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Lob der Philosophie

Der Turiner Religionsphilosoph Ugo Perone will sich während seiner zwei Jahre andauernden "Guardini-Professur für Religionsphilosophie und Katholische Weltanschauung" in Berlin vor allem mit dem Thema Säkularisierung in der Moderne befassen.

Von Hans Joachim Neubauer | 22.11.2012
    "Europa ist viel katholischer, als man vielleicht annehmen sollte. Ich meine nicht katholisch im engen Sinne, so religiös im Allgemeinen, christlich. Viele Inhalte sind jetzt ein Besitz von allen, auch von vielen, die nicht gläubig sind. Weil: 2000 Jahre Christentum haben sich bestimmt sehr tief unsere Geschichte eingeprägt. Und das sollte man ein bisschen mehr vielleicht anerkennen."

    Wenn Ugo Perone über das christliche Europa spricht, meint er das Erbe einer ganzen Zivilisation. Nun hat der italienische Philosoph die Guardini-Professur an der Berliner Humboldt-Universität angetreten. Zwei Jahre lang wird er an jener Stelle wirken, an der vor ihm Ludger Honnefelder, Edmund Runggaldier und Jean Greisch lehrten. Die "Guardini-Professur für Religionsphilosophie und Katholische Weltanschauung" ist seit 2004 eine feste Größe im intellektuellen Berlin. Was hier gesagt und gelehrt wird, wird beachtet – auch jenseits des akademischen Betriebs.

    "Wenn man denkt an das Wort "katholische Weltanschauung", kann man das sehr eng interpretieren. Aber wenn man das Katholische – wie es ursprünglich immer gewesen ist und immer noch ist – im Sinne von universell interpretiert, ist das interessant."

    Mit seinem Blick auf das Universelle folgt Ugo Perone Romano Guardini. Bis 1939, als die Nationalsozialisten ein Lehrverbot über Guardini verhängten, hatte der legendäre Theologe in Berlin "Religionsphilosophie und Katholische Weltanschauung" gelehrt. Seine populären Vorlesungen und Seminare handelten auch von anderen Disziplinen, von Soziologie, Ökologie, Literatur, Malerei – und eben von der Philosophie. So entstand eine anschlussfähige, moderne Theologie. Dieser Modernität sieht sich auch der 1945 geborene Perone verpflichtet. Bei seiner jetzigen Antrittsvorlesung, einem "Loblied der Philosophie", verriet er seinem Publikum aus Diplomaten, Politikern, Professoren und Studierenden, auf wen er sich immer wieder bezieht: In Walter Benjamin verehrt er den Kritiker eines historizistischen Geschichtsbildes, Dietrich Bonhoeffer schätzt er als einen Denker, der die Fragen des Glaubens auf den Prüfstein des Heute stellt.

    Perone fühlt sich in Berlin zu Hause. Hier arbeitete er an der Universität, hier leitete er, von 2001 bis 2003, das italienische Kulturinstitut. Als er die Politik Berlusconis kritisierte, berief ihn die italienische Regierung ab. Nun also ist er zurück an der Spree. Von seinem Arbeitszimmer aus blickt er auf die Museumsinsel, während er über die Aufgaben des Philosophen spricht. Wer über die letzten Dinge nachdenke, komme am Leiden nicht vorbei.

    "Der Schmerz ist immer gegenwärtig. Der Schmerz – das Leiden nicht. Was abwesend ist – und das ist noch schlimmer – ist das Leiden. Die Freude ist mir immer gegenwärtig. Und das Glück ist abwesend. Wir haben zwei Elemente, die, sagen wir, das Absolutum sind – eben das Glück einerseits und das Leiden andererseits – die immer entweder in die Vergangenheit – das Leiden – oder Richtung Zukunft – das Glück – gehen. In diesem Sinne sind sie etwas, was wir nie beherrschen können und umgreifen können. Das nicht. Deswegen nenne ich sie abwesend."

    Schmerz und Freude sind für Perone Bruchstücke des Absoluten: Das Leiden an sich und das Glück an sich gehen über uns hinaus. Als Philosoph will Perone eine Sprache für diese elementaren Begebenheiten finden, eine Sprache, die es erlaubt, subjektive Erfahrungen miteinander zu teilen. Für ihn wäre eine Welt ohne Philosophie eine atomisierte Welt. Sinn, Wahrheit und das Gute gebe es nur, wenn man über sie diskutieren, wenn man ihr Wesen hinterfragen könne – und das auch jenseits der Sphäre des Glaubens. Religiöse Offenbarung und philosophische Erkenntnis sind eben verschiedene Formen der Wahrheit. Philosophie, glaubt Perone, ist immer auch Moral und Politik. Sie sucht nach dem Maß, das für alle gilt. Auch in einer säkularen Welt habe die Religion ihre Aufgabe:

    "Mir erscheint, die Möglichkeit, die Chance, die der Glaube immer noch hatte und frisch immer wieder noch hat, bestehen darin, dass der Glaube immer neue Ziele, neue Horizonte, die Differenz, die der Glaube an sich hält als Perspektive des Lebens, für die Menschen ankündigen kann. Und deswegen kann Europa wieder christlich werden. Nicht im Sinne von einem Christentum, von einer christlichen Gesellschaft, das ist, glaube ich, für immer vorbei. Aber gerade das Christentum hat an sich viele Elemente, die die Möglichkeit geben, alle anzusprechen. Und zwar in einer neuen Form."

    Der Bruch mit der Tradition ist vollzogen, ein Zurück gibt es nicht. Umso deutlicher müsse die Philosophie darum ringen, auch das Verdrängte und Vergessene gegenwärtig zu halten. Sie selber produziert keine Wahrheit, sondern sie findet sie – in dem, was außerhalb ihrer selbst liegt:

    "Die Religion ist eine der Formen, die außerhalb der Philosophie stehen, ohne Weiteres. Ich habe aber den Eindruck, dass es auch andere Formen gibt, die außerhalb der Philosophie bestehen. Und die auch einen ähnlichen Wert haben. Beispiel: nicht nur die Poesie, Kunst. Die Kunst hat ihre eigene Wahrheit, die außerhalb der Philosophie steht und der Philosophie zu denken gibt. Ich wäre bereit, sogar so weit zu gehen, dass es das Leben selbst ist. Das Leben ist viel größer als die Philosophie, enthält viel Wichtigeres als die Philosophie. Man hat Gefühle, man hat Formen der Großzügigkeit und der Liebe, die außerhalb der Philosophie entstanden sind und die eine eigene Rechtfertigung haben."