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Ost-Erweiterung der Vernunft

"Anthropotechnik, das ist der Zugriff des Menschen auf sich selbst zum Zweck der Immunisierung gegen Bedrohungen und mit dem Ziel der Selbsterhöhung. Diese Selbsterhöhung - das Ergreifen eines anderen Lebens im vertrauten eigenen - hat Sloterdijk jetzt zum alleinigen Gegenstand einer philosophisch-anthropologischen Studie gemacht," schreibt Rezensent Hans-Jürgen Heinrichs.

Rezensiert von Hans-Jürgen Heinrichs | 13.05.2009
    Schlichter und komplizierter als dieses Buch kann keines sein. Seine Botschaft: Wir üben immer schon, es ist unsere Grundausstattung, die aus uns mehr als bloße Gewohnheitstiere macht. Wir können nicht nicht üben. Leben heißt üben. Diese anthropologische Tatsache in ihrer ganzen Tragweite ins Bewusstsein zu heben, die Menschen stärker an ihrem eigenen inneren Aufstieg und an die Avantgarde der explizit und leidenschaftlich Übenden anzuschließen versteht der in Karlsruhe und Wien lehrende Philosoph Peter Sloterdijk als den Schlüssel für die Verbesserung des Menschen und der Welt, für das gemeinsame Überleben. Warum aber muss man uns das erst wieder - mit der Aufbietung allen verfügbaren Wissens zum impliziten und expliziten Üben in dieser Welt - vor Augen führen? Haben wir uns selbst so sehr vergessen?
    Eigentlich ist es doch ganz einfach: Verwenden wir fortan mehr Achtsamkeit und Bewusstheit auf die steten Veränderungs- und Wandlungsmöglichkeiten, die in unseren gewohnheitsmäßig durchgeführten Handlungen verborgen sind.

    "Der Schritt ins bewusst übende Leben erfolgt durch eine ethische Unterscheidung. Die vollzieht, wer es wagt oder wem es zufällt, aus dem Lebensstrom zu steigen ... Alle Steigerungen geistiger und leiblicher Art beginnen mit einer Abspaltung von der Gewöhnlichkeit."

    Aus allen Dingen und jedem Menschen kommen uns dann die geistige Fülle und das Potenzial des Sein-Könnens entgegen. Selbst aus einem Torso, zum Beispiel Rodins Apollo-Statue ohne Kopf, können wir einen Blick, einen Ruf und einen Befehl zur Selbsterhöhung, zur Anschauung des "innersten Noch-nicht” vernehmen.
    Das ist Peter Sloterdijks Ausgangspunkt (in der Analyse von Rilkes Gedicht "Archaischer Torso Apollos”).

    "Höre die Stimme aus dem Stein Rodins, widersetze dich nicht dem Appell zur Form. Ergreife die Gelegenheit mit einem Gott zu trainieren."

    Dass wir überhaupt trainieren und üben müssen, hängt ursächlich mit einer Spannung zwischen Mensch und Welt zusammen. Dabei tun sich Einzelne stärker als andere hervor, exponieren sich als exemplarische Übende, als Artisten, Virtuosen und Akrobaten der Exerzitien.

    "Die expliziten Übungen (zum Beispiel von Yogis) werfen einen Schatten auf alles, was ihnen auf der impliziten Seite gegenüberliegt. ... seit die Wenigen üben, wird evident, dass implizit alle üben."

    Man kann schon aus diesen wenigen Andeutungen die Tonlage und die Spannweite von Sloterdijks Unternehmen herauslesen und erahnen, warum sein Anliegen so einfach und doch so kompliziert, so stark fixiert auf einige Leitbegriffe und so extrem verzweigt und vernetzt ist. Auch kommen noch zwei besonders bedeutsame Punkte hinzu: der Autor bezieht seine historisch und kulturvergleichend angelegte Erforschung der Übungskultur auf die aktuelle politische Situation; und er systematisiert in den letzten Jahren immer stärker seine seit etwa einem Vierteljahrhundert erarbeiteten Begriffe und Konzepte.

    "Für das Ethik- das Anthropotechnik-Buch gibt es auch eine drei-vierjährige Zeit der inneren Vorübung, bis eine andere Grammatik entstanden ist, mit der man diese Stücke machen kann."

    Eine Figur und Denkfigur überragt dabei, auch gerade dadurch, dass er sie an einigen Stellen korrigiert, alle anderen: Friedrich Nietzsche, der dem Philosophen die Aufgabe zuwies zu erproben, wie weit sich der Mensch erheben könne.
    Nietzsches Höhenpsychologie - die Proklamation der sich von Bedingungen und Gewohnheiten freimachenden Aufwärtsbewegung - figuriert in dieser teils als Essay, teils als Forschung, teils als Weltmanifest angelegten Schrift als rettende Leitidee für eine Welt, die sich selbst verrannt und an den Rand des Abgrunds katapultiert hat. Dabei wird Nietzsches Figur des Zarathustra von Sloterdijk als Vorbild für jeden Menschen (für die in ihm schlummernde Kraft des Über-sich-Hinauswachsens) reklamiert, anthropologisch neu gefasst und verankert. Den inneren Kampf zwischen dem Festhalten am Alten und dem Wunsch, den avantgardistischen Übenden nachzueifern, gelte es jetzt entschiedener denn je für den Übungspart zu entscheiden.
    Daher der hohe Ton, der hier angeschlagen wird. Es geht ums Ganze: Die globale Krise selbst diktiert den Wandel in einer menschheitsgeschichtlichen Dimension.

    "Alles, was von jetzt an nicht hinreichend zukunftshellsichtig angelegt ist, wird eines Tages als Beitrag zu der Kollision mit dem finalen Eisberg wahrgenommen werden."

    Nach Abschluss des Buches schlägt Sloterdijk sogar explizit den Bogen von Nietzsches Axiom (Der Mensch muss sich am Unmöglichen orientieren, um voran zu kommen) bis zu Obama. Allein die Tatsache, dass er gewählt wurde, habe die Welt verändert.
    Dieses sprachgewaltige und nach allen Richtungen menschlichen Denkens und Wissens ausufernde Manifest für die von jedem einzelnen zu leistende bewusste Einübung in die Vertikalspannung, die innere Aufrichtung, schließt zwar an Nietzsches Übermenschprogramm an, macht es aber zugleich, in seiner übersteigerten Form, überflüssig: Der Mensch wächst gleichsam naturwüchsig (auch ohne Gott und Übermensch) über sich hinaus, wenn er sich an seinem Seinkönnen orientiert.

    "Wer den Satz 'Du musst dein Leben ändern' ohne Abwehr vernimmt, erlebt durch ihn die Begegnung mit dem Erhabenen in einer persönlichen Adressierung - nicht in einer religiösen Codierung und rituellen Erstarrung."

    Zaghaft vorgetragene, halbherzige Korrekturen helfen bei der jetzigen Weltlage nicht weiter. Gefordert ist nicht die Mentalität eines therapeutischen Ratgebers, sondern die Neuordnung aller Bewertungen und die Ausrufung des absoluten Imperativs, eines "Du musst", das alle Indikative durchdringt und also universellen Ausmaßes ist. Peter Sloterdijk geht in diesem Buch das Wagnis ein, im Namen einer höchsten, individuell verankerten Instanz zu sprechen, die für das Überleben der Menschheit und für das Erkennen der ihr gestellten Aufgaben zuständig ist.
    Begann der 1947 geborene philosophische Unruhestifter in den 1980er-Jahren als ein spielerischer Verkünder der Leichtigkeit des Seins, wächst er seit einigen Jahren immer mehr in die Rolle eines verantwortungsvollen Bedenkers des Gewichts der Welt hinein. Seine mit einer geradezu ungeheuren Überzeugungskraft, persönlichen Gewissheit und großen Anstrengung ausgestattete Botschaft lautet: Machen wir ernst und setzen an die Stelle von beruhigenden Sekundärsystemen und missverstandenen spirituellen Übungen, die nur zur Abwehr des Ungeheuren erfunden wurden (exemplarisch die Religion), primäre, antiillusionäre und antitrügerische Übungssysteme und die "Disziplinik” (die Ausweitung der Übungszone), geben wir die Rolle von schlechten Könnern auf, lernen wir von den fernöstlichen und einigen westlichen Asketen, Akrobaten, Athletikern und Technikern. Ohne Sloterdijks Hochschätzung der Technik, wie er sie in zahlreichen Texten immer wieder vorgetragen hat, wäre dieses Buch, dessen Untertitel ja "Über Anthropotechnik" lautet, gar nicht denkbar. Am Ende erscheint Religion nur noch als schwache Technik zur Abwehr der Todesangst.
    Die beiden der Studie vorangestellten, schwer errungenen und erst nach Abschluss des Bandes gefundenen Motti stellen dann auch die Wachsamkeit und die den Einzelnen fordernde Übung, die Erarbeitung und Befolgung von Techniken (zur Steigerung des "intimen Entwurfs ins Noch-Nicht"), in den Mittelpunkt; Techniken, die aus gewohnheitsmäßigen Wiederholungen höherwertige und wieder auf den Agierenden zurückwirkende Handlungen machen.

    "Alles Gedachte und Gefühlte wirkt auf den Ausführenden und, weit darüber hinaus, auf Kollektive zurück. Menschen arbeiten selbstbezüglich an sich."

    Es kommt darauf an, ihnen Codes und Horizonte für ihre Aktionen anzubieten und sie in der Verbesserung ihrer Techniken zu bestärken, um den Absturz zu verhindern.
    Peter Sloterdijk hat diese These bereits in seiner zum Skandal hochstilisierten "Elmauer Rede" über den "Menschenpark" in Bezug zur Gentechnik vorgetragen. Anthropotechnik, das ist der Zugriff des Menschen auf sich selbst zum Zweck der Immunisierung gegen Bedrohungen und mit dem Ziel der Selbsterhöhung. Diese Selbsterhöhung - das Ergreifen eines anderen Lebens im vertrauten eigenen - hat Sloterdijk jetzt zum alleinigen Gegenstand einer philosophisch-anthropologischen Studie gemacht, verbunden auch mit der Idee, die Schulen und Universitäten könnten von ihrer Fixierung an die Mittelmäßigkeit und das Normierte ein Stück weit abrücken, einen freien Geist und Meditierende nicht aussperren.
    Sloterdijk versucht nahezu alle Wissenschaften, Übungs- und Denksysteme des Westens und Ostens gleichzeitig zu erfassen und, verändert, aufeinander zu beziehen. Dem wohnt eine kühne, auch selbstverliebte Maßlosigkeit inne: Der Autor setzt sich in der Radikalität eines epochalen Künstlers mit jedem Strich selbst das Maß. Dabei findet er allerdings nicht - und sucht offensichtlich auch nicht - den einen großen Ton wie in der "Sphären"-Trilogie; er erprobt Tonlagen und Sprecherhaltungen:

    "Eigentlich ist es so, dass mit jedem dieser vier Abschnitte eine andere sprachliche Person auftritt. Am Anfang der Essayist, der etwas genialisch das Gelände sondiert. Dann kommt im zweiten Teil eine philosophische Persona und erklärt, was er da sieht. Dann aber tritt im zweiten Teil eine Person auf, die wirklich in der spirituellen Welt gewesen ist oder immer noch in ihr ist. Und in der Schlussrunde tritt diese Persona des Ideenhistorikers auf, der in der Art wie Oswald Spengler das Schicksal Europas unter dem Gesichtspunkt seiner bisher so nie dargestellten übungskulturellen Identität beschreibt. Ganz zum Schluss kommt noch einmal der Philosoph (im "Rückblick”) und im "Ausblick” kommt noch eine andere Figur, das ist ein Novum, eine Tonart, die es sonst nicht bei mir gibt. Eher so was Prophetisches."

    Aus dieser letzten Tonlage bezieht dieses Buch seine zeitüberdauernde Kraft.
    Wenn die Krise solche Ausmaße wie gegenwärtig annimmt, kann sich der Philosoph nicht davor drücken, in die Weltlage hineinzuhorchen und die existentielle Bedrohung auf der Grundlage universellen Wissens zu verstehen, zu deuten und Vorschläge zu machen, wie es weiter gehen könnte. Der Philosoph wächst hier in die Rolle eines Gurus (im starken Sinn des Wortes) hinein: Er weiß, ohne Einübung in ein anderes Denken, Bewusstsein und ethisches Handeln, ohne Anthropotechnik, bleiben wir Gehilfen eines ökonomisch-ökologisch-unmoralischen Selbstauslöschungsprogramms, vergötzen immer noch Lebensformen, Arbeitsteilungen, Konsum und andere alte Vorstellungen, die uns in die Stumpfheit, Banalität und an den Rand des Abgrunds geführt haben.
    Peter Sloterdijks Buch gibt philosophisch und anthropologisch belegte Hinweise für die Schaffung eines notwendigen globalen Immunsystems gegen die Ausbeutung und Selbstzerstörung, denn der Mensch ist auf die Schaffung immunologischer Abwehr- und Sicherungssysteme angewiesen. Zur Optimierung bedarf es der Anthropotechniken.
    Es wird das Schicksal dieses Buches sein, dass man es oft nur selektiv liest: Die Ost-Erweiterung der Vernunft - die Einbeziehung des östlichen, zum Beispiel indischen Denkens und Übens, die sich Sloterdijk immer schon für unsere Wissenschaften gewünscht hat - wird von ihm hier in einer Fülle praktiziert, dass die Skeptiker die entsprechenden Teile aussparen werden; einige der in das Buch einführenden, zumeist brillanten, teils übermütig-poetisch-assoziativen, teils akademisch argumentierenden, teils impressionistischen Essays und Exkurse, die alle in einem exzessiven Formulierungs- und Denkrausch geschrieben wurden, wird man am Ende überlesen, weil die Folgekapitel zu übermächtig und weltbewegend sind. In der Aufteilung als Trilogie hätte jedes Kapitel seine ganz eigene Stärke und Tonlage besser entfalten können.

    "Ich habe einen Zugang zu einem vorsokratischen Raum. Ich kann mich ohne geringste Mühe in einen Zustand versetzen, in dem der Argumentierer und der Rhapsode sich noch nicht voneinander getrennt haben. Das hat damit zu tun, dass ich mir nie ein Problem vorgeben lasse, sondern das Problem muss entstehen, während man es formuliert. Sonst ist man dazu verurteilt, es in der Sprache zu diskutieren, in der es als gegebenes oder aufgegebenes Problem schon existiert. Ich stelle mir das Problem neu."

    Sloterdijk präsentiert sich ein weiteres Mal als ein vitales Medium für alles Welthaltige, das unvorstellbar schnell von ihm durchgelassen und auf Herz und Nieren geprüft wird. Die ganze Welt erscheint als ein Übungsplatz, als ein Haus der Disziplinen und Techniken - und der Philosoph als Hauswart. Als Frage bleibt: Wie kann sich überhaupt ein einzelner Mensch zutrauen, das hier ausgebreitete Wissen kraft eigenen Denkens und Forschens in einem Leben zusammenzutragen! Letztlich vermag nur Sloterdijk über Sloterdijk und seine Ein-Mann-Forschungsgemeinschaft zu schreiben. Wollte man das hier präsentierte Welt-Wissen mit den darin enthaltenen Erfahrungen und Leiden auch nur annäherungsweise einüben - und darauf käme es doch letztlich an! - müsste man sich in eine Zeitmaschine mit hundertausendfacher Beschleunigung setzen.

    Peter Sloterdijk: Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik. 724 Seiten, 24,80 Euro. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main.