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Milo Rau: "General Assembly"
Inszenierung des Authentischen

Mit seinem simulierten "Weltparlament" hat der Schweizer Theatermacher Milo Rau eine anspruchsvolle Fiktion geschaffen. Im Stück "General Assembly" an der Berliner Schaubühne diskutieren 60 Abgeordnete, darunter echte Politiker und Aktivisten, über den Weltmarkt und das Völkerrecht.

Von Arno Orzessek | 05.11.2017
    Szene aus dem Stück "General Assembly" von Milo Rau in der Schaubühne in Berlin.
    Szene aus dem Stück "General Assembly" von Milo Rau in der Schaubühne in Berlin. Einige Abgeordnete des "Weltparlaments" sind echte Politiker. (DANIEL SEIFFERT)
    "Die Utopie sagt, das Weltparlament kann alles."
    Sagte die Tierschützerin Friederike Schmitz.
    Die Realität aber entgegnet: Das Weltparlament kann gar nichts, weil es keines gibt.
    Deshalb hat Milo Rau ein großes Als-Ob inszeniert, die anspruchsvolle Fiktion eines solchen Parlaments mit Dutzenden Abgeordneten, ernster Geschäftsordnung und Beschlüssen von globalem Geltungsanspruch zu Krieg, Wirtschaft, Migration, Umwelt und Kultur, wenn auch ohne Geltung.
    Die Stippvisitantin Katja Kipping, Parteichefin der Linken, fixierte die leitende Idee.
    "Jede Maßnahme, jeder Zustand ist daraufhin zu prüfen, was diese mit den Menschen anderer Regionen, mit anderen sozialen Gruppen machen. Denn es gibt kein Außen mehr, auf das wir die Folgen unseres Handelns abwälzen können."
    Um Gedanken von weltbürgerlicher Komplexität darzulegen, sind fünf Minuten Redezeit pro Problem nicht üppig, aber die junge Khadja Bedati, Aktivistin für die unterdrückten Sahrauis in Nordwestafrika, kam zum Punkt:
    "Meine Forderungen an das Weltparlament sind: Sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen in den besetzten Gebieten der Westsahara; die EU sollte den Druck auf Marokko erhöhen, um eine Umsetzung des UN-Friedensplan sowie die geplanten Volksabstimmungen über die Zukunft der Westsahara durchzusetzen."
    Warnung vor zu viel Euphorie
    Wäre das Weltparlament also die transnationale Institution, von der man erwarten kann, was andere transnationale Institutionen nicht leisten?
    Der Menschenrechtsanwalt Wolfgang Kaleck warnte vor zu viel Euphorie.
    "Es geht um Macht und nicht um den naiven idealistischen Glauben daran, dass eine neue Instanz diese Probleme der Welt lösen soll."
    Doch konkrete Strategien für die politisch-institutionelle Umsetzung zu entwickeln, war nicht die Stärke von Raus "Weltparlament". Weit eher der schmerzhafte Nachweis der skandalösen Verfasstheit der Welt.
    Die südafrikanische Bürgerrechtlerin Thumeka Magwangqana erinnerte an das ungesühnte Marinaka-Massaker, bei dem Polizisten vor fünf Jahren 34 Minen-Arbeiter erschossen haben.
    Wo das bessere Leben für alle sei, fragte sie. Demokratie sei wohl nur für die Hälfte da, nicht für alle. Ganz Südafrika sei durch Marinaka verwundet. Magwangqana forderte Gerechtigkeit.
    Ein rührender Moment – aber kein gekünstelter! Die Parlamentarier selbst spielten nie Theater, sie gingen ganz im Als-ob ihrer weltpolitischen Relevanz auf. Und in dieser Inszenierung des Authentischen liegt die Kunst des Theatermachers Milo Rau.
    Dass das Parlament kein öder Schmusekurs von Wohlgesinnten wurde, dafür hatte Rau durch die - natürlich undemokratische - Auswahl der Abgeordneten gesorgt.
    "Es gibt Gründe dafür, warum wir unter den Delegierten keinen deutschen Nazi sehen. Meine Frage an Sie lautet: Warum sehen wir einen türkischen?"
    Griff der schwedische Blogger Aral Balkan den AKP-Unterstützer und Erdogan-Verteidiger Tugrul Selmanoglu an – der sich brüsk wehrte.
    "Was ist das für ein Demokratie-Verständnis, wenn Sie nicht einmal mit jemandem, der anders wie Sie denkt, die Bühne teilen möchten? Ich erkenne an Ihrem Einspruch zu meiner Anwesenheit, dass sie eigentlich selber kein Demokrat sind."
    Engel der Geschichte und Utopie
    Dem berühmten Engel der Geschichte, der nach Walter Benjamin immer nur die Zunahme von Katastrophen sieht, will der pathetisch-selbstbewusste Milo Rau per "Weltparlament" einen "Engel der Utopie" zugesellen – gern auch mittels Revolution.
    Wobei wichtige Fragen bezüglich es kommenden Parlaments ungeklärt sind – das sah auch Katja Kipping so:
    "Wer entscheidet, wer an solchen Versammlungen teilnimmt? Was tun, wenn das Weltparlament wirklich etwas zu entscheiden hat? Wie verhindern, dass sich dann nicht diejenigen, die sich Lobby leisten können, wieder einkaufen?"
    Sah man an der Schaubühne die politische Zukunft der Menschheit aufblitzen - oder nur die improvisierte Ausgestaltung einer schönen Idee im Bonsai-Format? Milo Rau würde sagen: Wir müssen es halt in die Hand nehmen.
    Und wünschenswert wäre es ja schon, wenn die ganze Sache auf Freiheit und Glück für alle hinausliefe - wie die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guèrot mit dem großen Weltweisen Buddha formulierte.
    "May all beings be happy and free."