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Nachruf
Geschichte aller Bergarbeiter-Familien Lothringens

Von Aureliana Sorrento | 28.11.2014
    Anfangs ist dieses Buch verwirrend. Die Geschichte entwickelt sich in kurzen Kapiteln, durch Zeitsprünge und Perspektivenwechsel. Filippettis Prosa scheint fernen Stimmen nachzujagen, die durch jene einer allwissenden Erzählerin widerhallen. Gedächtnissplitter werden da aneinandergelegt. Schwer auszumachen, wem die Erinnerungen gehören, aus wessen Blickpunkt das Geschehen gerade erzählt wird. Kennt man die Eckdaten von Filippettis Biografie, erkennt man in manchen Figuren Familienmitglieder der Autorin. Aber selten werden sie mit ihren Namen genannt, und wenn, dann nur mit den Vornamen. Meist bezeichnet die Autorin ihre Figuren einfach mit Pronomen: "Er", "Sie"; häufig ist es von einem unbestimmten "Sie" die Rede - Plural.
    Zeitsprünge und Perspektivenwechsel
    In einem zweiten Moment, wenn die Puzzlesteine sich allmählich zum Bild fügen, wird klar, dass die Verwirrung gewollt und stilistisch konsequent ist; dass die Form der Intention des Werkes perfekt entspricht: Es geht da nicht um Einzelne, sondern um ein Kollektiv.
    Der rote Faden in dem Roman ist zwar die Familiengeschichte der Autorin, aber in dieser spiegelt sich die Geschichte aller Bergarbeiter-Familien Lothringens wider. Alle Einwanderer, aus Italien, Polen oder Algerien. Alle Sozialisten oder Kommunisten. Alle Vertreter einer Gesellschaftsschicht, die einst ein Klassenbewusstsein hatte und sich Arbeiterklasse nannte. Die Autorin ist unter ihnen aufgewachsen und will in dem Buch „Das Ende der Arbeiterklasse", so gesteht sie im Schlusskapitel, ihr kollektives Gedächtnis festhalten.
    Filippettis Großeltern kamen nach Lothringen in Zeiten, als die Minen im Ausland Arbeitskräfte anwarben. Ein Großvater allerdings, Tommaso, Kommunist, war aus Italien vor Mussolini geflohen. Im besetzten Frankreich hatte er am Widerstandskampf gegen die Nazis teilgenommen, wurde mit dreizehn Kumpeln in der Mine von Audun-le-Tiche von der Gestapo verhaftet und starb in Deutschland, in Bergen-Belsen. So ein Erbe verpflichtet.
    "Ihre Nachkommen tragen schwer an der Last dieses Ruhmes."
    ...schreibt seine Enkelin Aurélie. Sein Sohn Angelo, der Vater der Autorin, trat die Nachfolge an. Bergarbeiter, Algerien-Veteran, Kommunist, Minenvertreter, langjähriger Bürgermeister von Villerupt – ein Leben für die Kumpels, den Arbeitskampf, den Kommunismus. Dieser Angelo stellt die zentrale Figur des Romans dar. Von seiner Beerdigung geht die Erzählung aus, die Stück für Stück in Rückblenden aufgerollt wird. In späteren, durch den Roman gestreuten Kapiteln, wohnt der Leser seinem inneren Monolog im Krankenbett bei.
    Antifaschistischer Widerstandskampf
    Der kranke Mann zieht Bilanz, und sein Nachsinnen über die eigene Lebensleistung rekapituliert die Entwicklung der großen kommunistischen Parteien Westeuropas, sprich: Frankreichs und Italiens, vom Zweiten Weltkrieg bis 1989: der antifaschistische Widerstandskampf - für die Nachkommen ein Heldenepos - im Namen von Freiheit, Revolution und Demokratie. Die Arbeiterkämpfe der Nachkriegszeit, die ja auch Erfolge zeitigten. Die Zweifel und der Unmut der Basis gegen die Parteilinie, als sowjetische Panzer in Budapest und Prag einmarschierten. Das Aufatmen, als die kommunistischen Parteien Frankreichs und Italiens sich von Moskau distanzierten und den Eurokommunismus ins Leben riefen. Und doch nützte diese Distanzierung nichts.
    Das Jahr 1989, als die Gräuel des Sowjetregimes in ihrem ganzen Ausmaß ans Licht traten, bedeutete für die westlichen Kommunisten nicht nur ein politisches Desaster, weil die Idee des Kommunismus selbst für den Staatsterror verantwortlich gemacht wurde. Für viele war es auch eine bittere, existenzielle Enttäuschung, eine persönliche Tragödie. Auf jeden Fall für den Bürgermeister von Villerupt, der sein Leben lang für kommunistische Ideale gekämpft hatte.
    "Es muss also alles falsch gewesen sein, von Anfang an, alles war gescheitert. Es gab keine Erklärung, keine Möglichkeit, diese angsteinflößende Kluft zwischen dem tief verwurzelten Ideal und der Realität zu überbrücken. Die Überzeugung war so schmerzhaft wie tief gehend, mit dem eigenen Wesen verwachsen wie ein Knochen."
    Im Spiegel des Krankenhauses, dem Bett gegenüber, sah er das Bild eines Mannes, der ein Leben lang für Ideen gekämpft hatte, die man ihm jetzt ins Gesicht schleuderte wie ein Büschel Brennnesseln; es brannte auf der Haut. Ihm blieb kaum etwas, bis auf sein Gewissen.
    Arbeiterklasse als wehrlose Lohnabhängige
    Es ist natürlich kein Zufall, dass der Tod dieses Vaters mit der Schließung der Minen zusammenfällt – die in diesem Roman auch für das Ende der Arbeiterklasse steht. Denn die Minen Lothringens wurden geschlossen, weil sie mit den eisenhaltigeren brasilianischen Minen nicht mehr konkurrieren konnten. Ihre Liquidierung, wie jene so vieler anderer Betriebe, war also eine Folge der Globalisierung, welche die Arbeiterklasse zu einer verfügbaren Masse wehrloser Lohnabhängiger degradiert hat. Eine Masse, die heute nicht mehr gegen Fabrikbesitzer und Manager um ihre Rechte kämpfen kann, weil ihr wahrer Kontrahent andere Lohnabhängige sind, die in Asien, Afrika und Südamerika für Niedrigstlöhne schuften. Sie muss sich fügen und froh sein, wenn sich Unternehmen aus dem Ausland in den Regionen ansiedeln, wo ihre Arbeitsplätze verloren gegangen sind.
    "Man schickt sie zu Daewoo zum Arbeiten, sie sollten sich freuen, dankbar sein für die Chance, man fordert sie auf, die Toilettenpausen zu verkürzen, im Sinne der Rentabilität, man spricht von Unternehmenskultur, von koreanischer Tradition, und sie können kein Wort mehr miteinander wechseln. Eingepfercht, isoliert, schikaniert, wenn sie krank sind."
    Junge Witwen der Arbeitersiedlung
    Immer wieder schwingt in den Zeilen dieses Romans die Empörung über die Politik mit, die Aurélie Filippetti als Politikerin bekämpft: Jene neoliberale Politik, die in Europa zum massenhaften Verlust von Arbeitsplätzen und Abbau von Arbeitnehmerrechten geführt hat. Trotzdem ist „Das Ende der Arbeiterklasse" kein Pamphlet. Filippetti behelligt ihre Leser nicht mit politischen Parolen. Vielmehr macht sie die existenzielle Reichweite von Politik am Leben der Stahl- und Bergarbeiter Lothringens greifbar. Sie schildert ihren Alltag, die Arbeit unter Tage und die Zeichen, die sie auf den Körpern hinterließ; erzählt von den tödlichen Arbeitsunfällen, die schon fast alltäglich waren, von den jungen Witwen der Arbeitersiedlung. Jede Familie dort hatte mindestens einen Toten zu beklagen – verschüttet in den Tiefen der Stollen.
    Empörung über Politik
    Doch klebten die Bergarbeiter am Bergwerk mit jeder Faser ihres Wesens. In der Arbeit lag ihre Würde, aus der Arbeit erwuchs ihre Solidarität. Das Bergwerk war ein gemeinsames Schicksal, es schmiedete die Menschen zusammen, unabhängig von ihrer Herkunft. So bedeutet die Schließung der Minen für die Bergarbeiter nicht nur den Verlust ihres Arbeitsplatzes. Es ist das Ende ihrer Welt. Das Ende der Arbeiterklasse eben. Symbolhaft dafür steht der Verfall des Bergwerks, den Filippetti wie den Tod eines Lebewesens beschreibt.
    "Micheville ist seit Jahren tot. Die Wege führen ins Nirgendwo, hinterlassen bloß Streifen in der Landschaft, keine Maschine, kein Transporter benutzt sie mehr. Dort steht das Werk, schwankend, aber noch aufrecht, ein Riese, geschrumpft, hingekauert. Es taumelt. Rostet vor sich hin. Thront dort, unnütz und lächerlich. Wird bald abgerissen. Das alte Stahlmonster macht den Menschen keine Angst mehr."
    Ein Nachruf. Der manchmal pathetisch anmuten kann. Doch Filippettis Pathos wirkt nie theatralisch, nie aufgesetzt. Man spürt, dass es eigenem Erleben, authentischen Gefühlen entspringt. Ihre politische Leidenschaft, erfahren wir da, ist in ihrer Kindheit, in den Familienbanden verwurzelt. Demgemäß konnte ihr Nachruf auf die Arbeiterklasse, der zugleich ein Familienroman ist, nicht unpolitisch geraten. Aber selten war ein politisches Buch so ergreifend, so lebensnah, so mitreißend.
    Der Roman "Das Ende der Arbeiterklasse" von Aurélie Filippetti ist in der deutschen Übersetzung von Angela Sandmann im S.Fischer Verlag erschienen. Er hat 187 Seiten und kostet 18, 99 €.