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Perspektiven afghanischer Hochschulen

Unter den Taliban gab einen großen Stillstand der Wissenschaft. Der Ausbildungsstand in Afghanistan zehn Jahre nach der Intervention ist im Vergleich zu vielen Entwicklungsländern miserabel. Der Soziologie Michael Daxner hat in einer Studie die Situation der afghanischen Hochschulen erfasst.

Von Michael Briefs | 16.07.2012
    "Es gibt Fortschritte. Die Studenten Sie lesen nicht nur Bücher, sondern nutzen auch das Internet. Es wird viel diskutiert. Zusammen mit den Professoren."

    Rifa ist Dozentin für das Fach Wirtschaft an der Uni Kabul. Die junge Frau hat in Pakistan Kunst studiert und nach ihrer Rückkehr 2008 ihr Diplom gemacht. Sie spricht einem großen Andrang von Studenten in ihren Seminaren.

    "Wie es weitergeht, wenn die ausländischen Truppen das Land verlassen haben. Auch über die internationale Finanzkrise. Sie wollen ihren eigenen Standpunkt entwickeln."

    Aber für welchen Markt soll man Afghanen eigentlich ausbilden? In einem Land, geprägt von alltäglicher Gewalt. In dem es an allem fehlt. Strom, Wasser. Das Leben ist unglaublich teuer - die Mieten sind absurd hoch. Wo der politischen Elite Korruption und Gewalt gegen die eigenen Bürger vorgeworfen wird. Studentin Rifa:

    "Die Regierung lässt Bücher drucken. Aber mit katastrophalen Fehlern. Jedes Jahr geht das so. Und dann sagen sie: Sorry. Die Bücher sind unbrauchbar. Wir drucken neue. Eine ungeheure Verschwendung von Geldern. Das Budget des Bildungsministeriums verschwindet aber auch noch in dunklen Kanälen."

    Der ungarische Aufbauhelfer Christoph ist seit Jahren im Land unterwegs, und berichtet von katastrophalen Studierbedingungen an den kleineren Unis abseits der Zentren Kabul, Herat und Mazar. In der nordafghanischen Stadt Balkh sind die Berufsschule und Universität miteinander verfeindet. Sie müssen sich die Räumlichkeiten teilen.

    "In der Innenstadt liegt das Gebäude der Berufsschule. Die oberen zwei Stockwerke sind von der Universität angemietet. Daneben das Studentenwohnheim. In den knapp 20 Quadratmeter großen Räumen wohnen bis zu zehn, zwölf manchmal noch mehr Studenten. Es gibt Doppelbetten. Abends werden noch Matten ausgebreitet. Es ist schmutzig, unhygienisch. Es ist wirklich sehr deprimierend."

    Mehr als die Hälfte aller Afghanen sind unter 15. Schon heute warten 160.000 Schulabgänger auf einen Studienplatz. 2014 werden es 500.000 sein. Wer sich derzeit in Afghanistan Zukunftschancen ausrechnet, ergreift einen seriösen Beruf und wird Arzt, Rechtsanwalt, Ingenieur oder geht in die IT-Branche. Wer es sich leisten kann, verlässt das Land.

    "Vor einigen Tagen gab es einen ziemlichen Aufruhr in Mazar. Eine NGO, die Sozialforschung betreibt, eine afghanische, hat Studenten befragt. Heraus kam, dass etwa 80 Prozent der Studierenden die Lehre für miserabel halten, dass sie glauben, dass 70 Prozent der Lehrenden inkompetent oder korrupt sind, und das wenigstens ein Viertel dieser Lehrenden bestechlich sind. Also Noten und Platzierungen nur gegen Geld vergeben."

    Michael Daxner beschäftigt sich seit zehn Jahren mit den Problemen des Aufbaus ziviler Strukturen, vor allem im Hochschulbereich.

    "Aus meiner Sicht ist das Ergebnis überhaupt nicht überraschend, das hätte ich so vorhersagen können. Warum sind Lehrende korrupt, warum können sie nicht unterrichten, warum ist das Curriculum unbrauchbar, und gleichzeitig, warum tun die Hochschulen so, als wären sie richtige Hochschulen."

    Verantwortlich für den Missstand sind Michael Daxner zufolge Patronage-Netzwerke. Die jeweiligen Clans in den verschiedenen Distrikten empfehlen für einen bestimmten Studienplatz ihre eigenen Studenten. Das entspricht in keiner Weise dem offiziellen Auswahlverfahren.

    "Das ist auch nicht gleichzusetzen mit Korruption, sondern ein Patronage-Netzwerk hat die Aufgabe seine Klienten zu versorgen. Dafür gibt es Loyalität und schafft Gemeingüter zu verteilen, die der Staat nicht in der Lage ist zu verteilen."

    Intellektuelle Kultur in unserem Sinn und ein akademischer Lebenslauf waren aber immer schon einer ganz schmalen großstädtischen Elite vorbehalten. Michael Daxner hat mit dem afghanischen Bildungsminister gesprochen. Der scheut sich nicht, die Probleme beim Namen zu nennen.

    "Der sagt natürlich schon, wir brauchen euch, den Westen für die Reformen. Aber das sind unsere, bitte, und wenn schon, dann muss das Dimensionen haben die waren für euch immer viel zu groß. Jetzt sehe ich ein Problem. Die wollen gerne durchregieren. Hochschulen kann man nicht durchregieren. Und da ist so gut wie keine Tradition von Hochschulautonomie, von Wissenschaftsfreiheit."

    Das ist der Grund, warum Michael Daxner der Politik empfiehlt, nicht das deutsche Vorbild zu übertragen, sondern international anschlussfähige Institutionen zu schaffen.

    "Die glauben wirklich, man kann reformieren an dem, was nach 30 Jahren Krieg übrig ist."

    Die Afghanen sollen den Job übernehmen, und zumindest die Lehrergehälter zahlen. Die restlichen Kosten übernehmen die Geberstaaten. Die rote Linie dabei - die Menschenrechte wohlgemerkt, dürfen nicht übertreten werden.

    "Sie müssen bei den jungen Menschen die Hoffnung auf Belohnung erwecken. Das heißt gute Jobs, gute Qualifikation, hoher Status. Die kommen gar nicht drauf, dass ein Student vielleicht politisch unangenehm ist. Aber das ist er unter jedem Hochschulsystem und immer. Aber einer, der nicht studieren darf, der wird vielleicht früher gewalttätig."

    Wie eine Idealfakultät aussehen müsste, welche Fächer für einen Neuanfang nötig wären, hat viel damit zu tun, dass die Afghanen nach 33 Jahren Krieg weitestgehend ihrer Gelehrtentraditionen beraubt sind.

    "Als aller erstes die Fächer Sozialstruktur, Demografie, jüngste Geschichte, gesprochene Sprachen. Das heißt die Leute müssen über ihr eigenes Land etwas wissen, damit sie sagen können, was sie wollen."

    Es bleibt die bange Frage, ob in den vergangenen Jahren ausreichend Zeit gewesen war, die Zivilgesellschaft gegen islamistische Einflüsse wehrhaft zu machen. Bildung ist hier das Zauberwort.

    "Ich habe verschiedene Szenarien und in allen kommen die Taliban als Regierungsmitglieder aber niemals als Alleinherrscher vor. Und um die Frauen im Bildungswesen an sich mache ich mir keine Sorgen. Das können sie nicht mehr zurückdrehen. Das wollen auch die Eltern nicht."