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"Que faire - le retour"

Der Kunstkritiker Jean-Charles Massera ist einem wirren Konvolut sozialer Rollen auf der Spur. Seine Schauspieler auf der Bühne ringen mit der Einsicht, dass ihnen die Herrschaft über die Welt und über ihr eigenes Leben längst entglitten ist. In seiner neuen Arbeit kommt ein Paar zur Besinnung und macht sich daran, den verschütteten Kanon der europäischen Kultur wieder auszugraben und zu überprüfen.

Von Eberhard Spreng | 09.06.2011
    Was zu tun ist, entscheidet sich in der Küche. Da sitzen Mann und Frau an einem kleinen Tisch. Sie hat gerade hastig die Suppe ausgeteilt, da ihr ein altes Buch in die Hände gefallen ist, das sie deutlich mehr interessiert als das Essen. Es ist Descartes, der in seinen "Méditations Métaphysiques" davon spricht, dass er sich von allen seinen Meinungen lösen will, die ihm bis dahin lieb und teuer waren. Mehrfach zitiert sie einen entscheidenden Satz, leicht will er nicht in die offensichtlich nicht mehr an philosophische Lektüre gewohnten Gehirne. Aber nun hat auch er in der kahlen Heimstatt, in der nichts ist außer einer Einbauküche, Gefallen gefunden an alten Büchern, eilt nach draußen und kehrt mit einem Wägelchen voller Werke in Ledereinbänden zurück. Aus dem Keller könnte er sie geholt haben, wohin die beiden schon leicht in die Jahre gekommenen Normalbürger sie wohl schon vor langem verbannt haben. Weil mit der Wiederkehr der Denkanreize aber auch das große Chaos im Gehirn droht, kommen gleich auch wieder Müllsäcke ins Spiel, um all das wegzuwerfen, was hier und jetzt, am Beginn des 21. Jh. nicht weiterhilft. Was also tun mit der französischen Revolution, die bekanntermaßen in die Jahre der Terreur geführt hat? Was tun mit der russischen Revolution, in der der Keim eines Totalitarismus schon angelegt war, mit dem vor allem er nichts zu tun haben will? Es sind kurze, lustige, hitzige Dialoge, an deren Ende entschieden ist, ob man ganze Gruppen von Büchern, ganze Epochen, an die sich einst die Hoffnungen ganzer Generationen knüpften, wegwirft oder behält. Das Kapital von Karl Marx bekommt in dem unentschiedenen Streit einen Sonderplatz im Küchenschrank, ebenso wie das Titelgebende "Was tun" des Wladimir Iljitsch Lenin. Aber auch Kunst kommt in diesem heiteren Kehraus auf den Prüfstand: Malewitschs "schwarzes Quadrat" kann er trotz ihrer Skepsis für die Zukunft retten ebenso wie Joseph Beuys' Aktion "Coyote; I like Amerika und Amerika likes me" vom Mai 1974. Mit wachsendem Eifer und Spaß am Ausbruch aus ihrem kleinen langweiligen Leben steigern sich die Beiden, brillant verkörpert von Martine Schambacher und Francois Chattot, in die revolutionäre Lektüre und überraschen sich gegenseitig mit Fundstücken. Guy de Maupassants Hassrede auf die gute Gesellschaft, die dumme Regierungskaste und das polemische Lob der Blutrevolutionäre wie Robespierre ist eines davon. Dann kommen auch Mikrofone auf die Bühne, beim Zitieren neuerer Texte wie einem des Kulturphilosophen Raoul Vaneigem.

    891 Le pouvoir de l'argent et l'argent du pouvoir ont toujours été inséparables. La folie de l'argent et le pouvoir fou vont de pair, fouaillés par l'avidité ascétique et les plaisirs réduits aux déjections de la carence affective. L'argent a toujours drainé dans son sillage le sang, la corruption, la violence.

    Die Herrschaft des Geldes als einem Ausdruck eines elementaren emotionalen Mangels beklagt der Theoretiker der situationistischen Internationale. Und so als gelte es, gegen die graue Tristesse der herrschenden Verhältnisse zuerst einmal die eigene Gefühlswelt zu setzen, streut Jean-Charles Massera nun auch Chansons ein, sentimentale Hymnen auf die Kraft der kleinen Leute, dem Unbill des Alltags zu trotzen. Jetzt sind beide in Showkostüme gekleidet und spielen mit Chansons von Anne Sylvestre bis Nina Hagen den Aufbruch der Herzen in den Posen des Showbiz.

    Immer wieder hatte Jean-Charles Massera in seinen Radiostücken und in seinen Texten Unterhaltung und knallharte ökonomische Gesetze, die globalen Wirklichkeiten und das kleine private Gefühlchen ineinander verwoben. In Texten wie "United Emmerdement of New Order" oder "We are l'Europe" ergänzen sich kurze Szenen zu dem Puzzle eines Weltzustandes, in dem unsere gewohnten Gewissheiten längst überholt sind und neue Gesetze herrschen, die zur totalen Heimatlosigkeit der Gehirne und zur völligen Orientierungslosigkeit führen. "Que faire?" ist im Vergleich dazu eine fast gemütliche Reise zurück zu Denkwelten insbesondere der 60er und 70er Jahre. Regisseur Benoît Lambert hat das zudem zu einer Revue versentimentalisiert, die in Charles Trénets "Boum" endet, im heiteren Seinszustand des Verliebten, dessen Herzklopfen sich in das akustische Universum des Weltganzen mit allen seinen Tier- und Naturgeräuschen einfügt. Revolution bleibt in Frankreich aufs erste eine Frühlingsveranstaltung und fängt mit der Liebe zwischen Mann und Frau an.