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Proletarierleid als Menschheitsbild

Grundlage der 1925 entstandenen Oper "Wozzeck" von Alban Berg ist ein Dramenfragment von Georg Büchner über den Soldaten Wozzeck, der seine Freundin Marie und das gemeinsame Kind zu unterstützen versucht und immer nur gedemütigt wird - von Vorgesetzten, anderen Soldaten, einem Arzt, einem Nebenbuhler. Andreas Kriegenburg hat nun den "Wozzeck" an der Bayerischen Staatsoper als Studie darüber in Szene gesetzt, was Armut, Geldsorgen und Arbeitslosigkeit aus Menschen machen können.

Von Christoph Schmitz | 11.11.2008
    Von einem Arzt wie dem in Bergs "Wozzeck" will niemand behandelt werden. Von so einem wie in der neuen Münchner Inszenierung erst recht nicht. Dieser kreidebleiche Doktor besteht fast nur aus Prothesen. Sein Oberkörper ist in ein Korsett gezwängt, auf der weißen Glatze windet sich eine schwarze Locke, und seine medizinischen Gerätschaften gleichen den Instrumenten eines KZ-Arztes von der Mengele-Sorte, in die er den armen Wozzeck zur Urinuntersuchung fixiert.

    Clive Bayley spielt und singt den Doktor perfekt pathetisch, schmierig, feminin, wodurch seine Bösartigkeit noch widerwärtiger wirkt.

    Auch unter einem Vorgesetzten wie dem im "Wozzeck" würde niemand arbeiten wollen. Unter so einem wie in der Neuinszenierung von Andreas Kriegenburg schon gar nicht. Dieser fettleibige bleiche Hauptmann besteht fast nur aus Fettmassen, die ihm in schweren Lappen nackt über die Hosen schwappen. Weil da weder Hemd noch Jacke drüber passen, hängen Orden und Paletten direkt auf der Haut, mit denen der Hauptmann den armen Wozzeck kräftig beeindruckt.

    Wolfgang Schmidt spielt und singt den Hauptmann mit so einem sicheren schneidend-kalten Tenor, dass schon die Stimme Folter ist. Folterknechte und Monster sind diese Elitemänner alle. Bedrohlich albtraumartig verwandelt von der Kostümbildnerin Andrea Schraad. Aber Monster sind eigentlich alle, die Wozzeck umgeben, die anderen Soldaten, die Bürger im Wirtshaus, mit Buckel und grimmiger Visage sehen sie aus wie der Glöckner von Notre-Dame. Kriegenburg erzählt die Endphase im Leben der von der Gesellschaft geschundenen Kreatur aus Wozzecks Sicht, aus der Sicht des Opfers. Darum haben nur seine Marie und sein Sohn ein menschliches Antlitz bewahren können, auch wenn die Armut sichtbar an ihrer Würde nagt.

    Michaela Schuster zeigt die Marie darstellerisch und stimmlich in deren ganzem emotionalen und charakterlichen Spektrum, liebend, abweisend, berechnend, verzweifelnd. Vor allem ihrem armen Freund, dem Wozzeck, wünscht man als Zuschauer ja immer, dass er die Ketten der Knechtung sprengt. Aber in dieser überragenden Kriegenburg-Inszenierung möchte man ihm förmlich zu Hilfe eilen. Auch weil Michael Volle diesen getretenen Menschen der Unterschicht so wirklich spielt und ihm mit seinem Bariton so viel Leben einhaucht. Michael Volle krönt ein Solistenensemble von Weltklasse.

    Andreas Kriegenburg hat das Proletarierleid nicht aktualisiert, sondern in der Zeit der Büchner-Vertonung, also der 1920er Jahre belassen, es zugleich aber aus einer historisierenden Fixierung gelöst und als Menschheitsbild inszeniert, als Studie darüber, was Armut, Geldsorgen und Arbeitslosigkeit aus Menschen machen können. Dafür haben Kriegenburg und sein Bühnenbildner Harald B. Thor einen betonartigen, nur zum Publikum offenen Kubus geschaffen, in den es permanent hineinregnet, der im schwarzen Bühnenraum zu schweben scheint und tatsächlich fast unmerklich samt Sänger leicht schaukelt. Darunter, auf dem Bühnenboden eine schwarze Wasserfläche, ein zweiter Spielraum der Inszenierung, deren überragender Qualität das Orchester unter Kent Nagano in nichts nachsteht. Rhythmisch so präzise, klanglich so transparent, emotional so expressiv ist der "Wozzeck" selten zu hören. Und alles dient einem Kunstwerk, das dem Menschen dient, in dem das Kind, Mariens und Wozzecks Knabe der eigentliche tragische Charakter ist. Darum hat Kriegenburg ihn als stummen Zuschauer alle Schikanen der Eltern miterleben lassen. Am Ende steht er mit einem Messer in der Hand vor uns allen.