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Quälende Sehnsucht

Im London der 50er-Jahre, als die Wunden des Krieges noch in den Körpern und Herzen steckten, hat Terence Davies seinen Film "The Deep Blue Sea" angesiedelt. Hester hat die Gefühlskälte des Richter-Haushalts mit einem in die Jahre gekommenen Muttersöhnchen, das an ihre sexuelle Erfüllung keine Mühe verschwendet hat, gegen die unglückliche Liebe zu einem unverbesserlichen Hallodri getauscht.

Von Josef Schnelle | 27.09.2012
    "Hattest Du was vorbereitet?" – "N' Steak und ne Flasche Rotwein." – "Entschuldige, komm schon. Es tut mir leid es tut mir so leid. Ich kann nichts anderes mehr sagen oder?" " Nein." – "Liebst Du mich noch." – "Ja. Ja."

    Er kommt spät und merkt nicht gleich, dass er ihren Geburtstag vergessen hat. Auch wenn ihre sexuelle Leidenschaft nun endlich erfüllt zu sein scheint, so lässt sie sich doch von Freddie ziemlich mies behandeln. Hester Collyer hat sich für ein Leben mit Freddie entschieden, einem ehemaligen Royal Air Force-Piloten, dem nun die Mischung aus Angst und Aufregung fehlt, die sein Leben im Krieg für ihn bedeutet hat. Für ihn hat die vierzigjährige Frau ihr sicheres Leben mit einem wohlhabenden Richter hinter sich gelassen. London in den frühen 50er-Jahren. Noch sind die zerbombten Häuserlücken zu sehen. Großbritannien ist auch nicht mehr "Groß". Es ist vom Krieg ausgezehrt, hungrig und kulturell verarmt. Die Wunden des Krieges stecken auch noch in den Körpern und den Herzen. Die Geschichte beginnt etwa zehn Monate nachdem Hester ihren Mann verlassen hat. Die frühere feine Wohnadresse hat sie nun gegen ein möbliertes Mietzimmer in einer Pension eingetauscht, bei dem sie jeden Penny für den Gasometer dreimal umdrehen muss. Wenn wenigstens die Liebe stimmen würde - abseits der Liebesschwüre vor dem Höhepunkt. Freddie ist jedoch ein wahrer Nichtsnutz, der sich treiben lässt und sich für nichts verantwortlich fühlt und auch noch prahlt mit seinen selbstsüchtigen Eskapaden.

    ""War Dein Wochenende gut?" – "Ja nicht übel. Ich hab beide Male gewonnen und Jack n Fünfer entrungen. Er war sauer. Und dann fing's an zu regnen. Also hörten wir auf zu Golfen." – "Wie hoch war Dein Gewinn?" – "Äh sieben." – "Krieg ich was für die Miete?"

    Bei ihrer Wahl zwischen "Dem Teufel und der tiefen blauen See", so ein britisches Sprichwort, hat sich Hester also nicht unbedingt verbessert. Der Gefühlskälte des Richter-Haushalts mit einem in die Jahre gekommenen Muttersöhnchen, das an ihre sexuelle Erfüllung keine Mühe verschwendet hat, folgt die unglückliche Liebe zu einem unverbesserlichen Hallodri. Zwischen Pest und Cholera weiß sie keinen anderen Ausweg als den Selbstmord, der allerdings misslingt. Achtlos in ihren Bademantel gestopft hat sie den an Freddy gerichteten Abschiedsbrief und ist entsprechend entsetzt, als dieser ihn doch noch zufällig findet.

    "Freddy gib das her." – "Der ist für mich." – "Ich bitte Dich, lies ihn nicht." – "Der ist für mich."

    Terence Davies unterläuft die melodramatische Gefühligkeit der Kammerspielvorlage durch einen außerordentlich zurückgenommenen Darstellungsstil der Schauspieler. In seinen Meisterwerken "Distant Voices. Still Lives" 1988 und "The Long Day Closes" 1992 arbeitete Davies mit Volksliedern der Arbeiterklasse seiner Heimatstadt Liverpool. Dieses Element hat er auch an zwei Stellen in "The Deep Blue Sea" zitiert. Einmal - in einer Rückblickszene - hat sich Hester vor deutschen Bombenangriffen in eine U-Bahn-Station geflüchtet als ein Soldat auf dem Bahnsteig denn Klassiker "Molly Malone" anstimmt. Und in dem überfüllten Pub, in dem sie Freddie kennengelernt hat, singen alle "You belong to me" - ein Lied von Jo Stafford, das man den davonziehenden Soldaten hinterher sang.