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Paradigmenwechsel in Nahost

Jenseits der Mauer, die israelische Staatsbürger vor Anschlägen schützen soll, schreitet die Eskalation des asymmetrischen Krieges voran. Befördert durch Terrorattacken, Checkpoints und eine doppelte Infrastruktur zur getrennten Versorgung bewaffneter Vorposten führt die administrative Verstörung der bürgerlichen Schichten im Westjordanland zu einer Verdrängung der säkularen Kräfte und die Transformation des sozialen in einen religiösen Konflikt. Dieser Prozess wird durch die Stabilisierung externer Abhängigkeiten (Syrien und Iran) gefestigt und durch die Anlagerung krimineller Elemente (Bandenkriege, Korruption) zunehmend unberechenbar.

    Während es am Verhandlungstisch zunehmend um Symbole geht (Rückkehr der Flüchtlinge von 1948 nach Israel) radikalisieren sich die Positionen. Der jüdische Nationalstaat wird von den militanten palästinensischen Kräften in Gaza, in der Westbank und im Südlibanon mehrheitlich nicht mehr anerkannt. Die Vernichtung des Judenstaates gilt als das Fernziel von Hamas, der stärksten Kraft im verelendeten und desorientierten Palästina.

    Gleichzeitig verändert der permanente Kriegszustand die israelische Demokratie in ihrem Inneren. Die Errichtung neuer Siedlungen und ihr Schutz in feindlicher Nachbarschaft knebelt jede demokratische Opposition, während die Erosion der jüdische Sozialethik bei der Transformation des jüdisch-sozialistischen Nationalstaates in eine zwei Drittel Gesellschaft von der Verelendung ganzer Bevölkerungsschichten begleitet wird. Wohl situierte jüdische Familien schicken ihre Kinder auf ausländische Schulen, südostasiatische Einwanderer dürfen demnächst zum Militär. Wer gilt als Israeli, wer darf, wer will Staatsbürger sein im Judenstaat? Die soziale Schere schafft neue Überlebensperspektiven außerhalb des Landes und missachtet die Ikonen der nationalen Identität (Überlebende der Shoah und Zeitzeugen). Israel wird zum Auswanderungsland.



    1. Moshe Zimmermann: Der jüdische Nationalismus im 20. Jahrhundert


    Der Jerusalemer Historiker Moshe Zimmermann analysiert die Mechanismen der Instrumentalisierung von Vergangenheit im sozialen Wandel der israelischen Gesellschaft. Er setzt darin den israelischen Historikerstreit in Beziehung zu dem Versuch, einen nationalen Konsens in der sozial fragmentierten Gesellschaft im Nahen Osten herzustellen.

    Es ist dies das Thema, dass der Professor für Deutsche Geschichte an der Hebräischen Universität im Rahmen seiner Franz-Rosenzweig-Professur in diesem Jahr an der Universität Kassel behandelt. Dabei geht es Moshe Zimmermann um die Säulen israelischer Identität, bildhaft deutet er auf die Diskrepanz zwischen der Bedeutung jüdischer Überlebender der Shoah und ihre soziale Diskriminierung durch die israelische Bürokratie. Gleichzeitig geht es ihm um die Verlagerung des Krieges von der Peripherie ins Zentrum und deren Folgen für die israelische Demokratie. Ergab sich in der Bundesrepublik aus dem Bedrohungspotential im Patt des Kalten Krieg für Politiker wie Egon Bahr die Notwendigkeit von Verträgen mit dem Feind, so hat die Verschärfung der Aggressivität im Nahen Osten die Ziele israelischer Politiker bis dato keinen gemeinsamen Nenner erbracht. Welche Lehren sind in Israel aus dem Krieg im Libanon gezogen worden, welche aus dem gescheiterten Auszug aus Gaza? Gibt es neue israelisch-arabische Allianzen? Mit dem langen Atem des Historikers analysiert der 1943 in Jerusalem geborene Moshe Zimmermann, dessen jüdische Familie 1935 aus Hamburg flüchtete, die Verwerfungen der israelischen Gesellschaft nach Jahrzehnten im permanenten Kriegszustand.