Sonntag, 12. Mai 2024

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Nataly Elisabeth Savina: "Meine beste Bitch"
Eigenwillige Charaktere und schräge Szenarien

Zwei unzertrennliche Freundinnen, Rausch der Freiheit in Berlin, Suche nach Selbstbestimmung: Nataly Savinas Jugendroman erzählt vom Aufbruch aus der Kleinstadt, vom Festhalten und Loslassen und davon, wie man über sich selbst hinauswächst. Außergewöhnlich, anrührend und echt.

Von Karin Hahn | 26.01.2019
    Zu sehen sind zwei Mädchen von hinten, die auf das Meer schauen. Sie umarmen sich gegenseitig.
    Eigentlich sind Nike und Faina beste Freundinnen - bis sich eine dritte Person die Freundschaft einmischt. (imago/ S. Fischer Verlag)
    Mitten im Zentrum von Berlin, nahe der Spree, ein paar Minuten von der Museumsinsel und der Neuen Synagoge entfernt, wohnt Nataly Savina mit ihrer Familie. Hier wird auch Faina, ihre Hauptfigur im neuen Roman "Meine beste Bitch" durch die Straßen laufen. Faina stammt aus einer deutschen Kleinstadt, die Autorin Nataly Savina wurde in Riga geboren, lebte in Helsinki und Freiburg. Sie studierte Angewandte Kulturwissenschaften in Hildesheim und später Drehbuch an der Film- und Fernsehakademie in Berlin. Wenn Nataly Savina ihren Arbeitsprozess überdenkt, dann spricht sie von langen Zeiträumen, in denen Ideen reifen, von Tagebuchnotizen, Versatzstücken, die in Geschichten einfließen können, aber auch Kurzfilmdrehbüchern oder Romanen.
    Nataly Savina: "Der Werdegang meiner Geschichten ist im Grunde genommen unabhängig davon, für welche Form ich mich entscheide, ist immer ähnlich. Und zwar sammeln sich Begebenheiten an und die können sein, dass sie mir passiert sind, dass sie Freunden passiert sind oder dass ich sie über fünf Ecken mitgekriegt habe. Begebenheiten, die ich interessant finde, die bleiben mir im Gedächtnis und irgendwann sind so viele da, dass ich versuche, sie zu ordnen und üblicherweise kristallisiert sich für mich immer eine Geschichte daraus heraus, die in sich geschlossen ist und irgendwie Sinn macht."
    Ein unerschütterliches Vertrauensverhältnis
    Faina und Nike, zwei gegensätzliche junge Frauen, begegnen sich in einer Kleinstadt. Die extrem dünne eher introvertierte Faina quält sich zum Abitur und die ebenso engagierte wie extrovertierte, ein Jahr ältere Nike steht kurz davor. In dem Gefühl, nicht mehr viel Zeit miteinander zu haben, entwickelt sich zwischen beiden ein enges Vertrauensverhältnis, das durch nichts erschüttert werden könnte.
    "Wenn Nike etwas sagte, drang immer ein Geruch von Mandeln und gezuckerten Orangen aus ihrem Mund. Und wenn Nike etwas wichtig war, kam sie ganz nah. Ihre Augen leuchteten giftgrün und stachen mitten hindurch, durch jeden, der ihr zuhörte. Nicht unbedingt sofort, erst etwas später dann, aber durch Nike wurde mir klar, dass Menschen mit grünen Augen anders sind als die anderen. Tief in ihrem Inneren wissen sie mehr. Wie Außerirdische, die nur für eine bestimmte Zeit auf die Erde kommen."
    Unsicherer Aufbruch zu neuen Ufern
    Faina ist die beobachtende Ich-Erzählerin, die sich eher auf das Außengeschehen als die eigene innere Gefühlswelt konzentriert. Was nachvollziehbar ist, denn nach dem Schulabschluss, den sie mit Hilfe ihres selbstlosen Schulfreundes Achim und eines skurrilen Nachhilfelehrers schafft, öffnen sich für sie völlig neue Welten. Neben Nike, die nun nach Hamburg zum Medizinstudium geht, lernt Faina den sensiblen wie ambitionierten Julian kennen, mit dem sie das Leben eines Eichhörnchens rettet. Er arbeitet intensiv an seiner Kunstmappe, hat in Berlin eine Arbeit gefunden und will sich dort an der Kunsthochschule bewerben.
    "Sein Gesicht war so schön. Ihn anzusehen führte bei mir zu einem Gefühlsmischmasch aus Freude, Rührung und Wohligkeit. Ich wünschte, ich wäre seine Mutter, seine Schwester und seine Freundin in einem, wünschte, ich wäre eine Wunschmaschine für all seine Anliegen, wünschte, ich wäre die Rettung, der fehlende Zauber, wünschte, ich könnte alle Leute, die auf ihn einredeten, auf der Stelle vermöbeln."
    Nataly Savina: "Ja, ich glaube, Faina und Julian sind sich tatsächlich sehr ähnlich in Wirklichkeit und dass sie sich ineinander irgendwo auch spiegeln wollen und dass sie die Sehnsucht danach, etwas zu sein oder irgendwo vorzukommen auch mitunter damit kompensieren, sich aneinander festzuhalten."
    Die Suche geht weiter
    Faina probiert sich aus, zeichnet und scheut doch nach einem heftigen Streit mit ihrer bodenständigen Mutter davor zurück, nach Berlin zu Julian zu fahren. Sie landet in Achims Wohnung, reist mit ihm nach Kassel, da er sich und Faina ohne ihr Wissen für die Aufnahmeprüfung an der Kunsthochschule angemeldet hat. Als Faina weiß, dass sie zum Studium angenommen wurde und Achim nicht, flieht sie vor einer Entscheidung dann doch nach Berlin.
    "Ich öffnete das Fenster auf meiner Seite und roch die Stadt. (…) Ich war endlich umschlungen, aufgenommen und überhaupt nicht nervös. Ich war wie Jona in einem Wal angekommen und freier als je zuvor. Wir fuhren an dem Ufo des Reichstags vorbei, Lieferverkehr Bundestag, bremsten scharf vor einem Mädchen auf dem Fahrrad, das ihr Kettenschloss wie ein Schmuckstück um den Hals trug, und kamen auf die Reinhardtstraße, an deren Ende der Friedrichstadtpalast in allen Farben leuchtete."
    Faina erobert die Metropole für sich. Sie wohnt bei Julian und zieht mit ihm des Nachts um die Häuser. Sie arbeitet an einem eigenen Kunstprojekt und freut sich auf die intensive Zeit mit Nike, mit der sie sich auch weiterhin lebendig fühlt. Fainas eigenes Leiden, eine quälende Unruhe begleitet von heftigen Juckreizattacken, scheint die quirlige Stadt geheilt zu haben.
    Nataly Savina: "Die Krankheit, die Faina hat, hat ja viel mit ihrem psychischen Zustand zu tun. Man kann nicht gut trennen, ist es jetzt Berlin, das sie rettet oder ist es ihre Freundschaft. Ich glaube, es ist einfach die Tatsache, dass sie sich daraus erwächst und selbst dadurch befreit, dass sie immer mehr einfach zu sich selber wird, reifer wird, stabiler wird als Person."
    Die Abweichung von der Norm
    Fainas starke Mutter, die gern ihre wohlmeinenden Ratschläge am Telefon herunterrattert, sorgt sich natürlich, auch als Psychiaterin, um ihre Tochter.
    Nataly Savina: "Ja, mir ist die Mutterfigur sehr sympathisch, weil sie so eine Art Pragmatismus mit so einem leicht irren Blickwinkel auf die Welt verbindet. Die war so präsent, nicht geplant am Anfang beim Schreiben und kam dann immer mehr vor und drängte sich immer stärker in den Vordergrund und hatte dann zum Schluss die Auswirkung auf das ganze Buch, dass ich ja in jedem Kapitel mit dem Thema beschäftigt, was ist die Abweichung von der Norm. Was ist überhaupt normal? Ist das, was hier passiert normal oder nicht und wer entscheidet überhaupt darüber, was normal ist?"
    Nataly Savina achtet darauf, dass ihre Ich-Erzählerin in ihrer Figurensprache bleibt und lässt ihr doch all ihre Freiheiten. So lebensfroh wie verletzlich Faina auch ist, so klarsichtig, lakonisch und witzig kann sie in vielen Momenten sein.
    "Er hieß Schöps und wollte wissen, ob ich den Unterricht für eine 'Mappe' brauchte. Ich sagte, dass ich noch gar nicht darüber nachgedacht hatte, wofür ich eine Mappe bräuchte."
    "Haben nicht die meisten jungen Leute heute ein Ziel?", meinte Schöps.
    "Ich brauche kein Ziel", sagte ich, "ich bin kein Torpedo."
    Während einer Performancereihe, an der Julian teilnehmen kann, kommt es zu ersten Unstimmigkeiten zwischen Faina und ihrem Freund. Sein Kunstprojekt vor Publikum wird kurz vorm peinlichen Scheitern von Nike aufgefangen. Da ahnt Faina noch nicht, was sich zwischen beiden abspielen wird.
    Alle dabei: Paul Maar, Sylvia Plath, Andrea di Carlo
    Mit dem Verzicht auf Erklärungen, die nur in den Anmerkungen zu Musikstücken oder geliebter Literatur ihren Platz finden, stärkt Nataly Savina die glaubwürdige Konstellation ihrer eigenwilligen Figuren, die auf ihrer Einmaligkeit bestehen und sich keinen Festlegungen unterwerfen. Mal bewegen sich die Protagonisten auf dunkle Abgründe zu, umschiffen diese unbeschadet oder fallen nach einem Schicksalsschlag tief hinein.
    Was während des Schreibprozesses geschehen kann, hat die Autorin überrascht. Bei der Suche nach einem Namen für ihre Erzählerinnenstimme wählte die Autorin nach langem Suchen Faina. Später erfuhr sie, dass ihre Mutter einst vom Großvater gedrängt wurde, die Tochter ebenso so zu nennen. Doch die Mutter blieb bei ihrer Wahl: Nataly Elisabeth.
    Nataly Savina: "Innerhalb aller meiner Bücher, die ich schreibe, gibt es autobiografische Züge. Ich erzähle nicht nur Geschichten, die jemand anderes passiert sind oder die ich mir ausgedacht habe, das auch, aber eben auch viele Geschichten, die teilweise mir passiert sind, ich habe da einen guten Einblick, ich kann gut darüber schreiben. Ich kenne auch aus meiner ganz persönlichen Erfahrung, wie das ist, wenn eine gute Freundin einen großen Verrat begeht an einem selbst. Die ganze Geschichte hat dann am Ende doch nicht so viel mit mir zu tun, aber es sind viele Dinge, die in der Realität passiert sind und wenn jemand sich dafür interessiert, was ist denn wirklich passiert, dann kann man fürs Ganze romanübergreifend sagen, die Sachen, wo man denkt, das ist es nicht, also je schräger es wird, umso wahrscheinlicher, dass es wirklich passiert ist."
    Eher unauffällig versteckt Nataly Savina literarische Referenzen in der Handlung, ob es um Bücher von Paul Maar, Sylvia Plath, Andrea di Carlo oder Lewis Carroll geht. Auch die Attribute der Schicksalsgöttinnen kann der Leser im Wohnzimmer von Fainas Mutter entdecken und über deren symbolische Kraft nachdenken. Am Ende dieser rastlosen Geschichte jedenfalls erwartet den Leser kein Happy End, aber doch ein starkes Gefühl.
    Nataly Elisabeth Savina: "Meine beste Bitch", S. Fischer Verlag, Frankfurt, 282 Seiten, 16 Euro