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Moderne Kunst als Krake

Franco Miracco war Jahre lang Kulturpolitiker in Venedig. Er ist gegen den "Run" auf das Riesenbusiness im Kulturbereich. 20 Millionen Besucher zählt Venedig jedes Jahr. Den Venezianern wachsen die Touristenmassen über den Kopf, da sich die Kunst-Biennale auf die ganze Stadt ausdehnt.

Von Thomas Migge | 12.07.2013
    "Klar, dass das alles das Interesse der Regionalverwaltung findet. Es ist ja inzwischen so, dass immer dann, wenn großes Spektakel angesagt ist, mit dem man so richtig Geld machen kann, Venedig ganz vorn ist. Venedig ist zu einer Event-Metropole geworden"

    Franco Miracco war Jahre lang Kulturpolitiker in Venedig. Jetzt ist er Kulturassessor in Triest. In der aktuellen Ausgabe der Kunstzeitschrift "Giornale dell’Arte" kritisierte er scharf den, wie er es nennt, "Run" auf das Riesenbusiness im Kulturbereich. Die historische Stadt Venedig, so seine Klage, sei ein Mittel zum Zweck geworden. Es drehe sich alles nur noch um big business:

    "Die zukünftigen Projekte für Venedig sehen weitere Mega-Veranstaltungen und neue Museen vor, die immer mehr Menschen anziehen sollen. Was hat das alles für einen Sinn in einer Stadt, die ohnehin schon im Tourismus zu ersticken droht? Hier sollte man einige Dinge im touristischen und vor allem im ökonomischen Bereich mal gründlich überdenken"

    Was aber, und da ist sich Kulturpolitiker Miracco sicher, nicht geschehen wird. Dass die politischen Verantwortlichen und viele Kulturmacher - regional, städtisch und privat - in der Lagunenstadt primäre eine Geldmaschine sehen, das denken auch immer mehr Venezianer:

    "In Venedig zu leben kostet im Durchschnitt 15 Prozent mehr als beispielsweise in Parma zu wohnen. Klar, es gibt nur Wasserstraßen, das macht alles teurer, doch die Lebensqualität nimmt mit dem zunehmenden Tourismus ab. Pro Tag wird die Stadt von rund 60 Tausend Touristen besucht. Dazu kommen die Besucher von Großveranstaltungen wie der Kunstbiennale! Wir müssen im Jahr mit 20 Millionen Besuchern leben!"
    schimpft Claudio Trentini, Besitzer einer Galerie für barocke Malerei in der Nähe der Rialtobrücke. Er und zahlreiche andere Galeristen fordern seit einiger Zeit ein Eintrittsticket für Venedig – um, wie er sagt, "auf diese Weise den Weizen von der Spreu zu trennen". Venedig, so seine eindeutigen Worte, müsse mehr auf "Qualitätstourismus" setzen und weniger auf Touristenmassen, die doch nur, Zitat, "zum Glotzen kommen".

    An Kunst hat Venedig auch ohne die derzeit stattfindende 55. Biennale für zeitgenössische Kunst und die beiden Museen des französischen Mäzens Francois Pinault viel und einmaliges zu bieten: aus Mittelalter, Renaissance und Barock. Doch keine andere Stadt Italiens zieht so viele und so hohe Investitionen in zeitgenössische Kunst an. Francois Pinault ist mit seinem Palazzo Grassi und der Dogana, wo er Werke seiner immensen Sammlung zeigt, nur der augenfälligste Kultur-Investor in Venedig. Auch die Kunstbiennale, die anscheinend nicht an finanziellen Problemen leidet, expandiert. Die "Giardini" sind der Biennaledirektion längst zu eng geworden.

    Wie hier in der Nähe des Markusplatzes finden sich auf dem gesamten Stadtgebiet Kunst-Installationen – organisiert von der Biennale oder von Galerien. Toll, denkt man, noch mehr Kunst. Doch die Installationen, ganz zu schweigen von anderen Kultur-Events, Ausstellungseröffnungen, Happenings, Happy Hours etc., provozieren Menschenaufläufe, die den Fußgängerverkehr zum Erliegen bringen: man drängelt und schiebt sich durch die Gassen. Für immer mehr Venezianer ist ihre Stadt während eines Kulturevents wie die Biennale kein Grund zur Freude mehr. In einem Appell an die Stadtverwaltung forderten vor kurzem Bürger eine Reduzierung der Kulturevents auf bestimmte Stadtteile: der normale Massentourismus, die Kulturreisenden und dann auch noch die Biennalegänger: das ist vielen zu viel geworden.

    Eine auch in Deutschland sehr bekannte Schriftstellerin, die im eigentlich ruhigen venezianischen Stadtteil Cannaregio lebt, aber anonym bleiben möchte, zieht während der Biennale zu Freunden, aufs Land oder ins Ausland: ihr Stadtviertel, erklärt sie ihre Flucht, werde während der Kunstmesse von bummelnden Besuchern regelrecht annektiert. Gilt Cannaregio doch gerade bei Kunstfreunden wegen seiner Noch-Authentizität als ganz besonders schick.