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"Meine Welt" erlaubt Einblicke in die Praxis

Die Mitarbeiter der Behindertenwerkstätten Drachensee in Kiel geben angehenden Sozialpädagogen an der Fachhochschule tiefe Einblicke in ihr Leben, in ihre Probleme und ihren tagtäglichen Kampf um Gleichberechtigung.

Von Tomma Schröder | 27.10.2009
    "Ich frage mich immer wieder, warum ist das so: nicht behinderte Menschen und behinderte Menschen. Obwohl ich mir selber die Frage auch beantworten kann. Nicht behinderte Menschen sind eben schneller, haben keine geistige Behinderung oder haben keine Spastiken."

    Christiane Reinke kämpft. Jedes Wort sucht sie sich in ihrem Kopf mühsam zusammen. Und trotzdem steht sie heute vor 19 Studenten der Fachhochschule Kiel. Denn sie will Einblicke geben in das Leben mit Behinderung. "Meine Welt" heißt das Seminar, das sie gemeinsam mit anderen behinderten Menschen gestaltet und das Teil des Praxissemester im Studiengang Sozialpädagogik ist.
    In einer hinteren Ecke des Seminarraums beobachtet Telse Erdmanski ein wenig stolz das Geschehen. Die Sozialpädagogin arbeitet für die Stiftung Drachensee, in deren Werkstätten Christiane Reinke und die anderen Seminarleiter sonst arbeiten.

    "Wir haben immer Studierende, die ihre Praxissemester bei uns machen. Und dann haben wir natürlich immer Studentengruppen eingeladen und die unterhalten sich sehr gerne mit den Mitarbeitern mit Werkstattvertrag. Und dann hatte ich die Idee: Warum nicht versuchen auch Menschen mit Behinderung, Mitarbeiter der Werkstatt an die Fachhochschule selber zu bringen?"

    Zunächst war die Idee, gemeinsam mit den Mitarbeitern der Werkstätten ein Seminar zu gestalten. Doch nach einigen Diskussionen waren sich die Sozialpädagogen der Werkstätten Drachensee einig: Sie wollen den ganz großen Schritt machen.

    "Dann wurde gesagt: Warum nicht selber eine Seminarleitungsaufgabe den Menschen mit Behinderung übertragen?"

    Und der Zuspruch vonseiten der Menschen mit Behinderung war groß. Seit Ende Februar treffen sich zwölf Mitarbeiter der Behindertenwerkstätten jede Woche, um das Seminar vorzubereiten. Ein Einsatz, der sich lohnt, wie die Reaktionen der Studenten zeigen.

    "Ich lerne für mich einfach, dass man sich sehr zurücknehmen kann bei der Arbeit mit Menschen mit Behinderung."

    "Also, etwas Besseres kann einem, glaube ich, nicht passieren in der FH, als ein Referat oder Referenten, die Ahnung haben."

    In der Gruppenarbeit und in den Vorträgen geht es diesmal um Ausbildung und Arbeit, um normale Schulen und integrative, um Berufsrealitäten und Berufswünsche:

    "Mein Wunsch war früher, "Friseurin" zu werden, was wegen meiner spastischen Lähmung irgendwie nicht möglich ist. Und Köchin und Bäckerin, das ist ganz gut – ja, und sonst – bin ich soweit fertig."

    Doch Christiane Reinke ist weder Friseuse noch Köchin oder Bäckerin geworden. Sie und ihre Kollegen führen den Studenten vor Augen, wie schwierig es für sie ist, ihre Berufswünsche auch nur annähernd umzusetzen – zumal außerhalb der Werkstätten.

    Doch der erste Arbeitsmarkt ist das Ziel. Dass und wie es erreichbar ist, zeigt Horst Alexander Finke. Der korrekt gekleidete Mann ist von den Werkstätten zum Systemhaus Telcat Multicom in Kiel gewechselt. Wenn er von Urlaubsanträgen, von vertrauensvollen Aufgaben, von Normalität, Alltag und Wertschätzung spricht, leuchten seine Augen:

    "Jeder ist gleich wichtig. Und das Klima ist von viel Wärme und selbstbewusster Wertschätzung geprägt. Jeder wird auch gleich ernst genommen. Und so wird einem auch das Gefühl gegeben, dass das Arbeiten Spaß macht."

    Christiane Reinke: "Und es gibt ja auch den Artikel 3 des Grundgesetzes. Und da darf kein Mensch nach seiner Behinderung bewertet werden – habe ich das richtig gesagt?"