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Özdemir: Europa muss Handlungsfähigkeit zeigen

Auch nach den Beschlüssen des EU-Sondergipfels hält Grünen-Chef Cem Özdemir die Schuldenkrise in Europa noch nicht für gelöst. Er plädiert für eine Transaktionssteuer und für eine europäische Bankenaufsicht.

Cem Özdemir im Gespräch mit Christel Blanke | 24.07.2011
    Christel Blanke: Alle blicken an diesem Wochenende fassungslos nach Norwegen. Der 32-Jährige, der zugegeben hat, wohl mehr als 90 Menschen getötet zu haben, nennt seine Taten scheußlich, aber notwendig. Er soll einen rechtsextremen Hintergrund haben. Sie, Herr Özdemir, haben gesagt, man darf rassistischen und fremdenfeindlichen Ideologien keinen Fußbreit Raum lassen. Was müssen wir dafür tun?

    Cem Özdemir: Also, erst mal macht einen so etwas sprachlos, weil - ich glaube, es gibt nicht eine Maßnahme, mit der man das verhindern kann. Wenn es tatsächlich ein Einzeltäter war, dann ist auch die Polizei da mit ihrem Latein wahrscheinlich am Ende erst mal, denn wie will man einen Einzeltäter im Vorfeld ausfindig und dingfest machen. Aber was natürlich auch klar ist: Keiner kommt als Rechtsradikaler, als Extremist auf die Welt, sondern man wird zum Extremisten, zum Rechtsradikalen, zum Rassisten, zum Menschenfeind, zum Fundamentalist durch Erziehung, durch Umstände im Leben. Und da gilt es, hinzuschauen, da gilt es nicht, wegzuschauen. Das heißt konkret: Im Idealfall wächst man in der Familie auf, die einem eben Toleranz, Menschenliebe, die Werte, die auch in den Vereinten Nationen als gemeinsame Werte von Juden, Christen, Muslimen, Atheisten angesehen werden, durchs Elternhaus vermittelt. Dort, wo das aber nicht passiert - und leider gibt's diese Familien eben offensichtlich nicht zu knapp -, da ist es die Aufgabe des Staates mit seinen Einrichtungen hier, vor allem der Schulen, dann eben auch im Konfliktfall gegen die Eltern an zu erziehen und diese Werte des Zusammenlebens, der Toleranz, der Menschlichkeit zu vermitteln. Und das scheint hier offensichtlich nicht der Fall gewesen zu sein. Also auf gut Deutsch: Ich wünsche mir und erwarte, dass das, was in der Verfassung drin steht, nämlich dass alle Menschen gleich sind - also die Werte aus der Französischen Revolution abgeleitet - dass wir diese Werte auch tatsächlich versuchen, unseren Kindern zu vermitteln.

    Blanke: Tun wir in Deutschland, auch vonseiten der Politik, genug dafür?

    Özdemir: Also, ich habe schon manchmal so das Gefühl, dass - ich will das jetzt nicht ausnützen für politisches Klein-Klein, dafür ist die Tat einfach zu dramatisch und zu schlimm, aber ich habe mit manchen Freunden geredet - unmittelbar, als die Nachrichten kamen, die mir dann gesagt haben: "Hoffentlich war es kein Islamist". Warum sagen die das? Weil sie Angst vor den Reaktionen hatten, nämlich dass es dann wieder abgeht und dass es dann wieder heißt, die Muslime sind Extremisten oder der Islam ist anfällig für Extremismus. Jetzt war es jemand, der ein christlicher Fundamentalist ist, der ganz offensichtlich gar keinen muslimischen Hintergrund hat, rechtsradikal, christlich. Ich würde nie hergehen und sagen: Das ist das Christentum, es sind die Christen, es sind die Europäer, es sind die Weißen. Manchmal passiert das aber andersrum schon. Also wenn es jemand mit muslimischem Hintergrund war, dann sind es immer die Muslime, dann ist es der Islam. Es gibt ja auch diesen Berufsstand mittlerweile der Islamkritiker in Deutschland, manche davon verkaufen ja auch Bücher, die dann von großen Zeitungen entsprechend promotet werden und in bestimmte Stadtteile geschickt werden für bestimmte komische Aktionen. Also was ich damit sagen will, ist: Die Geisel des Radikalismus, des Fundamentalismus gibt es in allen Religionen. Wir sollten aufhören, mit dem Finger auf einzelne Religionen zu zeigen, sondern alle Menschen, die guten Willens sind, egal ob sie Christen, Juden, Muslime, Atheisten - was auch immer sind. Sie müssen zusammenarbeiten und nicht gegenseitig mit dem Finger aufeinander zeigen.

    Blanke: Diese Woche, Herr Özdemir, stand weitgehend im Zeichen der Griechenlandhilfe. Fast alles, was da jetzt beschlossen wurde in Brüssel, hatten auch die Grünen gefordert. Droht nun also nicht wieder in ein paar Wochen die nächste Krise, ist jetzt alles auf einen guten Weg?

    Özdemir: Das hoffe ich nicht, ich hoffe es vor allem nicht für die Zukunft Europas, des Euro, aber auch für die Menschen in Griechenland. Ich weilte jüngst in Griechenland, und wenn man sieht, wie dort Läden geschlossen werden, nicht neu vermietet werden können, wenn man sieht, wie Menschen von einem Tag auf den anderen 20 Prozent ihres Gehaltes verlieren, manche sogar deutlich mehr, dass allerdings die Einkaufskosten oder die Lebenshaltungskosten sich von den unseren nicht unterscheiden. Wer in Griechenland schon mal Urlaub gemacht hat, weiß ja: Billig ist es da nicht. Insofern glaube ich, ist das eine dramatische Situation. Und es ist wichtig für die Zukunft der Demokratie, dass die Menschen den Glauben daran, dass man über Wahlen Dinge verändern kann, dass diejenigen, die gewählt sind, einen zu vertreten - die Regierungen - dafür sorgen, dass es irgendwie besser wird. Wenn dieser Glaube mal verloren geht, dann gibt's große Gefahren, dass sie sich extremen Richtungen zuwenden. Und das, gilt es zu verhindern. Insofern glaube ich, müssen wir zwei Dinge leisten. Wir müssen nach innen dafür sorgen, dass die Zahl derer, die sich abwenden von Europa und dann extremen Parteienbewegungen zuwenden - die gibt es ja überall in Europa mittlerweile -, dass die nicht weiter zunimmt. Und nach außen hin müssen wir zeigen, dass Europa handlungsfähig ist, denn ansonsten wird die Spekulation gegen den Euro-Raum nicht abnehmen. Die Spekulanten machen es ja nicht nur, weil sie böse Menschen sind, sondern sie machen es vor allem deshalb, weil sie das Gefühl haben, dass Europa nicht gut geführt wird, dass der Euro nicht gut verteidigt wird. Und überall da wo sie das riechen und da, wo sie quasi dieses Gefühl haben, da wird entsprechend spekuliert. Erst mal haben wir eine gute Lösung für Griechenland, die jetzt, denke ich, vorübergehend helfen dürfte. Ob auf Dauer, da kann man ein Fragezeichen dahinter machen. Was mir aber große Sorgen macht, ist, dass die Länder, die ja nach wie vor große Schulden haben, wie Spanien, wie Portugal, es mit höchsten Zinsen zu tun haben. Und das weiß jeder Häuslebauer: Wenn die Zinsen steigen, dann wird die Tilgung nicht einfacher werden, sondern im Gegenteil. Dann wird es schwieriger - bis zu dem Punkt, wo man eines Tages nicht mehr seine Schulden leisten kann. Und insofern befürchte ich: Das war nicht der letzte Euro-Gipfel, mit dem wir uns beschäftigen werden.

    Blanke: Wir haben ja jetzt auch die Möglichkeit, das heißt, wir haben sie noch nicht, sie muss geschaffen werden, dass der Euro-Rettungsfonds auch künftig Euro-Staatsanleihen kaufen soll. Dafür müssen die Rahmenbedingungen geändert werden, das soll jetzt passieren. Das wird dann so eine Art Europäischer Währungsfonds. Können sich dann die Krisenstaaten nicht eigentlich auch gelassen zurücklehnen und sagen: Na ja gut, wenn es hart auf hart kommt, dann springen die anderen doch ein?

    Özdemir: Nein, schon allein deshalb nicht, weil sie - glaube ich - alle gemerkt haben, dass es in ihrem eigenen Interesse liegt, dass sie ihre Länder so weit auf Vordermann bringen, dass sie vernünftig Haushalten. Dazu gehört, dass sie eigene Einnahmequellen haben, die dauerhaft sind, das heißt, eine gewisse Diversifizierung der Wirtschaft. Da tun sich ja spannende Dinge auf - in Griechenland die Diskussion darüber, wie man erneuerbare Energien beispielsweise stärker nutzen kann - nicht nur, um die Abhängigkeit von teurem Öl, von teuren Einfuhren von Rohstoffen, von Energie zu reduzieren. Auf der anderen Seite aber eben halt auch, wie man Einnahmequellen generiert, nämlich wenn man so viel Erneuerbare hat - Griechenland kann das ja -, dass man über den Eigenbedarf hinaus Erneuerbare produziert. Da sind wir aber auch schon bei dem nächsten Problem. Selbst wenn Griechenland das machen könnte und machen würde, hätten sie gar nicht die Netze, um den Strom zu uns zu transportieren. Also da gibt es eine Menge zu tun - interessante Quellen auch für Engagement für unsere Wirtschaft, für die deutsche Wirtschaft. Was ich allerdings nach wie vor mit Sorge sehe, ist: Das wird nicht reichen, solange wir nicht auch zu einer europäischen Fiskalpolitik kommen, zu einer europäischen Wirtschaftspolitik kommen - und eigentlich auch zur europäischen Sozialpolitik kommen, wo wir gemeinsam Fragen auf europäischer Ebene koordinieren. Solange das nicht der Fall ist, werden wir große Disparitäten, also Unterschiede innerhalb der Euro-Zone haben - und eine gemeinsame Währung, aber zugleich riesige Unterschiede in der Art, wie wir wirtschaften. Das wird auf Dauer nicht gut gehen. Der erste Schritt, die Einführung des Euro, war ein guter und notwendiger Schritt. Aber was damals die Mütter und Väter des Euro sich wünschten, nämlich dass dem weitere Schritte folgen, das hat nie geklappt.

    Blanke: Das ist ja auch der Grund, warum viele Beobachter jetzt sagen: Die Finanzpolitik diktiert eigentlich, was geschehen muss, weil es eben diese politische Union, diese Wirtschaftsunion nicht gibt. War das denn das jetzt, was in Brüssel passiert ist, das kraftvolle Signal, um zu sagen: Ja, wir haben jetzt den Primat der Politik zurückerobert?

    Özdemir: Na ja, man kann sich ja die europäischen Spitzenpolitiker nicht basteln, es gibt halt die, die es gibt. Über Frau Merkel und Herrn Junker ist schon viel geschrieben worden. Da will ich jetzt nicht viel hinzufügen. Aber Entscheidungsstärke ist sicherlich nicht im Kanzleramt gegenwärtig angesiedelt. Trotzdem hat Frau Merkel mehr gemacht, als sie ursprünglich vorhatte. Vieles von dem sind ja Dinge, die wir Grünen immer gefordert haben. Insofern ist klar, das ist ein richtiger Schritt in die richtige Richtung. Ob er allerdings reicht, das werden die Reaktionen auf den Märkten zeigen. Ich befürchte, für eine dauerhafte Rettung des Euros reicht es nicht aus, denn wir haben uns jetzt auf Griechenland konzentriert. Aber ich habe ja gerade schon gesagt, das eigentlich Dramatische ist ja, dass die Länder, die bei der Staatsverschuldung die größten Probleme haben, die höchsten Zinsen zahlen. Und das macht keinen Sinn, denn das wird nicht funktionieren. Im Falle von Italien wird das schon gar nicht funktionieren. Wir werden auf Dauer um die Frage der Euro-Bonds nicht drum rum kommen. Wir haben jetzt einen ersten Schritt in die Richtung gemacht, aber ich glaube, dass die Diskussion erneut auf die Tagesordnung kommen wird. Und es wird wie immer sein: Frau Merkel sagt das Gegenteil und macht dann doch das am Ende, was die Grünen gefordert haben.

    Blanke: Müssen die privaten Gläubiger noch mehr eingebunden werden, als jetzt geplant? Also, zum einen ist es ja nur freiwillig, und die SPD fordert ja nach wie vor eine Besteuerung des Finanzmarktes, also Transaktionen zu besteuern. Wollen die Grünen das auch?

    Özdemir: Es ist ja eine langjährige grüne Forderung. Ich begrüße, dass die SPD das auch fordert. Die Regierung sagt das zwar, aber sie tut nichts dafür. Wir brauchen so eine Transaktionssteuer, weil sie insgesamt auch helfen würde, die Märkte zu beruhigen, um natürlich eben auch eine Beteiligung derer, die verdient haben an den Krisen, mit sich bringen würde. Aber es kann so eine Steuer halt idealerweise weltweit - das wird nur sehr schwierig umzusetzen sein, weil viele Akteure dagegen sind, aber innerhalb Europas würde das gehen. Und ich gehe noch einen Schritt weiter. Ich könnte mir das auch gut vorstellen als eine Einnahmequelle für Brüssel. Wir reden ja in diesen Tagen darüber, wie der Brüsseler Haushalt finanziert werden soll. Ich könnte mir gut vorstellen, dass so eine Transaktionssteuer auch eine Einnahmequelle für Brüssel wäre, damit Brüssel über eigene Einnahmen verfügt. Man könnte sich dann überlegen, ob das gegebenenfalls verrechnet, wird mit dem, was die Mitgliedsländer nach Brüssel gegenwärtig abführen. Das ist ja nicht sehr viel, gemessen am Bruttoinlandsprodukt und gemessen an dem, welche Bedeutung Brüssel ja hat und auch in Zukunft stärker bekommen wird. Aber das wäre eine spannende Diskussion, über die man sich einmal unterhalten sollte. Dass wir so eine Transaktionssteuer brauchen, scheint mir offensichtlich, genau so wie eine Bankenabgabe nur auf europäischer Ebene Sinn macht, und genau so, wie wir dringend eine europäische Bankenaufsicht bräuchten und genau so, wie wir dringend eine europäische Politik bräuchten, was die Ratingagenturen angeht, damit wir die Abhängigkeit von Ratingagenturen in den USA reduzieren. Denn wir haben im Fall von Portugal ja jüngst wieder gesehen, dass die Entscheidungen der Ratingagenturen ja nicht aufgrund der Fakten "on the ground", wie man so schön sagt, also vor Ort erfolgen, sondern sie erfolgen vor allem auf der Grundlage dessen, inwiefern man das Gefühl hat, dass Brüssel entsprechend führt oder nicht führt. Aber mit der Situation vor Ort hat das oft sehr wenig zu tun.

    Blanke: Stuttgart 21, Herr Özdemir, so wie es aussieht, hat die Bahn den Stresstest bestanden. Die Landesregierung erkennt das auch an, die Grünen allerdings mit langen Zähnen. Boris Palmer, der grüne Oberbürgermeister von Tübingen, fordert jetzt einen weiteren Stresstest mit anderen Kriterien. Muss man nicht auch mal die Kirche im Dorf lassen?

    Özdemir: Also, der Boris Palmer kennt sich halt aus, und das ärgert sicherlich viele bei der Bahn, dass man es da halt mit einem Bahnexperten zu tun hat. Wir haben ja in letzter Zeit bei der Bahn häufig Entscheidungen gehabt, dazu würde ich auch Stuttgart 21 zählen, die bahnfremden Interessen dienen. Das fällt in die Kategorie Transrapid, wo die Politik der Bahn bestimmte Projekte aufgeschwatzt hat oder aufs Auge gedrückt hat, die aber nicht das bedienen, was eigentlich ursprünglich mal Zweck der Bahn war, nämlich Menschen von A nach B zu bringen, möglichst pünktlich, möglichst sauber, möglichst zuverlässig. Davon hat sich die Bahn leider Gottes sehr entfernt. Als regelmäßiger Bahnbenutzer kann ich Ihnen sagen, im Winter weiß man, es gibt keine beheizbaren Weichen, deshalb fallen Züge aus. Im Sommer kann man sich schon fast darauf verlassen, dass im ICE die Klimaanlage mal wieder nicht funktioniert, die Leute dann irgendwie aus dem Zug heraus geholt werden, wenn die Älteren das nicht aushalten können. Und wenn ich mit meiner Tochter im Zug sitze und aufs Klo möchte und mich dann wieder drüber freuen darf, dass das Klo nicht funktioniert, weil es verstopft ist, wenn ich in Berlin in der S-Bahn mich drauf verlassen kann, dass in der Hauptstadt Deutschlands, in der viertgrößten Volkswirtschaft, die S-Bahnen nicht funktionieren, weil sie nicht gewartet worden sind, dann sage ich herzlichen Dank für Stuttgart 21, denn da fließt das Geld hin. Und für den Rest, für die Rheintal-Bahn haben wir kein Geld, für den Ausbau der Strecke Mannheim-Frankfurt, was wir bräuchten, haben wir kein Geld. Und mit einem Bruchteil des Geldes - man muss es einfach immer wieder sagen, damit, selbst wenn der Bahnhof gebaut werden sollte, müssen es alle einfach gehört haben, denn ich will dafür keine Verantwortung übernehmen, und wir Grünen wollen das auch nicht. Wir werden es gesagt haben . . .

    Blanke: Aber er wird jetzt gebaut.

    Özdemir: Das wissen wir nicht. Das werden wir sehen. Die Auseinandersetzung ist nicht zu Ende. Wir haben jetzt eine Etappe gehabt, was den Stresstest angeht. Es gibt ja eine andere Hürde, das sind die Kosten. Wir haben gesagt 4,5 Milliarden. Man muss sich übrigens die Summe mal auf der Zunge zergehen lassen: 4,5 Milliarden für einen einzigen Bahnhof, wo man mit einem Bruchteil des Geldes den bestehenden, pünktlichsten Bahnhof Deutschlands modernisieren könnte. Und der wird dann wahrscheinlich mehr leisten als der unterirdische Bahnhof. Aber nur, weil einige Mal beschlossen haben, dass Stuttgart einen unterirdischen Bahnhof braucht, wird er noch nicht gebaut. Wir werden uns an die Zusage halten, wenn es mehr als 4,5 Milliarden sind bei den Kosten, dann macht Baden-Württemberg da nicht mit. Und da wollen wir schauen, ob der Bund noch ein paar Millionen irgendwo im Kanzleramt gebunkert hat für den Bahnhof, wenn er ihm so wichtig ist. Das Land wird über das, was zugesagt ist, keinen Euro und keinen Cent zusätzlich zahlen.

    Blanke: Es gibt seit dieser Woche eine neue EU-Richtlinie, die unter anderem Atommülltransporte aus EU-Staaten in Drittländer erlaubt. Wäre das eine Lösung auch für unser Endlagerproblem?

    Özdemir: Garantiert nicht, denn da gilt das Verursacherprinzip. Ich meine, wir Grünen könnten uns ja einen schlanken Fuß machen und sagen, wir waren immer gegen Atomenergie, insofern auch gegen Atommüll. Aber es gibt halt diesen Atommüll nun mal, und man muss sich verantwortungsvoll um ihn kümmern. Bislang hat die Politik, so ein bisschen ähnlich wie bei Stuttgart 21, mit dem Finger auf die Karte gezeigt und gesagt: Ach, hier ist Gorleben, früher an der DDR-Grenze, dünn besiedelt, da kommt der Atommüll hin. Und wissenschaftliche Kriterien spielten nur eine sehr untergeordnete Rolle. Das wollen wir ändern. Wir sagen, wir brauchen ein Endlagersuchgesetz, das ergebnisoffen ist in der Standortsuche und was die Gesteinsformation angeht nach rein wissenschaftlichen Kriterien. Und wenn die Wissenschaft uns sagt, was die am wenigsten schlimme Lösung ist, denn eine richtig gute Lösung wird es nicht geben für Müll, den man dann für Ewigkeiten von der Außenwelt, von unseren Kindern und deren Kindeskindern abhalten muss, dann muss die Politik allerdings auch entscheiden. Das wird jetzt eher gehen, wenn klar ist, dass kein neuer, zusätzlicher Atommüll hinzugefügt wird durch den Atomausstieg, den wir ja mitbeschlossen haben. Aber einfach wird das nicht. Das gebe ich Ihnen mit Brief und Siegel. Und eines muss dabei klar sein: Deutscher Atommüll bleibt in Deutschland, der kommt nicht in Länder außerhalb der Europäischen Union. Das wäre unverantwortbar. Ich mache mir große Sorgen, wenn ich mir anschaue, wie beispielsweise in Russland der Atommüll überirdisch gelagert wird. Da kann man sich ja vorstellen, welche Gefahren da lauern. Und wenn man sich daran erinnert, dass früher der Atommüll auch verklappt wurde im Meer, dann kann man sich auch vorstellen, welche Gefahren da noch lauern. Insofern sollte man den bestehenden Atommüll, den wir in Deutschland haben, nach höchsten Sicherheitskriterien lagern.

    Blanke: Und wenn die am wenigsten schlimme Expertise dann heißt, Gorleben, tragen die Grünen dann Gorleben mit?

    Özdemir: Also, Gorlebern ist ein politischer Standort gewesen, kein wissenschaftlicher. Ich glaube, er ist politisch verbrannt. Wir brauchen eine neue Standortsuche. Ich begrüße, dass Winfried Kretschmann, der Ministerpräsident von Baden-Württemberg, sehr viel Mut gezeigt hat, indem er gesagt hat, ergebnisoffen heißt natürlich nicht, dass er dann auch in Gorleben landen muss, sondern ergebnisoffen heißt auch, dass er in Baden-Württemberg landen muss. Und das heißt hoffentlich für Herrn Seehofer auch, der ja bis vor Kurzem großer Befürworter der Atomenergie war, jetzt so mit Dreadlocks und mit Anti-Atom-Button durch die Republik läuft, Bayern kann man da auch nicht ausschließen. Also, ich glaube nicht, dass alle CSU-Mitglieder Geologen sind und sich mit Gesteinsformationen sehr gut auskennen. Da würde ich doch sagen, das überlassen wir der Wissenschaft.

    Blanke: Bis 2015 muss Deutschland nun nach dieser EU-Richtlinie einen konkreten Plan vorlegen, wie es mit der Endlagersuche weiter gehen soll. Die Bundesregierung hat angekündigt, dass sie das bis Ende des Jahres zumindest in einem Gesetzesentwurf schon einfließen lassen will. Wie konkret muss der denn werden? Reicht es aus, wie Sie es gemacht haben, zu sagen, dann suchen wir mal in Baden-Württemberg und vielleicht auch in Bayern und ein bisschen noch in Niedersachsen, oder brauchen wir für diesen Gesetzentwurf dann wirklich schon konkrete Standorte, wo man sagt, da suchen wir?

    Özdemir: Umgekehrt. Wir fangen von Null an, denn bislang gab es keine Standortsuche, die wissenschaftlichen Kriterien genügt, sondern - ich habe das ja gerade gesagt - man hat damals sich angeschaut an der Grenze zur DDR, da gibt es ein Gebiet, da ging man davon aus, die werden sich schon nicht wehren, die werden froh sein, wenn sie Geld kriegen - strukturschwach, damals eher noch nicht so wohlhabend und da kommt das hin. Und das wird so nicht funktionieren, denn das mag als Kriterium für Schwarz-Gelb ausreichen. Uns reicht das nicht aus. Wir wollen dann schon auch wissenschaftliche Kriterien und geologische Kriterien einbeziehen. Und auf der Grundlage muss jetzt ein Gesetzentwurf vorgelegt werden, der der Wissenschaft jetzt erst mal den Vortritt lässt. Und wenn die Wissenschaft dann zu Ergebnissen kommt und sagt, diese Gesteinsformation ist die am ehesten geeignetste, dann weiß man ja, wo es diese Gesteinsformation gibt. Einige davon finden sich im Süden, über die man gegenwärtig diskutiert. Dann wird man schauen, wo sind diese Gesteinsformationen in bester Form, wo liegen die vor. Und dann beginnt allerdings das Schwierige, nämlich dass man dann irgendwann mal entscheidet und sagt, da kommt es jetzt hin. Die werden sich vor Ort sicherlich nicht freuen, da gebe ich Ihnen Brief und Siegel. Aber das wird parteiübergreifend so sein. Da werden alle vor Ort dagegen sein. Wenn ich dort wohnen würde, würde ich mich auch nicht drüber freuen. Aber irgendwo muss halt der Atommüll mal hin, und der muss halt so gelagert werden, wie man das mit dem Stand des Wissens, den wir heute haben, am besten machen kann. Aber ich sage Ihnen, mir macht das auch schlaflose Nächte. Noch mehr schlaflose Nächte macht es mir, wenn ich mir vorstelle, dass es Länder auf der Welt gibt, die sich ja sogar überlegen, jetzt noch neu in die Atomenergie einzusteigen wie die Türkei beispielsweise. Und wenn ich mir dann vorstelle, wie dort der Atommüll gelagert werden soll, in einer Erdbebenzone, dann kann man sich vorstellen, welche Gefahren mit dieser Energieform verbunden sind. Insofern freue ich mich, dass wir jetzt endlich nach so langer Zeit aus der Atomenergie beschlossen haben, auszusteigen. Ich wünsche mir vor allem, dass es viele Nachahmer findet, denn der Kampf gegen die Atomenergie, der ist ja noch längst nicht zu Ende. Wir werden den mit vielen anderen Ländern noch führen müssen und zugleich natürlich den Kampf für den Einstieg in Erneuerbare. Und da erwarten uns viele Aufgaben.

    Blanke: Der Kampf gegen die Atomenergie und der Kampf gegen Stuttgart 21, wenn man das so platt sagen will, kann man sagen, diese Proteste haben Sie in Stuttgart in Regierungsverantwortung gespült. Im September wollte Renate Künast das in Berlin wiederholen - also nicht die Proteste, aber sie möchte gerne Regierende Bürgermeisterin werden. Die jüngsten Umfragen sprechen nun aber wieder für eine Fortsetzung von Rot-Rot. War das also doch nur ein Strohfeuer?

    Özdemir: Also, wenn man den gleichen zeitlichen Abstand jetzt auf die Baden-Württemberg-Wahl überträgt, wie jetzt Berlin, zu dem Zeitpunkt waren wir weit weg davon, den Ministerpräsidenten in Baden-Württemberg zu stellen. Am Ende ist es aber anders gekommen, wie man weiß.

    Blanke: Aber in Berlin waren Sie schon mal dichter dran, den Umfragen nach.

    Özdemir: Ja, auch in Baden-Württemberg gab es schon mal ein Auf und Ab bei den Wahlen. Das gehört dazu, dass Umfragen mal hoch und mal runter gehen. Wir haben mit Renate Künast eine Fighterin. Wer sie noch kennt aus der Zeit als Ministerin für Landwirtschaft und Verbraucherschutz weiß, wie sie den Saal umdrehen kann, weiß, dass sie gerade dann, wenn es richtig hart auf hart kommt, ihre stärksten Qualitäten entwickelt. Insofern, glaube ich, wird es noch ein spannender Wahlkampf auf der Zielgeraden. Wir werden jedenfalls massiv vom Bund aus mit anpacken, denn wir wissen, das ist eine wichtige Wahl für uns. Wir wollen, dass die Grünen in die Regierung kommen in Berlin. Das entspricht ja auch dem Wunsch der meisten in Berlin, und - wenn es nach uns geht - gerne auch als Nummer Eins und nicht als Nummer Zwei.

    Blanke: Winfried Kretschmann macht in Baden-Württemberg ja schon vor, dass man auch mit den schwarzen Parteien zusammenarbeiten kann, in seinem Fall mit der CSU in Bayern. Da funktioniert auf manchen Ebenen einiges ganz gut. Wie wäre es denn mit Schwarz-Grün oder Grün-Schwarz in Berlin?

    Özdemir: Das sind jetzt aber zwei Paar Stiefel. Also, dass ein Ministerpräsident mit dem Ministerpräsidenten des Nachbarlandes eng zusammenarbeitet, halte ich für normal. Da sollte das Parteibuch auch nur eine untergeordnete Rolle spielen. Herr Seehofer hat am Anfang ja sich etwas despektierlich geäußert mit der Abwerbung von Unternehmen und sonstigen Dingen. Da hat der Winfried Kretschmann sehr cool reagiert, wie es seiner Art entspricht, hat ihn erst mal sich abreagieren lassen und danach hat er das gemacht, was man unter erwachsenen Leuten machen sollte, nämlich dass man sich zusammensetzt, sich verständigt und dann guckt, ob man nicht gemeinsame Interessen hat. Und die haben ja beide Länder. Beide Länder wollen, dass man im On-Shore-Bereich schneller vorangeht, was die Nutzung der Windenergie angeht. Beide Länder haben gemeinsame Interessen im Länderfinanzausgleich. Die wird man in Berlin vermutlich anders sehen, aber in Baden-Württemberg und in Bayern gibt es halt nun mal diese Interessen. Und dass sie sich da zusammensetzen, ist normal. Was die Wahl 2013 angeht und die Wahl in Berlin angeht, auf der Landesebene entscheiden bei uns immer die Landesverbände. Das ist gute Übung so. Die schauen, mit wem man grüne Politik am besten umsetzen kann. Im Regelfall ist es so, dass die SPD uns deutlich näher steht in vielen Fragen. Aber vor Ort wird entschieden, was geht und was nicht geht. Und im Bund wird entschieden, wenn die Entscheidung ansteht. Und da ist auch klar, die SPD steht uns in zentralen Feldern, der Umweltpolitik, der Sozialpolitik, der Außenpolitik, auch der Europapolitik jetzt wieder jüngst näher, als die CDU/CSU. Aber wir machen keine Ausschließeritis.

    Blanke: Sie haben mit Blick auf 2013 jetzt vorgeschlagen, dass Sie Ihrer Basis vorschlagen wollen, die Satzung zu ändern, und zwar damit die Basis über die Kandidaten für die Bundestagswahl 2013 selber entscheiden kann. Was versprechen Sie sich davon?

    Özdemir: Also nicht nur über den Kandidaten oder die Kandidatin oder die Kandidaten, sondern überhaupt soll das Instrument Urabstimmung gestärkt werden. Das wollen wir diskutieren auf unserer Herbstklausur im Bundesvorstand und dann dem Bundesparteitag vorschlagen. Wir diskutieren über Demokratie, über Bürgerbeteiligung, über die Frage, wie man direkte Demokratie stärken kann, und die Grünen sind ja die Champions der Bürgerbeteiligung, der direkten Demokratie. Und da sieht es natürlich ein bisschen komisch aus, wenn man das in der eigenen Partei nicht auch auf dem Stand der Diskussion von heute entwickelt und macht. Und deshalb die Diskussion. Und das macht, glaube ich, Sinn. Ob wir dann auch über die Frage der Spitzenkandidaturen entscheiden werden, das werden wir dann sehen, wenn es so weit ist. Aber das Instrument wollen wir schon mal schaffen.

    Blanke: Wir haben schon darüber gesprochen, Herr Özdemir. Sie waren in Griechenland. War das auch gleichzeitig schon Ihr Sommerurlaub oder geht es jetzt noch ab in die Ferien?

    Özdemir: Ich mache eigentlich immer ganz selten Sommerurlaub, weil meine Frau aus Argentinien kommt und wir dann immer gucken, dass wir antizyklisch reisen, das heißt wenn, dann eher über Weihnachten oder zu den Osterferien. Das heißt, unser Urlaub kommt erst noch. Das war jetzt mehr Arbeit. Ich habe den Papandreou mehrfach getroffen, den griechischen Ministerpräsidenten, den ich noch aus seiner Zeit als stellvertretender Außenminister vor jetzt, glaube ich, zwölf Jahren kenne, den Finanzminister und den Umweltminister, und da ging es natürlich sehr stark um die Situation in Griechenland und was wir da tun können.

    Blanke: Trotzdem einen schönen Sommer. Vielen Dank, Herr Özdemir.

    Özdemir: Ebenfalls. Danke.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


    Das gesamte Interview (MP3) können Sie im Deutschlandfunk bis zum 24.12.2011 in unserem Audo-on-Demand-Bereich hören.