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Neuer Blick auf die NS-Zeit

Im Potsdam-Museum trafen sich Kuratoren und Wissenschaftler, um über den Umgang mit der NS-Vergangenheit in den ostdeutschen Stadt- und Regionalmuseen zu debattieren. Denn die Museen können gerade heute mit Blick auf rechtsradikale Gesinnungen Aufklärungsarbeit leisten.

Von Isabel Fannrich | 27.10.2013
    "Hinter Ihnen an der Wand befindet sich der Adler vom Neustädter Tor. Das Neustädter Tor ist eines der fünf Potsdamer Stadttore und hat zwei Obelisken besessen. Und auf den Obelisken haben sich zwei Adler befunden. Und bei dem britischen Bombenangriff in der Nacht vom 14. zum 15. April '45 sind sie stark beschädigt worden. Einer dieser Adler ist ins Museum gelangt, und wir haben ihn aufbereitet für den Einsatz jetzt in der Ausstellung."

    Erst kürzlich hat das Potsdam Museum eine neue Dauerausstellung zu mehr als 1000 Jahren Stadtgeschichte eröffnet. Für die Museumsdirektorin Jutta Götzmann war dies eine Chance, die NS-Zeit anders darzustellen als in der früheren DDR-Schau – auch den Vogel.

    "Er ist in der 86er-Ausstellung im Schutt liegend präsentiert worden. Solche Inszenierungen haben wir natürlich nicht gewählt, oder wir haben uns komplett eigentlich gegen Inszenierung entschieden, haben gesagt, wir bringen den Adler wieder in die Höhe, aber nicht ohne Kommentar. Hier haben wir ein Großfoto dazugesetzt, das eine Luftaufnahme zeigt einen Tag nach dem Bombenangriff."

    Statt wie früher die Objekte zu inszenieren und emotional aufzuladen, zielt die neue Ausstelung darauf, sie mit Fotos, Texten und Medienstationen in ihren Kontext einzuordnen. Dabei sollen sich zwei parallele Erzählungen über die NS-Zeit ergänzen: Auf der einen Seite die bedeutenden städtischen Ereignisse wie der "Tag von Potsdam" 1933 oder die "Potsdamer Konferenz" '45, auf der anderen Seite die Alltagsgeschichten. Diese setzen neue, ungewohnte Akzente mit Exponaten und biografischen Erzählungen über die damalige städtische NS-Kunst und -Architektur.

    Dass bereits 1990 die Entscheidung fiel, die DDR-Ausstellung mit ihrem Fokus auf die Arbeitergeschichte zu schließen, war kein Einzelfall. Mauerfall und Wiedervereinigung markierten für viele ostdeutsche Stadt-, Heimat- und Regionalmuseen einen Wendepunkt. Susanne Köstering, Leiterin des Museumsverbandes Brandenburg:

    "Zunächst einmal ist uns bekannt, dass bis 1989 die bestehenden Museen – wir hatten damals in dem Gebiet des heutigen Brandenburg etwa 100 Museen – dass die meisten von denen Ausstellungsteile zum Nationalsozialismus hatten. Die hatten eine ganz klare Ausrichtung: Der kommunistische Widerstand wurde dargestellt, die Arbeiterbewegung, weil sich die DDR aus dem Erbe der Arbeiterbewegung und dem Widerstand gegen den Hitlerfaschismus heraus definiert hat. Diese Ausstellungen sind nach 1990 sehr schnell abgebaut worden, nicht nur diese Ausstellungsteile, die gesamten aus der DDR überkommenen Dauerausstellungen sind abgebaut worden."

    Die neuen Ausstellungen setzten vor oder nach der Jahrtausendwende eigene Schwerpunkte von lokaler Bedeutung. Die eine rückte die archäologischen Funde in den Vordergrund, die andere die landwirtschaftliche Entwicklung. In diesen thematischen Schauen hat die NS-Zeit nur teilweise Platz gefunden - und häufig auch nur in einer Vitrine.

    "Das hat auch damit zu tun, dass man neu hätte forschen müssen, dass man die Arbeitskräfte nicht hatte, dass man unsicher war, dass man umdenken musste, dass man sehr viel Energie aufwenden musste, um überhaupt die Museen in die neue Zeit zu bringen. Und ein Punkt scheint mir auch noch ganz besonders wichtig, dass wir hier, in Brandenburg, auch in den anderen ostdeutschen Bundesländern, selbstverständlich wenn es um Zeitgeschichte geht, zunächst das ganz große Thema DDR-Aufarbeitung haben, was die Leute viel stärker beschäftigt als die Zeit des Nationalsozialismus."

    Inwiefern sind die Museen in den neuen Bundesländern tatsächlich noch durch die DDR-Zeit und ihren Transformationsprozess nach 1989/90 geprägt? Die Literaturwissenschaftlerin Susanne Hagemann hat mehr als 40 Museen in Ost und West mit stadt- und regionalgeschichtlichem Schwerpunkt besucht – von knapp 1900 in Deutschland.

    "Gravierende Unterschiede, wirklich triftige Unterschiede zwischen ost- und westdeutschen Museen kann ich nicht ausmachen. Graduelle Unterschiede maximal: In Ostdeutschland liegt dann zum Beispiel eher ein Häftlingsanzug eines politischen Häftlings in der Vitrine mit dem roten aufgenähten Dreieck, wo in Westdeutschland vielleicht eher ein jüdischer Häftling Subjekt der Erzählung wäre."

    Dies hänge mit der Sammlung und dem vor 1989 zugrunde liegenden Narrativ zusammen – in Ost der Antifaschismus, in West der Antitotalitarismus. Dass die Unterschiede nicht so groß sind wie erwartet, führt Susanne Hagemann auch darauf zurück, dass westdeutsche Museumsfachleute die neuen Ausstellungen im Osten häufig mit erarbeitet haben.

    "Doch häufig enden die Ausstellungen um 1900, so ein typisches Phänomen, oder aus der Zeit der 1930er und 40er Jahre finden sich zwar Objekte. Der Nationalsozialismus wird aber nicht thematisiert. Eher schon der Bombenkrieg."

    Die ausgestellten Objekte wiederholen sich von Museum zu Museum: eine Bombe, die Gasmaske und der Volksempfänger. Fotos aus der offiziellen Propaganda oder dem privaten Familienalbum, dazu ein kleiner Text. Susanne Hagemann fordert anstelle von leeren Gesten eine klare Haltung zu dem, was gezeigt wird. Häufig fehle die nähere Bestimmung der Exponate oder ihre Einordnung in den historischen Kontext – zum Beispiel der Hinweis, dass Deutschland den Zweiten Weltkrieg angefangen hat.

    Dass die Fachleute in vielen Museen, egal ob in Ost oder West, einen multiperspektivischen Blick auf die NS-Zeit vermissen, wurde auf der Tagung deutlich. Manche Ausstellungen verengen den Blick auf die politische Geschichte. Andere widmen sich allein der Alltagsgeschichte.

    "Eine Parallelwelt? Wohl kaum. Diese beiden Welten waren, besonders auf lokaler Ebene, aufs Engste miteinander verknüpft, ineinander verflochten. Aber wie erzählen die Museen davon? Leider wenig. Und ich finde aber, dass das ein ganz essenzieller und wichtiger Punkt ist. Wie wird eigentlich diese Verschränkung von parallelen und geschichtlichen Ereignissen und von Alltagsgeschichte verstehbar? Also diese Separiertheit von Geschichte ist was, wo man viele Möglichkeiten verschenkt, mehr Erkenntnis darüber zu gewinnen, wie das insgesamt hat funktionieren können."

    Zur Erkenntnis beitragen könnte eine umfassendere Erforschung von Tagebüchern aus der Zeit des Nationalsozialismus. Der Historiker Janosch Steuwer untersucht derzeit 150 solcher Werke aus 40 Archiven. Bislang sei diese Quelle nur auszugsweise in Büchern und Ausstellungen genutzt worden.

    Allerdings bedarf es einer besonderen Lesart, um Tagebücher als historische Quelle zu verwenden, sagt der Wissenschaftler von der Ruhr-Universität Bochum. Zentral sei, die Zwecke zu rekonstruieren, die Tagebücher damals für ihre Autoren erfüllten.

    "Die Idee dahinter ist die, dass Tagebücher von den Zeitgenossen als Werkzeuge benutzt werden, um sich mit dem NS-Regime auseinanderzusetzen. Dass sich nicht einfach nur das Leben in den Tagebüchern spiegelt und damit auch die nationalsozialistische Diktatur, sondern dass eine sehr dezidierte, sehr bewusste Beschäftigung mit den neuen Verhältnissen und der Frage, wie man sich selber dazu verhält, wie man dazu steht, stattfindet. Und das schlägt sich in Tagebüchern zum Beispiel nieder in eigenen Abschnitten, die Überschriften bekommen wie: ‚Meine Stellung zum Nationalsozialismus‘."

    Wie aber lassen sich Hunderte eigenwillig beschriebener Seiten für eine Ausstellung nutzen? Möglich wäre, an Beispielen zu illustrieren, wie sich ein konkretes Thema bei einem Menschen im Zeitverlauf entwickelt.

    "Das ist der große Vorteil von Tagebüchern, dass wir eben nicht nur eine einmalige Einschätzung zu einer Situation überliefert haben. Sondern dadurch, dass sie regelmäßig geschrieben sind, uns anschauen können: Wie verändert sich das über die Zeit? Durch welche Ereignisse verändert sich das durch die Zeit? Sind das bewusste Veränderungen, die thematisiert werden oder ist das etwas, was unterschwellig passiert?"

    Trotz aller Kritik – die Tagung präsentierte auch gelungene Ausstellungen. Zum Beispiel das Stadtmuseum in Schwedt an der Oder. Kürzlich war dort eine große Sonderausstellung zum NS-Alltag zu sehen: "Leben im Dritten Reich. Zwischen Einschulung und Einberufung. Schwedt in der Zeit von 1933 bis 1945". Die Leiterin der Städtischen Museen, Anke Grodon:

    "Ich wollte nicht Waffen zeigen, ich wollte keine Uniformen zeigen. Ich wollte das Leben zeigen und alle Strukturen, die sozusagen diese Zeit durchdrungen haben. Und deshalb auch ‘33 bis ‘45, dass man sich drauf einstellen kann, in welche Ausstellung man geht. Und nun ‚zwischen Einschulung und Einberufung‘. Einer dieser Zeitzeugen ist der Willi Wolf, geboren 1927. Und Sie können alle rechnen: Der ist 1933 eingeschult worden und 1945 ist der einberufen worden."

    Mit Hilfe von Zeitzeugen-Interviews und Lebensberichten, aber auch Dokumenten und privaten Leihgaben hat die Sonderausstellung genau hingeschaut - anders als die Dauerausstellung vor Ort, die nur die Zeit bis 1900 behandelt. Wer etwa saß im "braunen" Schwedt im Rathaus, wer war Mitglied der NSDAP?

    Als etwa 1941 die Gemeinderäte tagten und über die Enteignung des jüdischen Besitzes verhandelten, berichtete die Zeitung davon. Der Polizeihauptwachtmeister spielte hier ebenso eine Rolle wie der Spediteur. Öffentliche Dokumente, die Namen nennen, darf sie zeigen, ist Anke Grodon überzeugt. Die Nachgeborenen müssen sich damit auseinandersetzen.