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Norwegische Provinz Telemark
Ein Ort der Legenden

Nur an wenigen Orten treffen Natur und Technik so unmittelbar aufeinander wie in der norwegischen Provinz Telemark: Einerseits herrscht eine sattgrüne Idylle wie im Auenland, gleichzeitig wird hier aber bereits seit 1911 Ökostrom erzeugt. Die UNESCO hat das alte Kraftwerk und die dazugehörige Arbeitersiedlung in diesem Jahr zum Weltkulturerbe erklärt.

Von Isa Hoffinger | 29.11.2015
    Haus an einem See in grüner Landschaft
    Idylle in der norwegischen Provinz Telemark (imago/stock&people/Metodi Popow)
    "Über 100 Meter hoch ist dieser Wasserfall. Wenn du da draußen bist und direkt neben ihm stehst, dann spürst du, wie die Erde bebt. Eine Wahnsinns-Kraft ist das!"
    Rjukanfossen. So heißt der mächtige Wasserfall, der ein sagenumwobenes Kraftwerk speist: Vemork.
    Mit dem Bau dieses Kraftwerks katapultierte der Betreiber, die Firma Norsk Hydro, die bis dahin mitten im Niemandsland gelegene Gemeinde Rjukan ins Industriezeitalter. Im Jahr 1907 begann die Arbeit in Vemork. Das Werk befindet sich in der Kommune Tinn, in der norwegischen Provinz Telemark. Die Gegend macht bis heute einen idyllischen Eindruck. Die Natur ist lieblicher als in Fjordnorwegen, sie erinnert an das Auenland aus dem Film "Herr der Ringe". Es gibt viele sattgrüne Wiesen hier, urige Bauernhöfe, klare Flüsse, in denen Biber paddeln. Nicht weit von Vemork entfernt liegt die Hardangervidda, sie ist mit 75.000 Quadratkilometern Europas größte Hochebene. Nur selten treffen Natur und Technik so unmittelbar aufeinander wie in der Telemark: Seit 1911 wird in Vemork mit so genannten Pelton-Turbinen Öko-Strom erzeugt. Einige von ihnen sind noch im Original erhalten.
    "Die Bevölkerung explodierte wie in Chicago"
    Früher brauchten die Norweger den Strom nicht für die wenigen Häuser in der dünn besiedelten Gegend, sondern, um Kunstdünger für die Landwirtschaft herstellen zu können. Die Bauern hatten zuvor Guarano aus Chile verwendet, Dünger aus Vogelkot. Doch die Chilenen stellten die Lieferung irgendwann ein. Bei seiner Gründung vor 100 Jahren war Vemork das größte Kraftwerk der Welt. Heute befindet sich in dem riesigen, lichtdurchfluteten Gebäudekomplex mit den über zehn Meter hohen Hallen das Norwegische Industriearbeitermuseum. Wer Vemork besucht, besichtigt ein Weltkulturerbe. Im Juli dieses Jahres hat die UNESCO das Kraftwerk und die dazugehörige Arbeitersiedlung mit diesem Titel geadelt.
    "Die Gemeinde Rjukan wuchs und wuchs, in nur zehn Jahren. Die Bürogebäude und alle Häuser der Arbeiter, sogar die Bänke in den Straßen, wurden von Architekten entworfen. Davor gab es hier nur Wald. Dann zogen die ersten Arbeiter her. Und dann wurden es immer mehr. Zuerst waren es 800 Menschen, ein Jahr später lebten in Rjukan schon 8.000 Menschen. Die Bevölkerung explodierte damals genauso schnell wie die in Chicago."
    Einer der Gründer der Firma Norsk Hydro war Sam Eyde.
    "Diese Skulptur zeigt Sam Eyde. Er war Ingenieur und studierte in Oslo und in Berlin. Dann kehrte er nach Norwegen zurück."
    Deutschland war damals, Anfang des 20. Jahrhunderts, bekannt für seine hervorragende Ausbildung an den Universitäten in den Naturwissenschaften.
    "Im Zentrum von Rjukan gibt es noch eine andere lebensgroße Skulptur von Sam Eyde. Im oberen Stock unseres Museums hängen noch Fotos von ihm, da gehen wir nun hin."
    Widerständler sabotieren Pläne der Nationalsozialisten
    Eyde, Sohn eines Reeders, war eine schillernde Figur. Um diesen Patriarchen ranken sich jede Menge Mythen.
    "Im Jahr 1908 gab es eine große Springflut, der Schnee auf den Bergen schmolz nach einem langen, harten Winter, und die Wassermassen rauschten in einem irren Tempo die Hänge hinunter und zerstörten eine Brücke, am 3. Juni 1908 war das. Die Arbeiter der Norsk Hydro versuchten, die Brücke mit aller Kraft zu retten. Sam Eyde kam zur Unglücksstelle, er fuhr mit seinem roten Mercedes vor, zusammen mit seinem Chauffeur, und alles, was er von den erschöpften Arbeitern wissen wollte, war: "Wie geht es euch? Habt Ihr genug zu essen?"
    Vemork ist ein Ort der Legenden. Etwas Unwirkliches, Geheimnisvolles geht von ihm aus. Wenn, wie jetzt im Sommer, nach einem schwülen Tag graue Gewitterwolken über das Kraftwerksgebäude ziehen und den Backsteinkomplex mit seinen lang gezogenen Rundbogenfenstern in dunkle Schatten hüllen, sieht der imposante Bau ziemlich bedrohlich aus. Hochgefährlich war auch eine Aktion der Alliierten während des Zweiten Weltkriegs. Die Nationalsozialisten wollten in Vemork "Schweres Wasser" herstellen, um damit eine Atombombe zu bauen. Norwegische Widerstandskämpfer und die Alliierten sabotierten das:
    "Am 18. Oktober 1942 sprang die Gruppe Grouse mit Fallschirmen über der Hardangervidda ab. Die Männer landeten leider in unwegigem Gelände, etwa 15 Kilometer westlicher als geplant. Am 19. November sollte das englische Sonderkommando Freshman mit zwei Airspeed-Horsa-Fliegern dazu stoßen. Die Operation wurde ein Fiasko: Wegen der schlechten Sicht konnte der Einsatzort nicht erreicht werden. Die Männer wurden zurückbeordert und mussten wegen einer starken Vereisung ihre Gleiter ausklinken. Nach dem Absturz einer Maschine und einer missglückten Notlandung der beiden Gleiter fanden 41 Briten den Tod: Alle 23 Überlebenden des Unglücks wurden von den Nazis gefangen genommen, verhört und - gemäß Führererlass - hingerichtet. Ende Februar 1943, also mehr als vier Monate, nachdem die erste Gruppe in Norwegen gelandet war, begann die Operation Gunnerside: Sechs weitere Spezialeinheiten wurden eingeflogen, um die Schwerwasser-Herstellung in Vemork per Sprengung zu sabotieren. Die Aktion wurde in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1943 erfolgreich durchgeführt. Alle zehn Beteiligten entkamen unerkannt."
    Die zweite große Attraktion in dieser Provinz ist der Telemark-Kanal. Über 105 Kilometer erstreckt sich diese Wasserstraße, von der Schärenlandschaft Südtelemarks bis nach Dalen am Rande der Hardangervidda. Gebaut wurde der Kanal für den Transport von Baumstämmen. Ende des 19. Jahrhunderts. Heute transportieren die beiden Schiffe, die den Telemark-Kanal befahren, nur noch Wanderer, Radler - und natürlich Touristen.
    In Fjagesund gehen wir an Bord der "Henrik Ibsen". Sie ist ein schönes, altes Schiff mit honigfarbenen Holzplanken, etwa 30 Meter lang und sechs Meter breit. Rund 200 Passagiere kann sie aufnehmen. Die Norweger haben versucht, sie stilvoll auszustatten: An Deck hängen Blumenampeln mit weißen Begonien. Die Gäste sitzen auf zierlichen Holz-Bänken, eingewickelt in rote Fliesdecken, die sie vor dem kühlen Fahrtwind schützen.
    18 historische Schleusen, die immer noch von Hand betrieben werden, gleichen die Höhenunterschiede von insgesamt 72 Metern aus.
    Die mystische Kraft der Natur
    Der Telemark-Kanal führt über weite Strecken durch Seen, die schon vor dem Bau vorhanden waren und verbindet sie miteinander. Der Teil von Skien bis Norsjø ist der älteste. Er wurde von 1854 bis 1861 gebaut. Bis zum Jahr 2006 wurde hier noch geflößt. Die Baum-Stämme wurden zu Gestören zusammengebunden, dadurch konnten enorme Holzmassen über das Wasser zu den Industriebetrieben gebracht werden. Das Highlight auf dieser Fahrt ist die Vrangfoss-Schleuse. Sie befindet sich zwischen den Orten Ulefoss und Lunde. Links und rechts schirmt eine dicke Steinmauer den Kanal vom Festland ab. Unterhalb der Schleuse steht ein altes Sägewerk, das auch noch heute in Betrieb ist. Hier werden die Schleusentore aus Holz gezimmert. John Harold Aspheim erklärt, was es mit dem Namen dieser Schleuse auf sich hat.
    "Foss bedeutet Wasserfall, Vrang heißt: harte Arbeit. Diesen Teil des Kanals zu bauen war unheimlich schwer. Dreihundert Menschen arbeiteten fünf Jahre lang, nonstop. Hauptsächlich im Winter, weil es leichter war, die Schleuse zu bauen, während das Wasser gefroren war. Unser Holz war früher sehr begehrt. In London gab es einmal einen großen Brand, im Jahr 1666, darum war die Nachfrage nach Holz aus dem Ausland sehr groß. Auch einige Häuser in Venedig wurden mit norwegischem Holz gebaut."
    An der Vrangfoss-Schleuse gehen wir von Bord der "Henrik Ibsen" und verabschieden uns von Norwegen.
    Wiederkommen werden wir bestimmt. Um die mystische Kraft der Natur zu spüren. Die bizarren Spiegelungen der Wolken in den Flüssen zu beobachten. Und um zuzusehen, wie die Schneeschmelze im nächsten Jahr die Fjorde anschwellen lässt.