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Neun Schauspieler, neun Geschichten, neun Stunden

"Lipsynch", lippensynchron, sind im Idealfall die hör- und die sichtbaren Äußerungen von synchronisierten Filmschauspielern. Der kanadische Regisseur Robert Lepage hat den Begriff als Titel für ein neunstündiges Theaterprojekt in Wien gewählt, das in neun Geschichten von Stimmen erzählt und wie sie die Bedeutung des Gesagten "bestimmen".

Von Christiane Enkeler | 13.05.2010
    Frédérike Bédard sitzt als Marie im Bademantel an einem Tisch auf der leeren Bühne. Sie nimmt sich selbst mit dem Computer auf. Die digitale Darstellung ihrer Stimme erscheint als Projektion im Bühnenhintergrund. Nach kurzer Zeit bewegt sie den Cursor wieder auf Start. Sie begleitet sich selbst mit einer zweiten Stimme.

    Marie trägt unter dem Kopfhörer einen Verband. Man hat sie am Gehirn operiert und ihr einen Tumor entfernt. Offenbar ist eingetreten, wovor sie Angst hatte: Sie hat die Sprache verloren. Marie ist Sängerin und singt ohne Worte.

    Sie wird wieder ein normales Leben führen: sogar als Synchronsprecherin, als Chorleitung; sie hilft später ihrer psychisch kranken Schwester und wird sich an die Stimme ihres Vaters erinnern, indem sie alte, stumme Familienaufnahmen synchronisiert und ihre Stimme verfremden lässt. Sie wird einen Mann kennenlernen. Dieser Mann ist ihr Neurochirurg, Thomas. Während Marie ihre Welt zusammenfügen muss, fällt seine auseinander.

    "Nach dem Johannes-Evangelium bezweifelte der Apostel Thomas die Auferstehung Jesu. Er verlangte, Jesu Wunde zu berühren, bevor er überzeugt war. In meinen Augen ist das die perfekte Metapher für den modernen Wissenschaftler."

    Thomas hat einen Tremor. Zweifel quälen ihn. Während seiner Krise projiziert eine Kamera die Szenen auf den Bühnenhintergrund. Dazu muss sie eine bestimmte Perspektive einnehmen: Denn auf der Bühne selbst besteht das Mobiliar von Thomas' Szene aus unzusammenhängenden Einzelteilen, die keinen Sinn ergeben. Wenn Hans Piesbergen als Thomas stürzt, fällt er - in der Projektion - sozusagen durch den Tisch hindurch.

    Robert Lepages Inszenierung zeigt in neun Stunden, getrennt durch fünf Pausen, neun Hauptfiguren. Das ist anstrengend. Es kann ermüden und überdrüssig machen. Die eigene Ermüdung kann uns aus den Stimmungen werfen, dann wirkt manches doch pathetisch oder kitschig. Aber es lohnt sich durchzuhalten.

    Das Team hat mit Psychologen zusammengearbeitet, um das Phänomen der Stimme kennenzulernen. Und nicht nur die Lebensgeschichten, sondern auch die Themen ziehen sich unglaublich geschickt und kunstvoll durch alle dargestellten Zeiten und Kontinente, zeigen voller Leichtigkeit, wie Großes im Alltag begegnet, haben erstaunlich viel mit Macht und Zufall zu tun, ohne jemals pompös aufzutreten.

    Sarah singt unbeholfen in einer Küche, da schaltet jemand das Radio ein. Für den moderierenden Tony im Radio ist seine geschmeidige Stimme eine Maske. Seine Schwester Sarah dagegen lässt sich über ihren kantigen Ton polizeilich identifizieren.

    Dreh- und Angelpunkt der Inszenierung ist ein blinder Fleck, eine Tote: eine sehr junge Frau aus Nicaragua, die in einem Flugzeug stirbt und ein Kind hinterlässt, Jeremy. Ihre letzte Videobotschaft, das Dokument einer Journalistin, die Zwangsprostituierten eine Stimme geben will und so Lupe, die junge Frau, angesprochen hat, schließt den Abend ab.

    Bis dahin sind wir mit unseren Projektionen konfrontiert, wie Jeremy, der als Regisseur ihre falsche Lebensgeschichte verfilmt.

    Somit ist Lepages "Lipsynch" auch eine lebendige Skulptur über das Erzählen: Wie alle Figuren müssen wir die Geschichte selbst Stück für Stück zusammenfügen. Um diese "Skulptur" muss man in kontemplativem Sehen herumgehen können. Das kann schon mal neun Stunden dauern.