Mittwoch, 24. April 2024

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Marcel

Der neue Stern am flämischen Literaturhimmel heißt Erwin Mortier, und der Stern leuchtet so stark, dass die linke der beiden großen Zeitungen in Flandern seinen Debütroman nun gratis als Beilage veröffentlicht hat. Während er dort reichbebildert mit privaten Fotos des Autors erschien, erhalten wir zunächst einmal den Text selbst, schlicht 'Marcel' genannt, ein Buch über flämische Kollaboration im Zweiten Weltkrieg, über Verschweigen, Erinnern und Vergessen. Hugo Claus hat das Thema bereits ausgebreitet, vor zwei Jahrzehnten in seinem Opus 'Der Kummer von Flandern', er hat es schonungslos ans Licht gezerrt. Der jüngere Mortier dagegen beschreibt, wie es in den sechziger, siebziger Jahren langsam zur Sprache kam, behutsam, verletzend, aber auch mitfühlend. Ein Junge wächst bei seinen Großeltern auf, sein Onkel Marcel ist im Krieg auf deutscher Seite an der Ostfront gefallen, noch lange danach ist er durch Fotos, Briefe und versteckte Andeutungen im Haus allgegenwärtig. Der Autor:

Volkmar Mühleis | 30.04.2001
    Den echten Marcel habe ich persönlich auch nicht kennengelernt. Allein durch Briefe und Fotos im Haus meiner Großmutter. Und die haben mich als Kind sehr fasziniert, weil Marcel als Einziger nicht mehr im Kreis unserer Familie war. Davon bin ich ausgegangen - nicht gerade postmodern, aber ich glaube auch nicht, dass alles erzählt ist und wir jetzt nur noch die Zitate neu mischen. Es geht mir gar nicht um Neues, der Frühling ist auch nicht neu - aber sehr real. Mir geht es um die Erfahrung.

    Als Erwin Mortier gefragt wurde, welches Tabu er im 21. Jahrhundert gern wieder einführen würde, meinte er: die Sünde, und schrieb dazu eine Erzählung, mit der er sehr erfolgreich durch Flandern tourte. Ist er etwa ein altmodischer Romantiker? Nein. Er geht entwaffnend offen von sich aus, und das mit einer Art zu schreiben, die leicht und feinsinnig ist. Belgien ist noch immer sehr katholisch und angesichts rechtsradikaler Wahlerfolge in Flandern bleibt die eigene Vergangenheit auf der Tagesordnung. Diese Ordnung will der Junge in dem Roman für sich persönlich verändern:

    Das Wichtigste an dem Roman ist nicht: was ist tatsächlich damals passiert, sondern die Scham, das Verhüllen und die ganzen unausgegorenen Gefühle bei dem späteren Umgang damit. Für den Jungen ist die Sprache schließlich ein Mittel, die belastete Vergangenheit einzugrenzen, sie symbolisch zu begraben und sich davon zu befreien.

    Marcel ist ein reiches Buch an Zwischentönen, die sich in die Unscheinbarkeit des Dorfes und der Familie mischen. Die unausgegorenen Gefühle werden spürbar und leben als Missverständnisse fort: Der Junge hört etwas von einem deutschen 'Überscharführer' - doch außer im flämischen Missverständnis der deutschen Sprache, hat es nie einen 'Überscharführer' gegeben. Das Bild der Vergangenheit hat immer weniger mit ihrer Wirklichkeit zu tun. Der Junge ahnt, wie es sich verselbständigt. Und dieser Richtung kann er nicht folgen, will er zu sich selbst kommen und kein Anhängsel der Geschichte anderer werden. Erwin Mortier erzählt mir ruhigem Pulsschlag von dieser Selbstfindung - und zeigt, wieviel Leben darin steckt.