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Polnische Literatur
Turbulente Reise in Zeit und Raum

Mit ihrem "Sandberg" avancierte die Warschauer Autorin Joanna Bator zu einem Star der polnischen Literatur. Im vergangenen Herbst wurde sie sogar mit dem Nike-Preis, der wichtigsten polnischen Literaturauszeichnung bedacht. Nun liegt auf Deutsch ihr zweiter Roman vor: "Wolkenfern".

Von Marta Kijowska | 21.05.2014
    Im Ostseebad Rerik kämpft sich über dem Salzhaff die Sonne durch ein Wolkenloch.
    Joanna Bators zweiter Roman ist auf Deutsch erschienen: "Wolkenfern". (picture alliance / dpa / Bernd Wüstneck)
    Sie sagt vieles ohne Umschweife, und auch dies gibt Joanna Bator schnell zu: Ohne diesen Ort, der einst Waldenburg hieß und heute den Namen Walbrzych trägt, würde es ihre Bücher gar nicht geben. In ihrer Jugend hatte sie ihn gehasst und fluchtartig verlassen, doch als sie Jahre später in Japan lebte, erschien er ihr aus dieser weiten Perspektive plötzlich ganz anders – nicht mehr als die trostlose schlesische Industriestadt, deren deutsche Vergangenheit sie abwechselnd abschreckte und zu Träumen von besserem Leben animierte, sondern als ein dunkler Zauberort, dessen Geheimnisse nur darauf warteten, entdeckt und erzählt zu werden.
    "Ich habe in Waldenburg achtzehn Jahre verbracht. Ich bin dort geboren, und es ist immer noch der Ort, an dem ich am längsten gewohnt habe. Ich habe ihn mir aber trotzdem nicht als Handlungsort meiner Romane ausgesucht. Diese Stadt hat mich ausgesucht. Der Roman 'Sandberg' kam zu mir in Form dieses Namens - so heißt das Viertel, in dem ich aufgewachsen bin. Und dann hatte ich irgendwann die Idee zu dem Roman 'Wolkenfern', der ja auch teilweise in Waldenburg spielt. Diese Stadt findet mich also immer wieder. Ich bin nicht imstande, ein Buch in Warschau spielen zu lassen - das funktioniert einfach nicht. Es sind diese bestimmten Gerüche, die nur in Verbindung mit dem Gedächtnis eines Kindes und eines Teenagers wiederkommen. Ich muss aber nicht mehr nach Waldenburg fahren, um sie zu finden, das brauche ich nicht. Es gibt in meinem Gehirn eine Art 'Waldenburger Vorratskammer', aus der ich immer noch schöpfe."
    In "Wolkenfern" tut es Joanna Bator, indem sie die Geschichte von Dominika, der Protagonistin von "Sandberg", weitererzählt. Allerdings sorgt sie diesmal dafür, dass ihre Heldin die triste Bergarbeiterstadt verlässt und zu einer Nomadin wird. Auslöser dieser Wende ist ein schwerer Autounfall, nach dem Dominika in eine Klinik in der Nähe von München gebracht wird: Als sie aus dem Komma erwacht, weigert sie sich, in ihre Heimat zurückzukehren und erklärt die Reise, das Unterwegssein zu ihrer neuen Lebensform.
    "Bewegung und Veränderung, das Wissen, jeden Moment weiterziehen zu können, das war es, was Dominika brauchte, und sie verstand immer deutlicher, dass dieses Bedürfnis genauso ein Teil von ihr war wie die Narbe in ihrem Gesicht und die Erinnerung an den Unfall und der Geruch nach verbranntem Fleisch."
    Die literarische Folge von Dominikas Entscheidung ist eine rasante Odyssee - von Bayern über London und New York bis zu der griechischen Insel Karpathos. Endlich ist sie keine Außenseiterin mehr, denn die Menschen, denen sie begegnet, sind genau wie sie: anders, unkonventionell, unangepasst. Die Familienfreundin Grazyna, die, mit einem deutschen Schweinezüchter verheiratet, ihre Sehnsucht nach höheren Werten bei einsamen Waldspaziergängen auslebt. Die schwarze Krankenschwester Sara, deren ganzer Stolz ihre Vorfahrin, die Hottentotten-Venus, ist. Der Friseur Kruk, der seine sadistischen Neigungen in einem KZ beim Abrasieren weiblicher Schamhaare befriedigen durfte. Oder die sogenannten "Teetanten", sprich: zwei exzentrische Schwestern, die Kruk mit Hilfe eines vergifteten Likörs umbringen. Jeder von ihnen vertraut Dominika seine Geschichte an, und für jeden wird sie dabei zu einer Art Projektionsfläche.
    "Jeder, dem Dominika begegnet ist, behauptet, sie erinnere ihn an einen Menschen, den der Betreffende verloren hatte, das mochten Großeltern sein, erwachsene Menschen beiderlei Geschlechts, aber auch Kinder, die als Säuglinge gestorben waren. Es war so, als vereine Dominika als Person alle möglichen Ähnlichkeiten."
    Wer Joanna Bator kennt, der wird in Dominika leicht ihr Alter Ego erkennen. Auch sie kann sich genau an das Gefühl der Enge und Perspektivlosigkeit in der Jugendzeit erinnern. An den Fluchtreflex, den in ihr die erstickende Fürsorglichkeit der Mutter auslöste. Und an das spätere Bedürfnis, unterwegs zu sein und in fremden, oft scheinbar unwichtigen Geschichten aufzugehen.
    Joanna Bator
    Joanna Bator (Krzysztof Lukasiewicz)
    "Nur so kann ich erzählen, so lebe ich in dieser Welt. Ich lerne sie kennen, mache sie mir gefügig durch solche kleinen Geschichten, solche Mikroerzählungen. Ich bin für sie sehr empfänglich, große Geschichten hingegen interessieren mich nicht. Das hängt auch mit meinen intellektuellen und emotionalen Abenteuern zusammen. Während meiner Reisen habe ich nämlich erkannt, dass meine Erzählweise etwas mit Polen zu tun hat. Dass nur hier, in Polen, meine private Mikrogeschichte und die Mikrogeschichten anderer Menschen auf eine Weise ineinandergreifen, die ich nirgendwo sonst finde."
    In "Wolkenfern" habe sie auch zeigen wollen, wie das Unterwegssein dazu beitragen könne, dass aus zwei Geschichten, die scheinbar nichts miteinander zu tun hätten, etwas Neues entstehe, sagt Joanna Bator. Nicht zufällig heißt ihr Buch im Original "Chmurdalia" – von chmura, dem polnischen Wort für "Wolke". Denn ihre Fantasie reicht problemlos, um nicht nur diverse Orte, sondern auch verschiedene Zeitebenen miteinander zu verknüpfen. Und damit niemand daran zweifelt, das es sich bei dieser turbulenten Reise in Zeit und Raum um ein literarisches Spiel mit vielen nicht ganz ernst gemeinten historischen und mythologischen Anspielungen handelt, lässt sie einen ebenso kostbaren wie heiklen Gegenstand als Leitmotiv fungieren: Einen Nachttopf, den KaiserNapoleon auf seinem Rückzug aus Russland in einem polnischen Herrenhaus benutzt hatte.
    "Wenn ich auf Napoleons Nachttopf angesprochen werde, kommt mir sofort in den Sinn, was der japanische Autor Haruki Murakami sagte, als er nach dem Schaf in seinem Roman 'Wilde Schafsjagd' gefragt wurde. Er antwortete nämlich, er habe keinen blassen Schimmer, woher dieses Schaf komme. Und mir geht es genauso: Ich habe keine Ahnung, woher dieser Nachttopf kam, als er in meinem Text auftauchte. Ich wusste nur, dass ich da einen Nachttopf haben wollte und dass er etwas mit Napoleon zu tun haben musste. Erst jetzt kann ich ihn interpretieren, und zwar als einen Gegenstand, der völlig absurd ist, der alles und nichts bedeutet und der auf das Pathos der polnischen Napoleon-Legende anspielen soll."
    Sie verspüre beim Schreiben ein geradezu sinnliches Vergnügen, sagt Joanna Bator über sich. Das glaubt man ihr sofort und staunt dennoch über ihr literarisches Können. Darüber, wie viele Details sie zusammenzutragen und miteinander zu verknüpfen weiß. Über ihre sprachliche Meisterschaft. Und ihre Erzählperspektive, in der sich Beobachtungsgabe mit Distanz, Empathie mit Ironie vermischen und die jeden Schritt ihrer Protagonisten und jede Handlungswendung nachvollziehbar macht – selbst das große, absurde Finale, in dem ein Hochwasser das schlesische Waldenburg, den Ausgangsort dieser utopischen Reise, heimsucht und alles unter sich begräbt.
    "Das Wasser zog ab und nahm Tonnen von Müll aus den Kellern mit, schwemmte altes Spielzeug und einst in nächtlichen Schlangen vor dem Möbelgeschäft erstandene Klappsofas davon, kaputte Skier, unverzehrtes Eingemachtes, Gerätschaften zum Schnapsbrennen, bauchige Glasflaschen voller Johannisbeer- und Kirschwein, ausgetretene, noch auf Bezugsscheine gekaufte Schuhe, ungelesene Bücher, alte Zeitschriftenjahrgänge."
    Manchmal sagt Joanna Bator auch, der moderne Mensch habe nur eine Möglichkeit, seine Herkunft zu rekonstruieren: Er müsse die fehlenden Elemente erfinden, den bestehenden Spuren neue Bedeutung geben, die Zusammenhänge hineininterpretieren. Und das tue man am besten, indem man alles aufschreibe. Bei ihr selbst, die erst vor einigen Jahren ihre literarische Karriere begonnen hat, wirkt es, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes getan.
    Joanna Bator: "Wolkenfern". Roman. Aus dem Polnischen von Esther Kisky,
    Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 499 Seiten, 24,95 Euro.