des Daseins abzuschotten."
    Für Kjærstad bringt der Palme-Mord also die Erkenntnis mit sich, dass der traditionelle Romanplot die Komplexität der Gegenwart nur unzureichend gestalte und deshalb nunmehr obsolet geworden sei. Das als zeichenhaft präsentierte Ereignis des Palme-Mordes offenbare die Notwendigkeit einer neuen Romanpoetik mit vielen unabgeschlossenen und unabschließbaren Plots.
    "Die Tatort-Republik. Warum Deutschland jeden Sonntag einen Mord braucht", so titelte "Der Spiegel" jüngst und wusste zu berichten, wie "Bild" und faz.net den sonntäglichen Krimi nach der Ausstrahlung einem Faktencheck unterziehen, "der Krimi und Wirklichkeit abgleicht" - ohne die Frage im Untertitel letztlich wirklich zu beantworten. Eine Antwort liefert vielleicht der dänische Schriftsteller Jens Christian Grøndahl, wenn er in einem Essay mit dem Titel "Der Schriftsteller und die Nachrichten" schreibt:
    "Die Nachrichten unterrichten uns nicht nur darüber, was andernorts geschieht; sie vermitteln auch das Gefühl, dass jene vom Horror heimgesuchten Orte die wirkliche Welt sind - und dass der Ort, wo wir Zuschauer uns befinden, mithin eine Art Vorstadt der eigentlichen Realität ist."
    Ersetzt man das Wort "Nachrichten" mit Krimi - so sind wir abermals beim Voyeurismus des Bösen. Die Welt da draußen als eigentliche Welt - wir Vorstadtvoyeure in größter, in sicherster Nähe. Das ist ganz offensichtlich eine Illusion, und dennoch erwächst aus dem dokumentarischen Erzählen eine moralische Qualität - und so endet auch Grøndahl hoffnungsfroh:
    "Es ermutigt mich, dass es nach wie vor Leser gibt, die Worte brauchen, um für sich selbst wirklich zu werden. [ ... ] Schreiben heißt [ ... ], die Toten zu zählen, Verluste zu verwinden und den Wandel, selbst wenn er zerstörerisch ist, in eine Geschichte einzubinden, welche die unsere sein kann."
    Dokumentation ("die Toten zählen"), Trost ("Verluste zu verwinden") und Identifikation ("in eine Geschichte einbinden") - all das vermag Literatur in der Konfrontation mit dem, was wir als Wirklichkeit wahrnehmen, zu leisten.