Samstag, 18. Mai 2024

Archiv


Musikalische Promenadenmischung

Samuel Barber gilt als Schöpfer einer amerikanischen "Nationaloper". An der Oper Frankfurt wurde nun seine "Vanessa" auf die Bühne gebracht. Musikalisch gilt Barber als Neo-Romantiker. Die Inszenierung in Frankfurt hat die Anmutung von Theater mit weißem Krägelchen, ohne Ecken und Kanten.

Von Frieder Reininghaus | 03.09.2012
    Vanessa ging in die Literatur ein als liebreizender Name eines legendären Waldschweins ("O Wonne, sie nur anzuschauen: Vanessa, lieblichste der Sauen!"). Vanessa heißt aber auch eine weiterhin bildschöne Dame aus besseren Kreisen im besten Alter, die sich nichts anderem widmet als dem Warten und dem Erhalt ihrer Fassade. Sie residiert, so will es der Plot von Tania Baronin Blixen-Finecke, mit der Mutter und der Nichte Erika zurückgezogen "auf ihrem Landsitz in einem nordeuropäischen Land". Vanessa wartet darauf, dass ihr früherer Lover Anatol sie endlich wieder aufsucht. Als einer des Weges kommt, ist es der Falsche – es ist der 20-jährige Sohn des Erwarteten und ein rechter Taugenichts. Anatol II. sorgt für roman- und lebenskräftige Liebe auf den ersten Griff – mit einschlägigen Folgen. Erika wird schwanger vom Besucher, Vanessa aber verliebt sich in ihn. Und so nimmt das Kammerspiel seinen Ibsen-Strindbergschen Verlauf: Nach den kurzen Anflügen des Frauenglücks mehrt sich das Unheil – Depression, Fehlgeburt, suizidale Situation, kaltes Warten.

    Gian Carlo Menotti arrangierte das Libretto zu dieser Familien-Tragikomödie für seinen Lebensgefährten Samuel Barber nach bewährten Boulevardtheatermodellen. Und der Komponist bescherte der trivial-anrührenden Geschichte eine mit handwerklichem Geschick angefertigte musikalische Promenadenmischung. In der darf über einer puccinösen Basis die kräftige Portion Hollywood-Breitbandsound nicht fehlen, aber auch nicht eine Prise europäische Neutönerei der moderateren Sorte. Sogar ein Anflug von Alban Bergschem "Wir-armen-Leut"-Pathos wurde eingerührt, etwas Benjamin-Britten-Nachbarschaftshilfe oder ein Mussorgski-Zitat. Da wurde das zusammenkomponiert, was die Speisekarten von China-Restaurants "Glück für die ganze Familie" nennen: Der Textvorlage folgend eine überwiegend ruhig gehaltene Musik, mit der Vanessa eben zuerst wartet, dann sich Anatol anverwandelt und schließlich zu einem vielleicht besseren, jedenfalls weniger skandinavischen Leben nach Paris aufbricht.

    Erika lässt sie zurück an ihrer Stelle – als Wartende im kalten Haus und als Betreuerin der verstummten Mutter. Womöglich ist dieses Kammerspiel darauf angelegt, mit der Figur der allzu betreuten und aufs Leben nicht vorbereiteten Erika Mitleid zu erwecken. Die Musik gibt da gleichsam ihr bestes – und Jenny Carlstedt, augenscheinlich ein Liebling des Frankfurter Publikums, tut es auch. Dabei besteht die Hauptleistung der Mezzosopranistin darin, die mitunter allzu elegisch gedehnte, "authentisch" dröge Partie zu vitalisieren. Sie schafft dies auf respektable Weise und übertrifft die Hauptdarstellerin in der Publikumssympathie:

    Ohne weiter- oder tiefergehende Interpretations-Intentionen inszenierte Katharina Thoma die Trivialliteraturoper von Menotti und Barber in einem Salon, wie er ums Jahr 1900 in den besseren Kreisen des hohen Nordens Mode war. Seitwärts ragen Eisschollen herein. Auf denen wird gelegentlich pantomimisch verdeutlicht, wovon gesprochen, das heißt gesungen wird. Wenn Anatol der Jüngere zum Beispiel der mit ihm inzwischen verlobten Vanessa berichtet, wie man die Nichte, die im Nachthemd hinaus ins Schneetreiben stürzte, in einer kleinen Schlucht auf dem Weg zum See fast schon erfroren und blutverschmiert auffand – sie erlitt da draußen wohl eine Fehlgeburt – dann zeigen zwei stumme Darsteller eine nazarenisch schöne Szene, in dem Er wie ein barmherziger Samariter die blütenweiß Gebliebene birgt, an seine Brust drückt und allein wegträgt. Vom Blut keine Spur.

    So ergibt sich Theater mit weißem Krägelchen, ohne Ecken und Kanten, für Schwerhörige und Sehbehinderte. Es soll aber Opernhäuser geben beziehungsweise gegeben haben – und das in Frankfurt gehörte vordem dazu – in dem auch Hellsichtigere mit guten Ohren sitzen. Sie scheinen aus dem Adressatenkreis des Intendanten Bernd Loebe ausgeschieden.