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Nach der Wahl in Litauen
Ein Machtwechsel in Vilnius ist möglich

Noch steht nicht fest, wer künftig in Vilnius das Sagen hat. Grund dafür ist das komplizierte litauische Wahlsystem. Doch möglicherweise könnten vor allem die kleinen Parteien darüber entscheiden, ob es nach der Stichwahl in zwei Wochen einen Machtwechsel an der Spitze des Landes gibt.

Von Florian Kellermann | 12.10.2020
Der Eingang des Parlamentsgebäudes in Vilnius, Litauen
Erst die Stichwahl in zwei Wochen wird zeigen, wer künftig das Sagen im litauischen Parlament hat (dpa / chromorange)
Das Wahlsystem in Litauen macht es unmöglich, schon jetzt einen Sieger festzustellen. Denn nur etwas weniger als die Hälfte der Sitze wird in einem proportionalen Wahlsystem über Parteilisten vergeben. Der andere Teil sind Direktmandate: Politiker treten in den Wahlkreisen gegeneinander an. Und hier fällt in den meisten Bezirken die Entscheidung erst in einer Stichwahl in zwei Wochen.
Der Vorsprung des christdemokratischen Vaterlandsbundes, der sich gestern ergeben hat, könnte also nur vorübergehend sein.
Wie schon vor vier Jahren, als sich der heute regierende Bund der Bauern und Grünen im zweiten Wahlgang an die Spitze schob. Weiterhin könnten beide Parteien am Ende als Sieger dastehen – wie es der Politologe Tomas Janeliunas von der Universität Vilnius schon vor der Wahl beschrieb hatte:
"Das eine Szenario ist, dass die Konservativen, der Vaterlandsbund, eine Koalition anführen. Sie müssten dafür die liberalen Parteien ins Boot holen und eventuell die Sozialdemokraten. Das zweite Szenario besteht darin, dass der Bund der Bauern und Grünen an der Macht bleibt. Auch er würde dafür wohl die Sozialdemokraten umwerben und noch kleinere Parteien hinzuholen."
Bund der Bauern setzt auf Sozialpolitik
Dass die kleineren Parteien den Ausschlag geben könnten, hat sich gestern Abend bestätigt. Neben den beiden großen Parteien werden weitere fünf Gruppierungen im Parlament vertreten sein.
Die Frau wirft den Zettel in die milchig-transparente Wahlurne mit dem Wappen Litauens. Hinter ihr drei Wahlkabinen, in denen eine weitere Frau gerade ihren Stimmzettel ausfüllt. 
Am 11. Oktober fand die litauische Parlamentswahl statt (Mindaugas Kulbis/AP/dpa)
Der Bund der Bauern und Grünen setzte in der Regierung vor allem sozialpolitische Akzente. Er führte ein neues Kindergeld ein und hob den Mindestlohn deutlich an, auf heute knapp über 600 Euro pro Monat. Die Regierenden rechnen es sich außerdem an, dass Litauen bisher glimpflich durch die Coronakrise gekommen ist. Die Zahl der Verstorbenen liegt im Verhältnis zur Einwohnerzahl noch niedriger als in Deutschland.
Die oppositionelle Vaterlandspartei kreidete der Regierung allerdings an, dass sie unter dem Stichwort Corona zu viel Geld verteile. Der Politologe Janeliunas:
"Sie bringen vor, dass die Staatsverschuldung viel zu stark gestiegen sei. Das sei unverantwortlich. Jede folgende Regierung werde Schwierigkeiten haben, die Schulden zurückzuzahlen."
Klare Position zu Belarus
Auf anderen Politikfeldern gibt es weniger Differenzen. So sind beide große Parteien weltanschaulich konservativ. Die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare etwa kommt für sie nicht in Frage.
Der Schriftsteller Wladimir Kaminer,
Wladimir Kaminer - Proteste in Belarus "große Hoffnung" auch für viele RussenDer russischstämmige Autor Wladimir Kaminer geht mit den Belarussen gegen ihren Präsidenten Alexander Lukaschenko auf die Straße. Die Aussicht auf friedliche Veränderung gebe auch vielen Russen Hoffnung, sagte er im Dlf.
Parteiübergreifende Einigkeit in der Außenpolitik
Sogar große Einigkeit herrscht in der Außenpolitik. Fast alle politischen Akteure sind sich einig, dass Litauen von der Mitgliedschaft in der EU und der Nato stark profitiert – auch, weil sich das Land vom Nachbarn Russland bedroht fühlt. So war es für beinahe alle Parteien selbstverständlich, dass sich die Regierung lautstark zur Situation in Belarus äußerte – und für die demokratischen Proteste gegen den Machthaber Alexander Lukaschenko Stellung bezog.
Monika Bickauskaite, Programmassistentin bei der US-amerikanischen Denkfabrik "German Marshall Fund":
"Wir haben gesehen, dass Litauen hier eine Führungsrolle innerhalb der EU eingenommen hat. Wir waren das erste Land, das für ein demokratisches Belarus eingetreten ist. Wir haben der oppositionellen Swetlana Tichanowskaja erlaubt, sich in Vilnius niederzulassen. Und wir helfen ihr, andere internationale Führungspolitiker zu treffen und für ein freies Belarus zu kämpfen."
Unwahrscheinlich scheint allerdings, dass Außenminister Linas Linkevicius im Amt bleiben wird. Er hat sich in der Belarus-Krise international einen Namen gemacht. Aber seine Partei, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei, ist gestern an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert.