Freitag, 19. April 2024

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Milieu und Militärdiktatur

Dirk Alvermann ist als Fotograf ein Frühvollendeter gewesen. 1957 – mit gerade 20 Jahren – zog es ihn nach Algerien, um den Unabhängigkeitskampf von der französischen Kolonialmacht zu dokumentieren. "Klein Paris", der Düsseldorf-Fotoband von Dirk Alvermann, entstand zwischen 1956, als Alvermann 18 Jahre alt war.

Vorgestellt von Klaus Englert | 23.05.2012
    1951 – nur sechs Jahre nach den Verwüstungen des Weltkrieges – wollte man in Düsseldorf von der schrecklichen Vergangenheit nichts mehr wissen. Und so kam es, dass der Regisseur Alfred Weidenmann – der noch wenige Jahre zuvor für Reichsjugendführer Baldur von Schirach tätig war – einen Werbefilm über das keimende Wirtschaftswunder in der Landeshauptsstadt drehte. Auf der Königsallee waren die qualmenden Ruinen verschwunden. Die Düsseldorfer vergnügten sich auf den Caféterrassen, die Frauen flanierten in leichten, modischen Sommerkleidern und musterten die neuesten Schaufensterauslagen. Die "Kö" verwandelte sich in einen Laufsteg der Eitelkeiten. Keine 500 Meter entfernt, inmitten des Ehrenhofes und flankiert von den Musentempeln, begann zur gleichen Zeit Düsseldorfs erste Nachkriegs-Modenschau:

    "Düsseldorf ist die Stadt der großen Ausstellungstradition – und irgendwas ist hier immer los. Kaum eine Woche ohne Kongreß und Damen. ( ... ) Eine Schönheitskonkurrenz? Nein, das ist eine Bademodenshow" ("Notizen am Rande", 3/16:45).

    Der Geist des Wirtschaftswunders war geboren. 1953, wiederum am Ehrenhof, feierte sich Düsseldorf mit der Ausstellung "Alle sollen besser leben." Damals gab es nur wenige, die sich noch an die Zeit der Entbehrungen erinnern wollten. Zu diesen Wenigen gehörte zweifellos der junge Fotograf Dirk Alvermann, der mit seiner gerade erworbenen Leica M 3 nicht nur die Flaneure auf der Kö, sondern auch die Ruinen, die Bettler und die Vergessenen ablichtete. Alvermann begann seine fotografische Stadterkundung, als die Spuren der braunen Vergangenheit noch höchst lebendig, aber viele Hausfassaden bereits proper herausgeputzt waren. Eine doppelseitige, undatierte Aufnahme zeigt ein restauriertes Gründerzeit-Gebäude neben einem neu errichteten Wohnhaus. Daneben wirbt ein Plakat für die "Große Wohnzimmer-Sonderschau". Im Vordergrund vergnügt sich eine kleine Gruppe adrett gekleideter Mädchen. Doch in der Bildmitte ragt düster ein mächtiger Betonturm hervor, der sich als Lüftungsschacht eines Bunkers herausstellt. Die verblichenen Schriftzüge sind noch lesbar: "Männer im Alter von 16-70 Jahren gehören in den Einsatz und nicht in den Bunker."

    Düsseldorf befindet sich inmitten des Umbruchs. Bauruinen durchziehen wie klaffende Wunden die betriebsame Landeshauptstadt. Inmitten der Ruinenlandschaft künden bereits Plakatwände der CDU, die für eine Gesellschaft ohne Experimente werben, von einer neuen Zeit. Dirk Alvermann liebt diese Kontraste.

    Während wohlsituierte Herren mit feinstem Stoff und Damen mit edlem Pelzkragen über die Kö promenieren, vergisst der Fotograf keineswegs die miserablen Wohnbedingungen in den Altbauten. Den Schimmelbefall und die düsteren Hinterhof-Wohnungen.
    Dirk Alvermann ist ebenso wie Chargesheimer, der Kölns "Unter den Krahnenbäumen" unsterblich machte, ein Fotograf des Milieus. Beide lieben das quirlige Leben auf der Straße. Die legendären Düsseldorfer Radschläger durchziehen wie ein Leitmotiv Alvermanns Fotoband. Dazu gesellen sich raufende Jungs, und – nicht zu vergessen – Karnevalsjecken in zahllosen Kostümierungen. Auch ein neues Lebensgefühl kündigt sich an.

    Alvermann taucht hinab in die schummrigen, verrauchten Jazzkeller der Altstadt, wo die Jugend, fernab der grassierenden Wohlstandsversprechungen, schwarze Musik aus dem fernen Amerika begierig aufsaugt. Der Ex-Düsseldorfer war bereits ein Frühvollendeter, als der wesentlich ältere Chargesheimer gerade seine Karriere begann. Jedenfalls hatte Avermann schon ein untrügliches Gefühl dafür, Motive dramaturgisch ins Bild zu setzen. Undramatische Straßenszenen versetzt er ausdrucksstark in extremes Hochformat. Klassische Reportermotive wie den Staatsempfang der griechischen Königin verfremdet er durch radikale Aufsicht. Während das erste Foto des Bandes einen Bettler in einer Fußgängerpassage zeigt, weist die letzte Aufnahme in die ungewisse Zukunft. Die Kamera folgt von hinten dem Blick zweier Jungen, die entlang einer gepflasterten Straße gebannt zum offenen Horizont schauen. Man spürt bereits: Die Enge der Adenauer-Republik neigt sich ihrem Ende entgegen.

    "Klein Paris" liest sich rückblickend wie das zukunftsfrohe Gegenstück zu einer anderen Fotodokumentation, für die sich Dirk Alvermann 1957, mit gerade 20 Jahren, nach Algerien aufmachte. Von Tunesien aus überwand er damals mit algerischen Freiheitskämpfern die hermetisch abgeriegelte Grenze und gelangte ins ostalgerische Kriegsgebiet. Dort glückten Alvermann, der zuvor keine fotografische Ausbildung absolviert hatte, eindrucksvolle Aufnahmen von einer Welt, die von den westeuropäischen Wohlstandszivilisationen abgeschirmt war. Er dokumentierte, wie die Algerier das Leben unter der französischen Kolonialmacht ertrugen, wie sich eine entschlossene und bewaffnete Widerstandsbewegung bildete und wie die Kolonialherren weiterhin ihrem privilegierten Lebensstil nachgingen.

    "Algerien" – so der lakonische Titel des Fotobandes ist eine fotografische Parteinahme für den Befreiungskampf.

    Auch die algerische Sängerin Warda Eldjazairia – kurz: Warda - stritt Ende der 50er-Jahre für die Freiheitskämpfer der FLN, denen sie die Erlöse aus ihren Pariser Konzerten überließ. Dirk Alvermann ließ sich damals von einer internationalen Solidaritätskampagne tragen, die 1961 in der Publikation von Frantz Fanons "Die Verdammten dieser Erde" gipfelte. Fanon, der in Frankreich Medizin studierte und in Algerien Leiter einer psychiatrischen Klinik war, wurde schließlich Botschafter der provisorischen algerischen Regierung in Accra. Das im Pariser Verlag Maspero und später bei Rowohlt editierte Buch kam mit zwei Umschlagfotos heraus, die dem "Algerien"-Band von Dirk Alvermann entnommen waren. Das Titelfoto zeigt – sprichwörtlich – die "Verdammten dieser Erde" auf algerischem Boden, das Foto auf der Rückseite zwei bewaffnete Kämpfer der FLN. Für Fanons Buch, das seinerzeit als "kommunistisches Manifest der antikolonialen Revolution" galt, schrieb Jean-Paul Sartre ein berühmtes Vorwort. Der Pariser Philosoph zerpflückte den westeuropäischen Humanismus, der nichts anderes sei als "eine verlogene Ideologie, die ausgeklügelte Rechtfertigung der [kolonialistischen] Plünderung":

    "Das mit Reichtümern gemästete Europa billigte allen seinen Einwohnern de jure den Status von Menschen zu. Ein Mensch, das heißt bei uns: ein Komplize, weil wir alle von der kolonialen Ausbeutung profitiert haben. ( ... ) Nichts ist bei uns konsequenter als rassistischer Humanismus, weil der Europäer nur dadurch sich zum Menschen hat machen können, dass er Sklaven und Monstren hervorbrachte." (Die Verdammten dieser Erde, S. 20-21).

    Ein Jahr vor Frantz Fanons "Die Verdammten dieser Erde" erschien Dirk Alvermanns "Algerien" im Ost-Berliner Verlag Rütten & Loening. Nach dem Mauerbau im August 1961 wäre das sicher nicht mehr möglich gewesen. Jetzt – über 50 Jahre nach der Erstveröffentlichung – ist das Buch im Steidl-Verlag neu aufgelegt worden, und man spürt bereits bei der Lektüre der "Editorischen Notiz" den erbarmungslosen Kalten Krieg, der die Publikationsgeschichte von "Algerien" maßgeblich beeinflusste. So erfährt man, dass Heinrich Maria Ledig-Rowohlt, der das Buch zunächst editieren wollte, plötzlich kalte Füße bekam, nachdem zahlreiche Vertreter der Widerstandsbewegung von La Main Rouge, der Terrorgruppe des französischen Geheimdienstes, getötet worden waren. Rowohlt schreckte davor zurück, Adenauers Politik der Westannäherung aufs Spiel zu setzen. Dieses Risiko brauchte Dirk Alvermann nicht zu fürchten, als er sein Buchprojekt schließlich dem Ost-Berliner Verlag vorlegte. Der ging sogar auf Alvermanns Wunsch ein, eine für jedermann erschwingliche Taschenbuch-Ausgabe zu publizieren. An diesem Vorbild orientierte sich jetzt auch der Steidl-Verlag. In dem Buch findet sich eine Einlage, die eine Chronik der DDR-Rezeption präsentiert. Alvermanns "Algerien" muss damals in den Schlammschlachten des Klassenkampfes ein willkommenes Instrument für die ostdeutsche Propaganda gewesen sein. So mokierte sich der Rezensent des SED-Parteiorgans "Neues Deutschland":

    "Alvermanns Buch fand im Westzonenstaat, der mit dem französischen Kolonialismus gemeinsame Sache macht, keinen Verleger."

    Dirk Alvermann brandmarkte in einer kurzen Einleitung unmissverständlich den französischen Kolonialismus, der über 130 Jahre hinweg die algerische Bevölkerung geknechtet hatte. Geknechtet durch Enteignung der eigenen Sprache und des Bodens, schließlich durch eine 800.000 Mann starke Besatzungsarmee. Alvermanns Fotos demaskieren das Leid der algerischen Frauen und Kinder, ohne ihnen die Würde zu nehmen. In ihnen sieht der heutige Leser die Protagonisten des Bandes. Das war vor 50 Jahren noch anders, als die bewaffneten Widerstandskämpfer auf Titel- und Rückseite der DDR-Ausgabe prangten.

    Der Steidl-Verlag hat sich nun, im Austausch mit dem in Brandenburg lebenden Dirk Alvermann, entschieden, das den Fotos anhaftende Bürgerkriegspathos auf Vorder- und Rückseite des Einbandes zurückzunehmen. Vielleicht achten wir heute mehr auf die fotoästhetische Kompositionsmethode: Wie in einem literarischen Text nimmt Alvermann bestimmte Elemente aus dem Zusammenhang, vergrößert und konfrontiert sie mit anderen Situationen. Dabei kann es vorkommen, dass ein französischer Militär im Kreis seiner Soldaten, plötzlich isoliert und mit den Bildern algerischer Kinder montiert wird. Dieses Verfahren ermuntert dazu, die Bilder immer wieder neu zu arrangieren und immer wieder neu zu lesen. Alvermann erprobt diese Methode mit einem schnauzbärtigen Kolonialherrn, der auf offener Straße wild gestikulierend parliert. Bereits am Anfang des Buches begegnet einem dieser Kolonialherr, in extremer Ausschnittsvergrößerung, mit offener linker Handfläche und Zigarette. Kontrastiert wird das Foto mit einem stark hochformatigen Bildausschnitt, der eine sich öffnende Handfläche sichtbar macht. Beim Umblättern der Seite wird deutlich, dass diese Hand einem kleinen algerischen Jungen gehört, der gerade mit seinen Händen gestikuliert.

    Es sind diese Fotos, die jedes Widerstandpathos abstreifen. Und die zum entdeckenden Sehen animieren. Sie machen Details und Gesten sichtbar, die vom Pathos bisweilen verdeckt werden.
    Dirk Alvermann: "Klein Paris". Steidl Verlag, Göttingen 2011, 110 S., 28,00 Euro.

    Dirk Alvermann: "Algerien". Steidl Verlag, Göttingen 2012, 16,00 Euro.
    Französische Fremdenlegionäre in Algerien, 1960
    Französische Fremdenlegionäre in Algerien, 1960 (AP Archiv)