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Menschenrechtslage in Nicaragua
Den Widerstand zermürben

Hunderte Menschen wurden bei gewalttätigen Auseinandersetzungen seit April in Nicaragua getötet. Präsident Ortega hat die Proteste inzwischen verboten. Willkürliche Festnahmen und Einschüchterungen gehören weiterhin zum Alltag. Über Neuwahlen will die Regierung nicht verhandeln.

Von Burkhard Birke | 27.10.2018
    Polizisten verhaften eine Frau bei einer Demonstration gegen die Regierung
    Demonstration gegen die Regierung Ortega: Polizisten nehmen eine Frau fest (dpa / Carlos Herrera)
    Jeder kennt ihn in Managua. Turnhose, Hemd und Laufschuhe sind blau-weiß in den Nationalfarben. Mit einem Transparent in der Hand rennt der 61-jährige Alex Vanegas durch die Straßen Managuas. Mindestens 30 Kilometer legt der "Marathonmann", wie ihn die Nicaraguaner getauft haben, am Tag zurück.
    "Ich laufe für Gerechtigkeit und ich laufe, damit Daniel (Ortega) wegläuft - das ist ein Wortspiel und es beleidigt die sehr. Man hat versucht mich fertigzumachen. Vier Mal war ich schon im Gefängnis und bin zwei oder drei Mal festgenommen worden."
    Jetzt sitzt der Marathonmann wohl zum fünften Mal ein: Kurz nach dem Interview ist er jedenfalls spurlos verschwunden. Insgesamt wurden nach Angaben des oppositionellen Bündnisses Alianza Pacifica 568 Personen im Nachgang zu den Protesten inhaftiert, teils gefoltert und vergewaltigt. Die Zahl der Todesopfer liegt nach Regierungsangaben bei rund 200, Menschenrechtsorganisationen sprechen von mehr als 500. Willkürliche Festnahmen und Einschüchterungen gehören zum traurigen Alltag in Nicaragua, seit die Regierung vor einigen Monaten die Barrikaden der Demonstranten gewaltsam räumen ließ, um die Ordnung nach den durch die Rentenreform aufgeflammten Proteste wiederherzustellen.
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    Der „Marathonmann“ Alex Vanegass läuft für Gerechtigkeit (Deutschlandradio / Burkhard Birke)
    Von einem Klima der Angst spricht die Menschenrechtlerin Sofia Macher aus Peru, die gemeinsam mit drei weiteren unabhängigen Experten im Auftrag der Organisation Amerikanischer Staaten, des Internationalen Menschenrechtsrates und der nicaraguanischen Regierung die Vorfälle der Anfangsphase der Proteste zwischen dem 18. April und 30. Mai untersucht.
    "Die Opfer trauen sich nicht, uns anzusprechen, aus Angst sie könnten von der Polizei oder den sandinistischen Jugendgruppen gesehen werden, die sie einschüchtern."
    Trotz offiziellen Mandats kooperiere die nicaraguanische Regierung nicht, klagt Sofia Macher.
    "Es gibt auch kein Vertrauen in die Justiz. Deshalb fordern wir eine unabhängige, von der Gesellschaft legitimierte Staatsanwaltschaft."
    Regierung spricht von Staatsstreich
    Schwer vorzustellen, dass die Regierung dem Wunsch nachgibt. Sie sieht sich im Recht, spricht von Staatsstreich. Die Studenten und anderen Demonstranten seien von der Oligarchie, der katholischen Kirche und den USA gesteuert.
    "Eine kleine radikalisierte Gruppe bestehend aus teils militärisch ausgebildeten Politikern und einigen Leuten, die den Krieg in den 80er-Jahren aufseiten der Contra mitgemacht haben, hat im Nichtregierungsbereich Leute organisiert und bewaffnet." Behauptet Vizeaußenminister Valdrack Jaentschke. Für ihn ist klar: Diese Regierung ist bis 2021 gewählt. Es gebe keinen Grund, der Forderung der Alianza Civica – eines breiten Oppositionsbündnisses aus verschiedensten Sektoren der Gesellschaft nach vorgezogenen Neuwahlen nachzugeben.
    Valdrack Jaentschke, stellvertretender Außenminister von Nicaragua
    Valdrack Jaentschke, stellvertretender Außenminister von Nicaragua (Burkhard Birke)
    "Die Wahlen waren nicht legitim, denn hat kein Recht auf Wiederwahl – diese wurde nur aufgrund einer fragwürdigen Gerichtsentscheidung möglich, die das Recht auf Wiederwahl zum Menschenrecht erklärte – ein Menschenrecht, das es so nicht gibt. Außerdem lag die Enthaltung bei mindestens 70 Prozent. Ortega hat also eine illegitime Wahl gewonnen und seine Legitimität in der Regierung durch die gewaltsame Repression verloren."
    Argumentiert indes Carlos Tünnermann. Der 85-jährige ehemalige Erziehungsminister und Botschafter Nicaraguas in Washington unter Präsident Ortega in den Achtzigerjahren hat die Opposition im nationalen Dialog vertreten. Die Regierung hat diesen Dialog abgebrochen, weil sie nicht über Neuwahlen verhandeln will.
    Polizisten in Nicaragua
    Festnahmen und Einschüchterungen gehören zum traurigen Alltag (Deutschlandradio / Burkhard Birke)
    "Repression ist der falsche Weg", sagt Carlos Tünnermann, "mehr Repression führt nur zu weiteren Protesten und Widerstand und entzieht der Regierung ihre Legitimität. Der richtige Weg ist sich an den Verhandlungstisch zu setzen und die Bedingungen für Neuwahlen festzulegen."
    Dazu wird es nie kommen, glaubt der Ex-Contra-Kämpfer und heutige Ortega-Anhänger Moises Absalon Pastora, der auch als Fernsehjournalist die Fahne der Sandinisten hochhält.
    "Sein ganzes Leben hat Ortega, der einfache Abiturient, über den sie sich lustig machen, Politik gemacht, schwierige Situationen gemeistert. Er ist ein Fuchs und hat sie besiegt. Sechs Monate sind verstrichen seit sie sagten, er würde in einer Woche gehen. Da haben sie sich getäuscht."
    Die Taktik ist klar: Der Widerstand soll zermürbt werden – etwa indem man Störenfriede wie den Marathonmann immer wieder hinter Gitter bringt. Die Frage ist: Wer sitzt am Ende am längeren Hebel?