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Putins Piste

Als das Internationale Olympische Komitee vor anderthalb Jahren Sotschi den Zuschlag für die Olympischen Winterspiele 2014 gab, war der Jubel in Russland groß. Die Bewerbung Sotschis war eines der Prestige-Projekte Wladimir Putins. Doch es gibt auch kritische Stimmen. Umweltschützer warnen vor Schäden für die Natur. Bewohner klagen über explodierende Immobilienpreise und Dauerstaus.

Von Gesine Dornblüth | 07.02.2009
    Ein Mitarbeiter des Organisationskomitees der Olympischen Winterspiele Sotschi 2014 über Zweifel an dem russischen Austragungsort:

    "Wie Sie wissen, ist Putin persönlich zur Entscheidung nach Guatemala gefahren, um den Wunsch der Russischen Föderation zu unterstreichen, die Olympischen Winterspiele auszurichten. Dem habe ich nichts hinzuzufügen."

    Und eine Hausbesitzerin über die Olympiavorbereitungen in ihrer Stadt.

    "Das ist meine einzige Freude: Dass die Olympischen Spiele gar nicht stattfinden werden, weil sie es einfach nicht schaffen, alles zu bauen."

    Gesichter Europas. Putins Piste - Sotschi und die Olympischen Winterspiele 2014. Eine Sendung von Gesine Dornblüth.

    "Das Beste ist das Wasser, Gold wiederum prangt wie nächtens leuchtendes Feuer
    über allem stolzen Reichtum.
    Wenn du aber von Kampfpreisen künden
    willst, mein Herz,
    dann suche neben der Sonne
    auf dem einsam weiten Himmel kein Gestirn, das sein Licht am Tage wärmer verströmte:
    von einem herrlicheren Kampfspiel als zu Olympia können wir nicht singen!"

    Pindar, für die Sieger bei den Olympischen Spielen.

    Berge und Meer - Sotschis Flaniermeile im Winter
    Tausende dunkle Steine, wallnuss- bis faustgroß, rollen in dem glasklaren Wasser am Strand von Sotschi vor und zurück. Natalja Pannova und Vladimir Nepomnjashchij stehen vor der Brandung und fotografieren sich gegenseitig mit einem Mobiltelefon. Sie hat ihre Fellmütze bis über die Augenbrauen ins Gesicht gezogen, er den Kragen seines Anoraks hochgeschlagen. Den ganzen Tag hat es geregnet und geschneit. Jetzt hagelt es. Die beiden frösteln.

    "Das Besondere an Sotschi ist das Meer. Diese Steine. Die Menschen hier sind sehr nett. Die Palmen. Die Berge. Die Natur insgesamt. Sie ist irgendwie nicht russisch. Wir haben ein dicht gedrängtes Programm: Berge, Meer, Freunde. Nach drei Tagen fahren wir wieder nach Hause."

    Natalja Pannova und Vladimir Nepomnjashchij verbringen ein Wochenende in Sotschi. Sie kommen aus einer Kleinstadt in Zentralrussland, sind Kammermusiker und wollen einfach ein bisschen ausspannen. Ruhig genug ist es. Im Sommer drängen sich tausende Urlauber an den steinigen Stränden, in den Bars und Clubs. Jetzt sind die "Lagune", der "Goldene Orpheus", die "Koralle" und all die anderen Etablissements geschlossen. Und bis die Diskothek "Koloseum" mit "Barman-Show, Stripshow und Gogo-Dance von abends um zehn bis morgens um fünf" wieder öffnet, vergehen auch noch Monate. Natalja Pannova lächelt. Sie will sich vom Wetter nicht die Laune verderben lassen.

    "Schnee und Meer - das ist eine interessante Kombination. Ich fahre morgen mit Vergnügen in die Berge, schaue mir den Schnee an, und tauche abends die Füße ins Schwarze Meer."

    Bisher war Sotschi ein Sommerkurort. Dennoch sollen in Sotschi Olympische Winterspiele stattfinden. In fünf Jahren, im Februar 2014. Das hat das Internationale Olympische Komitee 2007 in Guatemala Stadt entschieden und damit den russischen Bewerbern den Vorzug vor Salzburg und Pyeongchang gegeben. Die Berge des Westkaukasus sind 3000 Meter hoch und höher und nur eine halbe Stunde mit dem Auto von der subtropischen Stadt Sotschi entfernt. Dort oben werden die alpinen Wettkämpfe ausgetragen. In Strandnähe werden die Hallen und Stadien für die Eissportarten errichtet.

    Nicht nur die Sportstätten müssen neu gebaut werden. Auch hat Sotschi bisher keine intakte Kanalisation. Die Abwasser fließen bislang noch ungeklärt ins Meer. In vielen Stadtteilen fällt immer mal wieder der Strom aus und ständig gibt es Staus. Bei den Anwohnern ruft Olympia deshalb große Skepsis hervor.

    Zwei junge Männer schlendern über die Promenade. Der eine will lieber gar nicht mit Journalisten reden, der andere möchte seinen Namen und seinen Beruf nicht sagen. In Sotschi gibt es mehr Geheimdienstler als anderswo - wegen der vielen Staatsgäste. Präsident Medwedew hat hier eine Residenz. Aber so viel sagt der junge Mann dann doch:

    "Was sich bisher in der Stadt verändert hat, dient wohl kaum den Olympischen Spielen. Was wurde denn bisher getan? Etwa Anlagen gebaut? Davon reden sie nur. Hier sprießen doch vor allem Hochhäuser aus dem Boden."

    Ein Souvenirshop ist geöffnet. Svetlana verkauft Schmuck aus Stein und Glas, Porzellanfiguren, Wandteller mit Ankern und Leuchttürmen. T-Shirts mit olympischen Ringen und der Aufschrift "Sotschi 2014" mussten die Händler nach Razzien der Polizei wieder von den Ladentischen nehmen, denn die Lizenzen für solche Artikel liegen beim Internationalen Olympischen Komitee. Svetlana stützt sich auf den Verkaufstresen.

    "Die Zuschauer werden sowieso dauernd in den Bergen sein. Ich glaube nicht, dass wir hier unten großen Nutzen von den Olympischen Spielen haben."

    Die beiden Kurzurlauber Natalja Pannova und Vladimir Nepomnjashchij können sich vom Blick auf die Brandung nicht losreißen. Noch immer stehen sie am Wasser, lassen sich den kalten feuchten Wind ins Gesicht pusten. Sie zumindest sind stolz auf Olympia in Sotschi.

    "Nach dem Niedergang in den 90-er Jahren kommt Russland jetzt wieder auf die Beine, wird stärker, entwickelt sich. Und die Regierung möchte zeigen, dass wir ein starker, ein mächtiger Staat sind, der Perspektiven hat und künftig eine große Rolle in der ganzen Welt spielen wird."

    Die Antwort eines Patrioten!

    Zwei Millionen Gäste kommen jeden Sommer nach Sotschi an die Schwarzmeerküste. Unter ihnen auch der Moskauer Schriftsteller Viktor Jerofeew. Seine Eindrücke hat er in einem Artikel für die Zeitung "Die Zeit" festgehalten.

    "Ich liebe Sotschi. Es ist unsere subtropische Festung. Seitdem die Krim zur Ukraine gehört, ist es der einzige Ort im ganzen Land, der erfolgreich gegen den russischen Frost ankämpft. In Moskau sind es im Winter minus 20 Grad, in Sotschi fast plus 20. Da möchte man gleich alles liegen lassen und zu den Eukalyptusbäumen, zu den Palmen reisen.

    Nachdem ich alle Ufer des Schwarzen Meeres bereist habe, kann ich sagen, dass es etwas gibt, auf das wir Russen wirklich stolz sein können: Wir sind die absoluten Meister der sündhaften Kurorthurerei. Im Vergleich mit uns verdient niemand, weder der Goldstrand Bulgariens noch das humorvolle Odessa, noch die Feuerwerke der Diskotheken am Bosporus, den Ehrentitel Sündenpfuhl. In Sotschi, dieser Stadt mit dem schmatzenden Namen, die einen an einen riesigen, überreifen, Fäulnis ausschwitzenden Pfirsich erinnert und die sich nur deshalb in der Sonne bewegt, weil sie bedeckt ist mit Fliegen, Wespen und Ameisen, in Sotschi erwartet Sie Sodom. Und Gomorrha. Und noch 666 andere Vergnügungen.

    Schon am Bahnhof von Sotschi warten hübsch anzusehende alte Frauen, die wahre Teufelsbrut, auf die Ankömmlinge und fragen so sanft wie verlockend: 'Söhnchen, verlangt dich nach einem Mädchen?' Natürlich ist es möglich, ihnen zu widerstehen, aber wozu? Man möchte den riesigen Pfirsich in die Hand nehmen und ihn ganz verspeisen, mit den Fliegen, den Wespen und den Ameisen."

    Fortschritt - nur für wenige. Anwohner wehren sich gegen Enteignungen
    An der Mündung des Flusses Mzymta ragt ein gelber Kran in den wolkenverhangenen Himmel. Bleiern liegt das Meer da. Es regnet Bindfäden. Auf einer Plattform wird geschweißt. Funken sprühen. Schwere Baumaschinen schaufeln Geröll aus dem Flussbett, kippen es an der Böschung ab, walzen es dort platt. Hunderte Möwen drängen sich im flachen Wasser.

    Am Südrand von Sotschi, in dem ärmeren Stadtteil "Adler", wird ein Hafen gebaut. Auch Adler ist ein Seebad, aber die Häuser sind kleiner, die Unterkünfte billiger und das Meer sauberer als im mondänen Sotschi. Vom kommenden Jahr an soll in dem Hafen das Baumaterial für die olympischen Sportanlagen ankommen. Der Weg zu den Baustellen ist kurz. Die Eisstadien sollen nur wenige hundert Meter weiter entstehen, in einer Bucht. Bisher ist dort Brachland. Doch Bauarbeiter haben bereits einen langen blauen Wellblechzaun aufgestellt. Teile hat der Wind wieder umgeweht. Überwachungskameras filmen Matsch. Der Boden ist sumpfig. Schilf wächst.

    Ein paar hundert Meter weiter wohnt Svetlana Beresteneva. Ihr Häuschen liegt an einer engen Straße dicht am Meer, versteckt hinter Oleanderbüschen, Palmen und einem hohen Gartenzaun.

    Die 42-Jährige hat Besuch. Nachbarinnen sind da. Bekleidet mit einem rosa Jogginganzug, schneidet sie Weißbrot, bereitet Tee und Kaffee. Im Fernseher läuft ein Zeichentrickfilm.

    "Dieses Jahr hatte ich das erste Mal in meinem Leben keine Lust, Neujahr zu feiern. Ich will das alles nicht, was in diesem Jahr passieren wird."

    Svetlana Beresteneva hat Angst. Ein Teil der Häuser in der Bucht soll zugunsten von Olympia abgerissen werden. An ihrer Stelle werden Hotels und Parkhäuser entstehen. Die Besitzer sollen enteignet und umgesiedelt werden. Etwa zweihundert Hausbesitzer wurden bereits benachrichtigt. Zwar bietet der Staat ihnen eine Entschädigung an, aber die Menschen sind misstrauisch: Sicher würden sie betrogen und mit minderwertigen Grundstücken im Landesinneren abgespeist. Dagegen wehren sie sich.

    Am Tisch sitzt Natalja Kalinowskaja. Sie hat ihre rote Lederjacke anbehalten und wärmt ihre Hände an einer Teetasse. Die elegante Frau um die 40 ist Vorsitzende der Vereinigung der Grundbesitzer, einer Interessenvertretung auf lokaler Ebene. 3500 Leute stehen hinter ihr, sagt sie kämpferisch.

    "Ich zum Beispiel brauche den Hafen nicht. Mein Großvater hat hier den Sumpf trockengelegt, damit meine Kinder hier leben können. Wir sind bereits in der vierten Generation hier. Ich drehe jedem, der mein Haus abtragen will, die Kehle um."

    Bei einer Umfrage unter den Anwohnern hat Natalja Kalinowskaja herausgefunden, dass 98 Prozent von ihnen eine Umsiedlung ablehnen - zu welchen Bedingungen auch immer. Gemeinsam haben sie protestiert, haben Briefe an die Abgeordneten in Moskau geschrieben und an den Staatspräsidenten. Als Delegierte des Internationalen Olympischen Komitees die Bucht besuchten, hielten sie Plakate hoch, um auf sich aufmerksam zu machen - und wurden von der Miliz verprügelt; ein anderes Mal wurden mehrere Demonstranten verhaftet. Doch ihr Protest zeigt Wirkung, sagen die Frauen: Wenn sie sich nicht wehren würden, wären all ihre Häuser längst platt gemacht worden - davon sind sie überzeugt. Auf sie alle werde starker Druck ausgeübt.

    "Wer eine Protestkundgebung anmeldet, wird verfolgt. Er wird in die Stadtverwaltung eingeladen und gefragt: Was gefällt Ihnen denn nicht bei uns? Er wird psychologisch unter Druck gesetzt. Wenn er einen Laden besitzt, kann der geschlossen werden, wenn er angestellt ist, bekommt er Probleme bei der Arbeit."

    Sie selbst stand schon zwei Mal vor Gericht, die Anklagen wurden aber später fallen gelassen. Svetlana Beresteneva, die Gastgeberin, nickt. Die Frauen vermuten, dass ihre Grundstücke gar nicht für die Olympischen Anlagen benötigt werden, sondern dass reiche Leute und korrupte Beamte die Spiele vielmehr als Vorwand nutzen, um den Einheimischen ihre wertvollen Grundstücke abzujagen. Das ärgert sie.

    "Als ganz Russland 'hurra' schrie, weil Sotschi die Olympischen Winterspiele bekommen hat, saßen wir hier und haben geweint. 90 Prozent der Leute hier sind arbeitslos, Junge wie Alte. Wir leben von Feriengästen. Wir vermieten an Leute mit wenig Geld, an Armeeangehörige, Milizionäre, Lehrer, Ärzte. Die kommen zu uns, denn bei uns kosten die Zimmer fast nichts. Viele Feriengäste kommen schon seit 30 Jahren. Immer dieselben. Mit einigen habe ich schon als Kind gespielt. Jetzt fragen sie: Seid ihr noch da? Gibt es euch noch?"

    Wie zum Beweis holt sie ihr Mobiltelefon hervor. Die Tasten sind ausgeleiert. Sie hat die Nachrichten extra nicht gelöscht. Ein Geheimdienstmitarbeiter aus Petersburg sorgt sich. Ob er noch kommen könne?

    Olympiabefürworter sagen über die Bewohner der Bucht, sie würden sich dem Fortschritt verwehren. Die 42-Jährige rümpft die Nase.

    "Bisher gibt es Fortschritt doch nur bei den Reichen in Moskau. Jetzt wollen sie diesen Fortschritt hier in Sotschi durchsetzen. Die werden hier alles bauen und Milliarden machen. Ich bin nicht gegen Fortschritt. Das Land soll ruhig hochkommen. Aber nicht so, dass nur die Reichen profitieren und wir hinten runter fallen. Zweimal im Jahr werden die Strompreise angehoben. Sotschi ist eine Stadt für die Reichen geworden. Ich will auch reich sein. Aber irgendwie habe ich das bisher nicht geschafft. Das Komischste ist: Ganz Russland stöhnt und regt sich auf. Aber nur zuhause, in der Küche. Die Leute haben Angst, ihre Meinung laut zu sagen. Und wenn du das doch tust, dann stopfen sie dir das Maul und machen das noch extra so, dass alle anderen das sehen und ihnen die Lust vergeht, das nachzumachen."

    Svetlana Beresteneva geht hinaus, um die Ferienzimmer zu zeigen. Sie hat sie erst vor wenigen Jahren ausgebaut. Der Aufschwung in Russland hatte sie ermutigt, einen Kredit aufzunehmen. Der ist noch nicht abbezahlt. Die Kinderschaukel, die Sandkiste und der Grillplatz im Hof sind nass vom Regen.

    Die Tür klemmt, wegen der Feuchtigkeit. An einem Fliegenfänger kleben die Insekten des vorigen Sommers. Die Zimmer sind winzig, die Betten schmal und durchgelegen. Dafür kostet die Unterkunft umgerechnet nur fünf bis acht Euro am Tag.

    In der Küche hat Natalja Kalinowskaja einen Anruf bekommen.

    Sie verabschiedet sich kämpferisch: Gemeinsam werden sie siegen, sagt sie. Die Anwohner sammeln Widersprüche. Sie meinen, es am besten zu wissen: Wie, bitte, soll es funktionieren, ganze Stadien in der sumpfigen Bucht zu bauen? Ihre eigenen Häuser sind aus Holz und stehen auf Pfählen. Sie sei ja keine Fachfrau, aber Neubauten würden schimmeln und im Sumpf versacken, beteuert Svetlana Berestenewa.

    "Wenn man hier entlang läuft, dann schwingt der Boden unter den Füßen. Wenn man auf dem Sumpf bauen könnte, wäre das schon zu Sowjetzeiten geschehen! Sanatorien und all das. Dort kann man nicht bauen. Aber Putin kann ja alles!"

    Svetlana Berestenewa klammert sich an einen Gedanken:

    "Das ist meine einzige Freude: Dass die Olympischen Spiele gar nicht stattfinden werden. Das hoffe ich zumindest. Weil sie es einfach nicht schaffen, alles zu bauen."

    Alles läuft nach Plan. Die Organisatoren verbreiten Optimismus
    Dicke Wassertropfen zerschellen in dem eilig herbei gestellten Papierkorb. Spritzer überziehen den Fußboden drum herum. Erst einen Monat zuvor hat das Organisationskomitee "Sotschi 2014" das Gebäude bezogen, ein ehemaliges Hotel im Zentrum des Kurortes, das eigens für die Olympia-Organisatoren geräumt und hergerichtet wurde. Und schon regnet es durch die Decke.

    Efim Bitenev zieht seine rote Wetterjacke aus und hängt sie an die Garderobe. Der 36-Jährige ist gerade aus den Bergen gekommen. Ein kräftiger Händedruck, ein freundliches Lächeln, dann nimmt er an seinem Schreibtisch Platz.

    "Wir können natürlich nicht garantieren, dass es nicht regnen wird, aber die Olympischen Spiele fallen in das sogenannte 'Februarfenster'. Dann wird das Wetter besser, die Temperaturen sind angenehm, an der Küste ist es trocken und in den Bergen nicht zu kalt. Das Wetter, das Sie jetzt draußen sehen, ist eher typisches Dezemberwetter. Das kommt leider vor, aber ich nehme mal an, dass es in Deutschland auch gelegentlich regnet."

    Efim Bitenev ist stellvertretender Direktor des Organisationskomitees 2014 in Sotschi. Genauer: Der Vertretung in Sotschi, denn die Entscheidungen über die Olympischen Spiele fallen in Moskau, und dort sitzt auch die Zentrale des Komitees.

    Bitenew dreht einen Flachbildschirm zur Seite und startet eine Präsentation. Die Presseassistentin hat sich dazu gesetzt, mit Diktiergerät und Notizblock.

    Auf dem Monitor erscheinen bunte Kreise und Rechtecke: Die Olympiaanlagen an der Küste, Stadien, ein Teil des Olympischen Dorfes, ein Pressezentrum.

    "Kompakt wie nie zuvor", leuchtet auf dem Bildschirm auf. Für einige Projekte hat sich noch nicht einmal jemand beworben. Die Bauarbeiten verzögern sich. Vor einem Jahr nahm der Vorsitzende der für den Bau verantwortlichen "Staatskorporation für die Olympischen Projekte", der bekannte Großunternehmer Semjon Wajnschtok, seinen Hut - nicht ohne zuvor auf Defizite in der Planung hinzuweisen. Alle paar Monate wechselt der Bürgermeister von Sotschi. Alles Anzeichen von Nervosität. Bitenev spreizt die Hände vor dem Bauch.

    "Ich habe keine Zweifel daran, dass alles rechtzeitig fertig wird. Im Moment ist es für uns am wichtigsten, die Infrastruktur zu schaffen, damit wir das Baumaterial transportieren können. Diese Arbeiten laufen. Ein Eisstadion zu bauen, dauert zwei Jahre. Baubeginn ist Ende 2009, 2011 werden die ersten Testwettbewerbe stattfinden. Kommen Sie öfter, dann werden Sie die Veränderungen sehen. Glauben Sie mir, nicht alles ist so negativ."

    Bitenev lächelt zuversichtlich. Anfeindungen ist er gewohnt. Das Nachbarland Georgien hat nach dem Krieg im August vergangenen Jahres vom IOC gefordert, es solle die Winterspiele an einen anderen Ort verlegen. Sotschi sei zu gefährlich. Die Konfliktregion Abchasien, die sich von Georgien losgesagt hat, ist nur zehn Autominuten von den künftigen Olympiaanlagen entfernt. Salzburg, Verlierer bei der Abstimmung in Guatemala, erklärte prompt, es stehe noch für die Winterspiele 2014 bereit. Doch das IOC hat eine Verlegung abgelehnt. Auch Bitenev wischt Sicherheitsbedenken vom Tisch.

    "Die Sicherheit ist hier in Sotschi auf einem hohen Niveau. Der Präsident Russlands hat hier eine Residenz. Die Dienste haben große Erfahrung darin, Sicherheit zu gewährleisten, wenn hohe Staatsgäste da sind und viele Touristen."

    Im November haben die Geheimdienste einen Sprengstoffanschlag nicht verhindern können. Ein Mann wurde schwer verletzt. Im August waren bereits zwei Menschen bei einer Explosion am Strand ums Leben gekommen.

    Ein weiteres Problem für die Organisatoren ist das Geld. Russland ist stärker von der Finanzkrise betroffen als manch anderer Staat, denn die Regierung hat es versäumt, die Wirtschaft des Landes zu modernisieren. Der Aufschwung der letzten Jahre basierte ausschließlich auf dem Export von Öl und Gas, und die Preise dafür sind in den letzten Monaten drastisch gesunken. Organisator Bitenev sieht auch das positiv. Durch die Finanzkrise würden die Kosten sinken. Alles werde gebaut wie geplant.

    "Wie Sie wissen, ist Putin persönlich zur Entscheidung nach Guatemala gefahren, um den Wunsch der Russischen Föderation zu unterstreichen, die Olympischen Winterspiele auszurichten. Dem habe ich nichts hinzuzufügen. Und glauben Sie mir, die Olympischen Winterspiele bringen den Staatshaushalt der Russischen Föderation nicht in eine prekäre Lage."

    Olympische Spiele wurden schon häufig zu Image- oder Propagandazwecken benutzt. Bitenew macht keinen Hehl daraus, dass das auch in Russland so sein wird. Dutzende PR-Leute sind gerade dabei, eine Marketingstrategie für die Winterspiele 2014 zu entwerfen. Es geht um nichts Geringeres, als den "Geist des neuen Russland" zu präsentieren.

    "Der Geist des modernen Russland - das ist nicht mehr Wodka, Ziehharmonika und Matroschka, obwohl die wohl auch eine Rolle spielen werden. Sondern wir arbeiten ein einzigartiges Produkt aus. Dabei geht es uns nicht nur um ausländische Gäste, sondern auch um die Bürger Russlands. Sie sollen eine neue Stadt entdecken, ein neues Zentrum für aktiven Wintersporturlaub und oft wiederkommen. Der Komfort in der Stadt soll so sein wie in europäischen Städten. Taxifahrer müssen nicht mehr alle Straßennamen kennen, sondern werden GPS haben. Die Busse müssen sauber und sicher sein, die Fahrer müssen eine Uniform tragen, sie dürfen nicht rauchen oder am Steuer telefonieren. All das haben wir in unseren Programmen, und das werden wir bald umsetzen. Wir werden versuchen, Sie 2014 zu überraschen."

    "Einmal flog ich in einem ehemaligen sowjetischen Linienflugzeug nach Sotschi, das klapperte wie ein Dampfkochtopf. Vom Flughafen begab ich mich direkt in die Menge der böswillig-leutselig lächelnden Taxifahrer und sah mich mit großem Erstaunen um. Ich trug schwarze Hosen und eine schwarze Jacke - die Menge von Sotschi, gepunktet oder geblümt, in Sandalen und oft halb nackt, betrachtete mich misstrauisch. Mit Straßenkleidung wirkt man dort heutzutage wie ein Eindringling.

    Sotschi brauchte dringend einen festen Schlag auf den Hinterkopf, um sich vorwärts zu bewegen. Nun hat es ihn bekommen, es hat sich zum Ziel gesetzt, eine ideale Olympiastadt zu werden, von Bergen umgeben und mit Aussicht aufs Meer.

    Als einer, der viel hält auf den gesunden Menschenverstand, habe ich bis zur letzten Minute nicht geglaubt, dass Sotschi das Rennen machen würde. Woher nahm das Internationale Olympische Komitee diesen Glauben? Der russische Staat hat unter der Führung des Präsidenten eine glänzende, groß angelegte Operation durchgeführt, die schon an ein Wunder erinnert. Hier kamen uns die Qualitäten von Putin dem Geheimdienstoffizier und Putin dem Sportler zugute. Sein grandioser Sieg wird in die russische Geschichte eingehen."

    Unterwegs in Sachen Umwelt - Die "ökologische Wache" warnt vor Umweltschäden
    Zu dritt drängen sich Dima Kapcov und seine Freunde auf der Rückbank des Lada Niva. Der russische Geländewagen ist eng und ungefedert, aber billig und zuverlässig - auch in den Bergen. Und genau dorthin geht die Fahrt, in das Bergdorf "Krasnaya Polyana", wo 2014 die Ski-Wettbewerbe stattfinden sollen.

    Dima Kapcov ist Aktivist der Umweltorganisation "Ökologische Wache". Er studiert noch, aber mehr Zeit als an der Uni verbringt er mit Journalisten. Er macht Lobbyarbeit gegen Olympia, weist auf Umweltzerstörungen hin, die seiner Ansicht nach mit den Spielen verbunden sind. Die "Ökologische Wache" hat wenig Geld, deshalb hat der 22-Jährige Freunde gefragt, ob sie ihn fahren können, und die verbinden das mit einem Ausflug in den Schnee. Auf der frisch ausgebauten Straße geht es sanft bergauf. Rechts rauscht der Fluss Mzymta dem Meer entgegen. Links reihen sich ein paar Häuser aneinander. Alle paar hundert Meter steht ein Polizist am Straßenrand.

    "Es gibt Informationen, dass Putin und Medwedew in Krasnaya Polyana sind. Vielleicht sind einige Zufahrten gesperrt. Das ist mir schon mal passiert. Aus Sicherheitsgründen hatte der Geheimdienst die Straße dicht gemacht."

    Die Pisten in Krasnaya Polyana sind bei der Moskauer Prominenz sehr beliebt, besonders, seit Vladimir Putin als frisch gebackener Staatspräsident hier Ski lief.

    "Bei uns im Land ist es so, dass der Präsident mit seinen sportlichen Vorlieben Trends setzen kann. Schade, dass er nicht Schach spielt - oder einen anderen weniger bedenklichen und billigeren Sport ausübt."

    Aber wie viele Bäume würden dann zu Schachbrettern verarbeitet, scherzt Dimas Freund Jurij.

    Das Bergdorf Krasnaya Polyana liegt im Sotschi-Nationalpark. Zugleich grenzt es an das streng geschützte Naturreservat Westkaukasus. Dort leben die letzten Exemplare des vom Aussterben bedrohten Westkaukasischen Steinbocks sowie Kaukasische Gämse und Braunbären. Auch die sind gefährdet. Das Naturreservat Westkaukasus gehört dank seiner einzigartigen Natur sogar zur Welterbeliste der UNESCO. Umweltschützer haben von Anfang an dagegen protestiert, dass in seiner Nähe Olympische Winterspiele stattfinden sollen.

    Im vergangenen Sommer haben sie zumindest einen Teilerfolg erzielt. Denn ursprünglich wollten die Olympiaplaner direkt angrenzend an das Schutzgebiet die Bob-Bahn und einen Teil des Olympischen Dorfes bauen. Greenpeace äußerte Bedenken, ebenso die UNESCO und auch die Ökologische Wache Kapcovs. Der internationale Druck stieg. Anfang Juli ordnete Regierungschef Wladimir Putin schließlich an, die beiden umstrittenen Projekte an einer anderen Stelle zu bauen, weiter entfernt von dem Naturschutzgebiet.

    Nach wenigen Kilometern hat die Fahrt ein vorläufiges Ende: ein Stau und noch mehr Polizisten. Pavel, einer der Freunde, beugt sich nach vorn.

    "Da habt ihr es. Und ihr redet von Olympia. Schaut doch nur. Von wegen Olympia. Hier wird niemals irgend etwas stattfinden."

    Pavel verlagert das Gewicht auf die andere Gesäßhälfte, versucht, die Beine zumindest ein bisschen auszustrecken.

    "Stellt euch doch bloß mal vor, was passiert, wenn hier erst gebaut wird. Die Masse von Fahrzeugen: Transporter, LKW. Ihr wollt nach Krasnaya Polyana und vor euch schleicht ein Laster den Berg hinauf: die Riesenschlange, weil es nur zwei Fahrbahnen gibt. Wenn die Bauarbeiten erst beginnen, dann geht hier gar nichts mehr."

    Die Planer wollen Abhilfe schaffen. Rechts, auf der anderen Seite des Flusses, soll eine zweite Straße gebaut werden, dazu noch eine eingleisige Bergbahn, die die Besucher direkt vom Flughafen ins Skigebiet bringen soll. Für Dima Kapcov sind diese Pläne ein Grauen.

    "Dieser Fluss ist einer der größten von Sotschi. Er versorgt die halbe Stadt mit Trinkwasser. Nicht nur die neue Straße und die Bahn, sondern alles, was in den Bergen für Olympia gebaut wird, hat äußerst negative Folgen für diesen Fluss. Wenn in seinem Quellgebiet Bäume gefällt werden, gibt es Erdrutsche, und die Wasserzufuhr gerät aus dem Gleichgewicht. Im Sommer wird das Wasser knapp, und im Frühling und Herbst gibt es stärkere Hochwasser. Wenn der Druck auf die Natur weiter steigt, dann leidet dadurch das gesamte Ökosystem der Region. Die Tiere und Pflanzen, die vom Aussterben bedroht sind, werden verschwinden."

    Eine schwarze Limousine fährt mit Blaulicht vorbei, gefolgt von einem weißen Wolga.

    Die Fahrt geht weiter, wenn auch langsam. Ein Verkehrspolizist winkt die Autos vorbei. Hohe Berge sind zu sehen. Schnee türmt sich am Straßenrand. Zweige biegen sich unter der weißen Last.

    In Krasnaya Poljana kriechen die Autos Stoßstange an Stoßstange über die halb vereiste Fahrbahn. Fußgänger stapfen über die Schneehaufen auf den Bürgersteigen. Der Ort ist langgestreckt, hier und da ein Restaurant, dazwischen, eingezäunt, Appartementanlagen. An jedem Laternenmast hängt eine russische Fahne. Dima Kapcovs Freunde wollen Rodeln gehen. Er selbst verschwindet in einer Seitengasse. Er will mit Anwohnern reden.

    Die Holzhäuser scheinen unter der Schneedecke fast zusammenzubrechen. An einem Tor klebt ein Schild: "Sotschi 2014, Kandidat für Olympia."

    Gegenüber wohnt Juri Scherbakow mit seiner Familie. Er sitzt mit seinem Sohn im Esszimmer. Sie haben Feldsteine auf dem Ofen gestapelt, damit er die Wärme besser hält. Juri Scherbakow ist Mathematiklehrer, aber seit drei Jahren arbeitet er in einem der neuen Luxushotels als Wachmann. Denn dort verdient er drei Mal so viel wie in der Schule.

    "Ich war früher mal im Tourismus, ich habe Kinder durch den Wald geführt. Der Wald hier ist wild. Es ist ein Märchenwald. Er ist unberührt. Es gibt Wildbäche und Quellen. In den 70-er Jahren wurden hier auch Bäume gefällt. Es gab ein großes Sägewerk. Aber damals wurde der Wald wieder aufgeforstet, es wurden junge Bäume gepflanzt. Jetzt macht das niemand mehr. Die fällen nur und transportieren das Holz ab. Auch in den Schutzgebieten. Und mir scheint, sogar an den Hängen, an denen die Gefahr von Lawinen und Erdrutschen besteht, verschwinden die Wälder, die beides aufhalten könnten. Erst im letzten Jahr gab es einen großen Erdrutsch."

    Bei einer öffentlichen Anhörung habe er seine Bedenken frei heraus geäußert und nach den Rodungen gefragt. Eine befriedigende Antwort hat er nicht bekommen.

    "Es bleibt doch nur sehr wenig Zeit für den Bau aller Anlagen, und ich habe Angst, dass sie deshalb einfach alles abholzen, ganz schnell, ohne gründliche Planungen, ohne Umweltgutachten. Ich bin für die Olympischen Spiele. Aber sie müssen so geplant werden, dass sie sich nicht negativ auf die Umwelt und damit auf unsere Zukunft auswirken."

    Dima Kapcov nickt zustimmend und bedankt sich. Er fühlt sich bestätigt. Wieder draußen, ist er nachdenklich. Die Olympische Charta verpflichtet das IOC und die Organisatoren von Olympischen Spielen, "verantwortungsvoll" mit der Umwelt umzugehen.

    "Entgegen allen offiziellen Erklärungen, dass alles gut laufen wird, ist bisher das Gegenteil der Fall. Die Natur ist bereits geschädigt. Und bisher sehe ich keine Anzeichen dafür, dass die Regierung ihre internationalen Verpflichtungen einhält."

    Profit vor Augen - Oligarchen bauen ein Skigebiet
    Die Straße durch das Bergdorf Krasnaya Polyana endet an einem Skilift. Davor parken Busse und Autos. Frauen verkaufen einheimischen Honig, Kräuter und hausgemachte Marmelade. Skifahrer in Skistiefeln staksen über den vereisten Gehweg.

    Gleich neben dem Parkplatz führt ein Sessellift hinauf zu den Pisten. Es ist der älteste Lift im Ort, gebaut schon in den 90-er Jahren. Andrej Ischutin ist mehrere Stunden Ski gelaufen. Mit geröteten Wangen steigt er aus dem Lift, lehnt seine Ski an den Zaun, fährt sich über das feuchte Haar. Daheim in Moskau entwickelt Andrej Ischutin Immobilien. Jetzt macht er ein paar Tage Urlaub.

    "Seit einigen Jahren schon versuche ich, jeden Winter hierher zu kommen. Ich bin schon an vielen Orten Ski gelaufen: in Österreich, in Frankreich, Italien, der Schweiz. Hier sind die Berge anders. Ich will nicht behaupten, dass es in den Alpen schlechter ist, aber hier stehen Bäume, die Luft ist anders. Hier sind ja Subtropen, es ist feuchter, und vor allem ist der Schnee besser, flauschiger. Allerdings sind die Pisten nicht vergleichbar mit denen in Europa. Dort hat man ja hunderte Kilometer. Aber mit den Olympischen Spielen werden die Pisten hier ja auch ausgebaut."

    Andrej Ischutin findet die Olympischen Spiele in Sotschi gut, und er wird auf jeden Fall zum Zuschauen kommen. Zuvor will er seinen Eltern noch ein Haus in Krasnaya Polyana bauen.

    "Olympische Spiele im eigenen Land erlebt man ja eigentlich nur einmal im Leben. Gut, wir hatten sie 1980, aber da war ich sehr klein. Ich denke, das wird ein Fest für uns. Unser Präsident und der Premierminister tun alles, damit die Olympischen Spiele hier statt finden können."

    Anders, als unten am Meer, sind in den Bergen immerhin schon einige Anlagen zu sehen. Drei der vier Skigebiete sind zumindest teilweise in Betrieb. Am vierten, "Roza Chutor", wird gerade gebaut. Die Talstation ist schon fertig, samt Restaurant und Skiverleih. Die beiden Fachwerkhäuser liegen versteckt ein Stück weiter den Fluss Mzymta hinauf. Lange Eiszapfen hängen von den Dächern. Ein Bagger kratzt den frischen Schnee zur Seite. Arbeiter verlegen ein Rohr.

    Die Skigebiete in Krasnaya Polyana sind aufgeteilt, zwischen dem halbstaatlichen Gaskonzern Gazprom und den Milliardären Oleg Deripaska und Vladimir Potanin. "Roza Chutor" gehört Potanin. Der ist mit Nickel reich geworden. Es heißt, er habe Vladimir Putin auf die Idee mit den Olympischen Spielen gebracht. Auf "Roza Chutor" werden die Ski-Abfahrtsrennen, Slaloms und Snowboard-Wettbewerbe stattfinden. Außerdem hat Potanin einen Teil des Olympischen Dorfes und ein Pressezentrum abbekommen. Nach den Spielen 2014 wird all das zu Hotels umfunktioniert.

    Potanins Mann vor Ort heißt Aleksander Belokobylskij, und er ist extra einen Tag eher aus dem Urlaub zurückgekehrt, um zu zeigen, dass es vorangeht. Mit offener Jacke und Skihose geht er über die Baustelle. Wuschelige Welpen springen um seine Beine, wälzen sich im weichen Schnee.

    "Die Leute füttern die Hunde mit Abfällen aus der Kantine. Die streunen hier herum."

    Im Restaurant riecht es nach frischer Farbe. Computerbedruckte Zettel kennzeichnen die Räume: Küche. Spülraum. Eierverarbeitung. Belokobylskij zeigt auf Regale mit Halterungen für die Ski. Sie sind noch leer und lassen sich beinahe lautlos auf Rollen verschieben.

    "Das hier ist der Verleih, mit topmoderner Einrichtung. Hier kommen noch Trockner für die Skistiefel hin. In zwei, drei Jahren wird Sotschi ein Ski-Mekka sein. Wir haben Geld. Wir haben eine schöne Natur. Wir haben die besten Ingenieure. Deshalb bekommen wir einen der besten Skiorte in Europa, in der Welt."

    Im Büro steht ein Modell. Zwei mal zwei Meter groß, das Relief der Berge, mal grün, mal weiß, darauf verlaufen farbige Linien: Die Pisten.

    "Wir haben Wald abgeholzt. Das wollen wir nicht verschweigen. Aber die meisten Pisten befinden sich dort, wo Lawinen heruntergekommen sind. Dort war sowieso kein Wald mehr. So konnten wir einige Bäume retten."

    Belokobylskij kann die Kritik der Umweltschützer nicht verstehen. Für "Roza Chutor" hätten sie alle gesetzlich vorgeschriebenen Umweltgutachten erhalten, betont er. Kritiker sagen, diese Umweltprüfungen hätten nur das Ziel, Regierungsentscheidungen den Anschein des Gesetzmäßigen zu geben.

    Auf der Terrasse schippen Arbeiter Schnee. Die Sonne taucht das Tal in milchiges Licht. Die Luft ist klar. Auf einem Schild steht "Wir haben 192 Bäume gerettet". Belokobylskij sagt es offen: Roza Chutor ist ein kommerzielles Projekt. Es soll Gewinn bringen. Gebaut hätten sie auch ohne Olympia, doch die Spiele sind für ihn ein Glücksfall.

    "Ich bin hier geboren. Ich habe immer gewusst, dass dieser Ort Besseres verdient. Früher war das mal ein Nest mit dreieinhalbtausend Einwohnern. Es gab Imkereien, Sägewerke und Sommergäste. Aber keinen Skiurlaub. Ich fühle Stolz, Verantwortung und Freude. Ihnen gefällt es doch auch."

    "O Mutter der goldene Kränze stiftenden Kampfspiele, Olympia, Herrin der Wahrheit.
    Groß ist der Ruhm allemal,
    wenn einem deine glänzende Ehre zuteil ward.
    Jeden trifft ein anderes Glück,
    viele Wege führen
    mit Gottes Hilfe zum Erfolg.

    Stärkstes ist überall das von Natur aus Angelegte. Viele Menschen
    machen sich jedoch auf, mit angelernten
    Leistungen sich Ruhm zu holen.
    Jede Sache, die ohne göttliche Begabung ausgeführt wird,
    bleibt lieber verschwiegen."

    Schneeleoparden gegen Delphine - Der Süden bekommt Eishockey
    Nebeneinander stehen sie auf der Umkleidebank, dünn, in Unterwäsche, neben sich Kleiderkoffer, größer als sie selbst. Mütter, Väter, Großmütter knien vor ihren Kindern und Enkeln und stülpen ihnen die Ausrüstung über: Schulter-, Ellbogen-, Unterleibschutz, Schienbeinschützer, schließlich den Helm mit dem Gitter vorm Gesicht. Alles muss richtig sitzen und sorgfältig verschlossen werden. Zum Schluss kommen die Schlittschuhe.

    Die Eisbahn steht im Süden von Sotschi, im Bezirk Adler. Sie ist neu, ein Jahr alt. Eine einfache Halle mit Wellblechdach, gleich neben einer Hühnerfarm. Die Bahn ist jeden Tag ein paar Stunden für die Allgemeinheit geöffnet. Es gibt ein Restaurant und Billardtische. Hier trainieren aber auch die "Schneeleoparden". Das ist die Eishockeymannschaft von Adler. Die Spieler sind zwischen sechs und acht Jahren alt und stehen erst seit wenigen Monaten auf Schlittschuhen. Heute treten sie gegen die "Delphine" aus dem Zentrum von Sotschi an.

    "Rein theoretisch können die Kleinen 2014 Junioren sein. Vielleicht können sie sich bei den Olympischen Spielen präsentieren, vielleicht können sie bei der Eröffnungsfeier helfen - mal sehen."

    Elena Pantelejeva ist Lehrerin. Sie steht etwas abseits, blickt hinüber zu ihrem Sohn Nikita. Der 7-Jährige wird von seinem Vater angekleidet.

    "Wir müssen eine gesunde Nation heranziehen. Ich möchte nicht, dass mein Sohn auf der Straße herumhängt. Er soll seine Freizeit dem Sport widmen. Das ist das Wichtigste. Das ist gut für die körperliche Entwicklung und bietet auch eine Perspektive für die Zukunft. In unserer Stadt gibt es nicht so viele Berufe, die nützlich sind und zu denen unsere Kinder Zugang haben. Im Sport dagegen können sie viel erreichen. Und dass hier demnächst Olympische Spiele stattfinden werden, stimuliert die Kinder."

    Nikita ist fertig. Er greift nach dem Eishockeyschläger und stolpert breitbeinig aufs Eis. Seine Mutter lächelt ihm noch einmal zu.

    "Mal sehen, wie sie sich heute schlagen. Das erste Spiel war natürlich furchtbar. Da sind sie alle im Pulk der Scheibe hinterher gerannt. Jetzt kennen sie ihren Platz auf dem Eis, ihre Rolle. Heute müssen sie kämpfen, auf Leben und Tod."

    Die "Delphine" aus Sotschi sind eingetroffen. Evdokija Atamanova streift ihrem Enkel den Pullover über den Kopf. Ramaz, ein schmächtiger Junge mit zarten Gelenken und dunklem Haar, spielt bereits seit einem Jahr Eishockey. Die Oma kramt in einer großen Tasche, alles ist durcheinander. Ein Klettverschluss will nicht halten. Ramaz treibt sie zur Eile, die anderen seien alle schon fertig.

    Für Ramaz ist klar: Sie, die "Delphine", werden heute siegen. Neulich hätten sie 12:0 gegen Stavropol gespielt. Und sie hätten schon drei Pokale gewonnen.

    Alles ist ein wenig improvisiert - auch die Musikanlage. Bisher gab es in Sotschi allenfalls Segel- und Schwimmmeisterschaften. Der Wintersport steht ganz am Anfang.

    Die Mannschaften haben sich auf dem Eis in einer Reihe aufgestellt. Die Spieler schubsen sich, ab und zu fällt einer um. Zur Hymne wird die russische Fahne gehisst. Dann geht es los.

    Das erste Tor schießen die Schneeleoparden aus Adler. Die Eltern jubeln: 1:0 für die Gastgeber. Doch dann fallen sie schnell zurück. Die Delfine aus Sotschi spielen besser zusammen und liegen schnell mit einigen Toren Differenz vorn. Der Trainer der Schneeleoparden, Alexander Voronin, vergräbt die Fäuste in den Jackentaschen. Der 36-Jährige ist aus Sibirien an die Schwarzmeerküste gekommen und steht von morgens bis abends auf der Eisbahn, immer im Dienste des Eishockeys.

    "Es steht schon 5:1. Ihr verliert! Nummer acht, du musst kämpfen, verstanden? Du läufst hier herum wie eine Zierpuppe."

    Elena Pantelejeva, die Mutter des kleinen Nikita, strahlt trotzdem.

    "Im Vergleich zum letzten Mal spielen sie besser. Beim ersten Spiel haben sie sogar die Tore verwechselt. Sie wussten nicht, welches ihres ist. Jetzt sieht das schon viel besser aus."

    Am Ende gewinnen die "Delfine" mit 9:2. Evdokija Atamanova, die Oma aus Sotschi, reißt die Arme hoch.

    Aufmunternd nickt sie ihrem Enkel zu. Ramaz strahlt. Zurück auf der Umkleidebank, stupst sie den Kleinen an. Er solle mal sagen, was er werden wolle. Die Antwort kommt prompt: Olympiasieger.

    "Für diese Olympischen Spiele sind wir natürlich noch zu klein. Aber wir hoffen auf die Zukunft. Wenn alles gut läuft, kriegen wir zu den Olympischen Spielen schöne, richtige Eisstadien, und dann sind wir gerade im richtigen Alter und können Profis werden."

    Das waren Gesichter Europas. Putins Piste - Sotschi und die Olympischen Winterspiele 2014. Eine Sendung von Gesine Dornblüth. Der Essay "Sodom Sotschi" von Viktor Jerofeev ist in der "Zeit" erschienen. Ihn und die Auszüge aus Pindars "Olympischen Oden" für die Sieger bei den Olympischen Spielen las Tilmar Kuhn. Die Redaktion der Sendung hatte Norbert Weber.