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Politik empört
Abgeordneter muss sich weiter beleidigen lassen

"Heil Kanacke. Es wird Zeit, dass Auschwitz, Buchenwald und andere den Betrieb wieder aufnehmen! Da gehört Ihr Dreckstürken nämlich hin." So beginnt eine Zuschrift an den Grünen-Bundestagsabgeordneten Özcan Mutlu. Er erstattete Anzeige. Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren ein. Keine Volksverhetzung. Keine Beleidigung. An der Spitze des Rechtsausschusses im Bundestag sorgen solche Fälle für Empörung - denn sie sind nicht so selten. Forderungen an Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) werden laut.

Von Thorsten Gerald Schneiders | 17.09.2015
    Özcan Mutlu von Bündnis 90/Die Grünen, aufgenommen am 15.07.2013 in Berlin.
    Der Abgeordnete Öczan Mutlu hat mehrfach Anzeige wegen Hassbotschaften gestellt. (picture alliance / dpa / Soeren Stache)
    Ein Bundestagsabgeordneter wird auf übelste Weise rassistisch beschimpft. Der Politiker erstattet Anzeige – und es passiert nichts. Wie kann das sein, wollten Hörer wissen. Die Deutschlandfunk-Nachrichtenredaktion hat nachgefragt.
    "Ein unerträglicher Angriff auf die Menschenwürde"
    "Dafür fehlt mir wirklich jedes Verständnis", sagt die Vorsitzendes des Bundestagsrechtsausschusses, Renate Künast, wie Mutlu von den Grünen, dem Deutschlandfunk. Ihr Stellvertreter, Jan-Marco Luczak von der CDU, meint ebenfalls gegenüber dem DLF: "Solche Äußerungen verabscheue ich. Sie sind ein unerträglicher Angriff auf die Menschenwürde türkischstämmiger Bürger. Solche widerlichen Beschimpfungen dürfen wir nicht tolerieren."
    Künasts und Luczaks heutiger Bundestagskollege Özcan Mutlu hatte vor einiger Zeit eine Hassmail bekommen. Diese hat der Grünen-Politiker jetzt noch einmal auf Twitter veröffentlicht - dort machte sie die Runde, wurde binnen kurzer Zeit Hunderte Male geteilt. Die Veröffentlichung erfolgte "in der Hoffnung", wie Mutlu ebenfalls dem Deutschlandfunk erklärte, "dass die Menschen wachgerüttelt und dadurch Staatsanwälte und Gerichte sensibler werden." Die Staatsanwaltschaft Berlin nämlich, bei der Mutlu Anzeige erstattet hatte, legte das Verfahren zu den Akten. Auf eine Mail des Deutschlandfunks hat die Justizbehörde bis zum Redaktionsschluss dieses Artikels nicht reagiert. Nach Aussage Mutlus sah aber der zuständige Staatsanwalt damals weder den Tatbestand der Volksverhetzung gegeben, "da es sich um eine private Email handelte und keine öffentliche Äußerung", so Mutlu, noch würdigte er die anderen Straftatbestände wie Beleidigung, "weil es sich bei den Äußerungen angeblich nicht um direkte Angriffe auf meine Person handelte".
    Kein Einzelfall
    Eine Argumentation, die in solchen Fällen immer wieder auftritt. "Ich habe Ähnliches erlebt und kann nur den Kopf schütteln, wenn ich die Einstellungsbegründungen der Ermittlungsbehörden lese", bestätigt die Volljuristin Renate Künast. Die Strafverfolgungsbehörden lehnen solche Eingaben immer wieder - übrigens nicht nur bei Politikern, sondern auch bei Privatpersonen - mit dem Hinweis ab, Äußerungen müssten öffentlich erfolgen, damit der Vorwurf der Volksverhetzung erhoben werden könne. Eine Mail selbst an mehrere Privatpersonen reicht somit nicht aus. Zudem wird der Tatbestand der Beleidigung mit dem Hinweis verworfen, dass es eine persönliche Ansprache für eine Beleidigung geben muss? Wenn der Adressat der Hassmail also "nur" über seine vermeintliche Gruppenzugehörigkeit angesprochen wird, liegt somit keine Beleidigung vor.
    Grünen-Politikerin Renate Künast
    Die Grünen-Politikerin Renate Künast hat selbst Erfahrungen mit Hassmails und wirft Ermittlungsbehörden mangelnde Sensibilität vor. (picture alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka)
    Künast: "Vollzugsdefizit"
    Die Rechtsexperten im Bundestag sehen hier kein Defizit in den Gesetzgrundlagen. Künast spricht vielmehr von einem Vollzugsdefizit. Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) habe eine Hausaufgabe, meint die Ausschussvorsitzende: Viele Ermittlungsbehörden seien für solche Taten im Netz "zu unsensibel, zu schlecht ausgestattet oder zu schlecht ausgebildet". Deswegen sollte es eine Koordination der Standards in den einzelnen Ländern geben. Das Internet sei weltweit verfügbar, führt Künast aus: Es könne nicht sein, dass die Frage der Strafverfolgung von den Zuständigkeitsbezirken einzelner Staatsanwaltschaften oder Polizeien abhänge.
    Luczak erwartet hartes Vorgehen der Justiz
    CDU-Politiker Jan-Marco Luczak im Gespräch mit Ministerin Ursula von der Leyen.
    CDU-Politiker Luczak ist promovierter Jurist. Er sieht die Tatbestände Volksverhetzung und Beleidigung in der Mail an Mutlu durchaus gegeben. (dpa / Matthias Balk)
    Auch der CDU-Rechtspolitiker Luczak ist ziemlich eindeutig in seiner Einschätzung: "Ich erwarte, dass die Staatsanwaltschaften und Gerichte von ihren Möglichkeiten in aller Härte Gebrauch machen." Nach Einschätzung des promovierten Juristen dürfte im Übrigen der Tatbestand der Volksverhetzung nach Paragraf 130 Absatz 1 Nummer 2 Strafgesetzbuch im vorliegenden Fall Mutlu sehr wohl erfüllt sein, "denn hier wird auf übelste Art und Weise eine Bevölkerungsgruppe beschimpft und böswillig verächtlich gemacht." Zudem ergänzt Luczak: "Mir erscheint die fragliche E-Mail auch geeignet, den öffentlichen Frieden zu stören. Denn der Straftatbestand kann auch bei einer E-Mail mit volksverhetzendem Inhalt beim Versand an eine einzelne Person erfüllt sein. Das ist jedenfalls dann der Fall, wenn damit zu rechnen ist, dass der Empfänger sich damit an die Öffentlichkeit wendet." Auch der Tatbestand der Beleidigung kommt nach Luczaks Auffassung in Betracht. Auch andere Rechtspolitiker sehen beim Thema Hassbotschaften Handlungsbedarf auch beim Staat - nicht nur bei den Betreibern von Internetseiten.
    Özcan Mutlu hat damals übrigens juristisch kapituliert. Weitere rechtliche Schritte wollte er nicht unternehmen: "Ich habe bei ähnlichen Verfahren keinen Erfolg mit Widersprüchen gehabt." Allerdings steckt Mutlu schon wieder in anderen Verfahren. Er hat die Staatsanwaltschaft Berlin erneut eingeschaltet - dieses Mal wegen Hassbotschaften bei Twitter. Das Verfahren läuft. Der Grünen-Politiker fordert von den Strafverfolgungsbehörden bundesweit, "bei derartigen Delikten nicht naiv und leichtfertig Verfahren einzustellen. Das wäre auch eine Konsequenz aus den NSU-Morden."