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#metoo: Missbrauch im US-Sport
Goldmedaillen und Geld waren wichtiger

Die Vorwürfe von sexuellem Missbrauch, die unter #metoo auf Twitter gesammelt werden, ziehen auch im Sport inzwischen weite Kreise. In den USA richten sich die Klagen der Opfer nicht mehr nur gegen die Täter, sondern auch gegen verantwortliche Funktionäre.

Von Jürgen Kalwa | 21.10.2017
    US-Turnerin Alexandra Raisman bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio auf dem Schwebebalken
    #metoo: Unter anderem im US-Turnsport gab und gibt es immer wieder Fälle sexuellen Missbrauchs. (Imago)
    Jedes Mal, wenn ein neuer Fall bekannt wird, reagiert die Öffentlichkeit mit einer Mischung aus Schock und Entsetzen. Denn die Opfer sind in den meisten Fällen jung und wehrlos.
    "He did touch my breasts underneath my t-shirt. He said there is a procedure or a way to get my hips back into alignment, when he would put his fingers into me, vaginally."
    Die US-amerikanische Turnerin Jamie Dantzscher war 13 Jahre alt, als sie sich ihrer eigenen Aussage nach dem Verbandsarzt ausgeliefert sah, der unter dem Vorwand einer Behandlung ihrer Hüfte seine Finger in ihre Vagina gesteckt habe. Der Osteopath, heute 53 Jahre alt, Vater von drei Kindern, hat vermutlich im Laufe von über zehn Jahren mehr als hundert Mädchen auf diese Weise sexuell missbraucht, ehe im letzten Jahr endlich das FBI eingeschaltet wurde.
    Hier ist er, Dr. Larry Nassar, in einem seiner zahllosen harmlosen Videos auf YouTube, in denen er die reguläre Therapietätigkeit demonstrierte: "Hello and welcome to gymnasticsdoctor.com..."
    Jüngstes Beispiel: Turnerin McKayla Maroney
    Das jüngste Beispiel: die Aussage der Olympiasiegerin von 2012, McKayla Maroney. Sie beschuldigte Nassar erstmals am Mittwoch, sie wiederholt sexuell belästigt zu haben. Als es begann, war sie 13.
    Dass junge Sportlerinnen ihre Missbrauchserfahrungen öffentlich machen und in einigen Fällen vor Gericht gehen, passiert in Amerika in Wellen. Vor ein paar Jahren zum Beispiel kamen die Enthüllungen hauptsächlich aus dem Schwimmsport. Gepaart mit dem Verdacht, dass die verantwortlichen Funktionäre vermutlich eine beträchtliche Mitschuld tragen. Denn sie gehen gerne mit solch heiklen Vorwürfen achtlos um oder legen sie in dicken Aktenordnern einfach nur ab. Erst wenn die Medien aufmerksam werden, entsteht Bewegung.
    So wie zur Zeit, nachdem die Berichterstattung über die Übergriffe des namhaften Hollywood-Produzenten Harvey Weinstein eine Flut von Erinnerungen auslöste, die in den sozialen Medien inzwischen weltweit unter dem Hashtag "MeToo" laufen: "Ich auch".
    Washingtoner Politikerinnen sprachen den Frauen ihre Solidarität aus. Senatorin Elizabeth Warren lobte den "unglaublichen Mut": "The first women who started the MeToo campaign were incredible brave. And they inspired he next wave. And in turn they inspired the next wave and the next wave."
    Für einige war die Aktion Anlass, ganz konkrete Details und Namen zu publizieren. Wie Tetjana Guzu aus der Ukraine, die heute im amerikanischen Bundesstaat Michigan eine Nachwuchsakademie betreibt. Tatort: Die Mannschaftsunterkunft bei einem Turn-Meeting in Stuttgart 1991. Die Beschuldigung – nach deutschem Recht inzwischen verjährt: Vergewaltigung. Der Mann, der die Tat begangen haben soll: Ihr weißrussischer Turnerkollege Witali Scherbo. Guzu, die 1992 bei den Spielen in Barcelona den Einzelmehrkampf und den Mannschaftswettkampf gewann, nannte sogar Zeugen. Doch wenigstens eine von ihnen, die Russin Tatjana Toropowa bestritt, dass sie irgendetwas gesehen oder gehört hatte.
    "Vergiftetes Milieu": Einschüchterung und Angst
    In der Liveübertragung aus Stuttgart bewunderte das Kommentatorenteam des deutschen Fernsehens die Leistung der damals 15-jährigen: "Jetzt gucken wir uns aber die Übung von Tetjana Guzu an… ein sehr toller Abgang, der sehr sehr selten geturnt wird: Doppelsalto gestreckt."
    Scherbo hat sich noch nicht geäußert. 2010 sagte er in einem Interview mit der Zeitung Komsomolskaja Prawda: "Ich bin es gewohnt, von Frauen, das zu bekommen, was ich will." Scherbos Mutter verteidigte ihn jetzt. Und zwar mit der typischen Argumentationslinie, mit der Opfer zu kämpfen haben, die nicht gleich den Mund aufmachen: "Warum hat sie solange damit gewartet? Warum hat sie das nicht sofort erzählt? Jetzt ist es eine Sensation und hat den gewünschten Effekt", sagte Scherbos Mutter über die Aussagen der Turnerin Guzu.
    Dieser Vorwurf klingt berechtigt, geht aber an der Realität vorbei. Was eine Zivilklage gegen das Ehepaar Karolyi zeigt, das nach dem Weggang aus Rumänien, wo sie Nadia Comaneci zum großen Star gemacht hatten, in Texas jenes Leistungszentrum aufbauten, das die amerikanischen Turnerinnen an die Weltspitze brachte.
    Eine in den Gerichtsakten anonymisierte Turnerin beschuldigte in dem noch anhängigen Fall die Karolyis, dass sie wegschauten, als der beschuldigte Verbandsarzt sich unter anderem auch in ihren Räumlichkeiten an den Mädchen sexuell verging. In einem "vergifteten Milieu" voller "Einschüchterung und Angst", in dem der Nachwuchs eingetrichtert bekommt, dass es besser ist, alles klaglos hinzunehmen, anstatt sich gegen Autoritätsfiguren zur Wehr zu setzen.
    Beachtliche Zahl an Opfern
    Eine Konsequenz hatten die vielen Missbrauchsenthüllungen. Turn-Präsident Steve Penny trat im März von seinem Amt zurück. Nachvollziehbar, sagt der kalifornische Rechtsanwalt John Manly, der zahllose Frauen in ihren Klagen gegen den Verband vertritt, der mit enormen Schadenersatzforderungen rechnen muss. Denn die Zahl der Opfer dürfte beachtlich sein:
    "Wir wissen von wenigstens 60, die sich gemeldet haben. Aber ich schätze, es sind mehr als hundert Betroffene. Die eigentliche Geschichte hier ist: Niemand hat darauf geachtet, diese Mädchen zu schützen. Goldmedaillen und Geld waren wichtiger."
    Eine Situation, die sich vermutlich auch nicht ändern wird. Schon vor einiger Zeit hatte das Nationale Olympische Komitee der USA angekündigt, den Problemen mit einer speziellen und unabhängigen Missbrauchsagentur nach dem Vorbild von Anti-Doping-Agenturen entgegenzutreten. Als die benötigten Millionen dafür nicht zusammenkamen, wurde die Idee in aller Stille beerdigt.