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Gähnen

Jeder Mensch macht es und auch viele Tierarten: das Gähnen. Allerdings ist bis heute ungeklärt, warum wir es machen. Müdigkeit spielt zwar eine große Rolle, ist aber vermutlich nicht der einzige Grund. Deshalb gibt es viele Thesen zum Gähnen.

Von Andrea Westhoff | 20.02.2018
    Ein Mädchen gähnt.
    Ein Mädchen gähnt. (picture alliance / dpa - Martin Gerten)
    Alle gähnen. Jeden Tag, und jeder Mensch im Leben etwa 250.000 mal. Das fängt schon vor der Geburt an. Auch viele Tierarten tun es: Affen, Raubkatzen, Hunde, sogar Vögel und Reptilien.
    Gähnen – das im ursprünglichen Wortsinn "Mund- oder Rachenaufsperren" – ist ein Reflex: Einmal ausgelöst, dauert es vom tiefen Ein- bis zum langen Ausatmen circa sechs Sekunden ...
    "Es werden einmal die Muskulatur des Mundbereichs angespannt, aber eben nicht nur des Gesichtsbereichs, sondern schon auch des Körpers, was ja jeder kennt."
    Das Zwerchfell hebt und senkt sich, Brust- und Nackenmuskulatur werden fest, und Gähnen kann sogar das Kiefergelenk ausrenken!
    Als gefährlich galt es schon im Mittelalter:
    "Bedeckt man beim Gähnen seinen Mund nicht, kann einem der Teufel die Seele rauben."
    Viele Hypothesen zum Gähnen
    Aber warum müssen wir überhaupt gähnen? Es sind einige Hypothesen zusammengekommen, doch so ganz genau kann das bis heute niemand sagen. Obwohl es sogar Gähnforscher, "Chasmologen", gibt.
    "Gähnen ist ein stummer Schrei nach Kaffee."
    Die Spruchtafel hängt in vielen Büroküchen – denn so viel ist klar: Müdigkeit spielt eine große Rolle bei diesem Reflex: Professor Ingo Fietze, Leiter des interdisziplinären Schlafforschungszentrums an der Charité:
    "Müdigkeit heißt, dass die Schlafhormone zunehmen oder die Wachhormone abnehmen, und wenn wir gähnen, dann gähnen wir in der Regel morgens nach dem Aufstehen, weil wir vielleicht nicht ausgeschlafen haben, wir gähnen zwischen 9 und 10, weil wir da in die erste Müdigkeitsphase kommen, zwischen 12 und 14 Uhr, das Mittagstief, und vielleicht noch mal zwischen 16 und 18 Uhr, und dann eben vor dem Schlafengehen."
    Dabei hängt die "Gähnfrequenz" davon ab, wie man mit dem natürlichen Schlaf-Wachrhythmus umgeht – oder umgehen kann. Etwa, wenn man in einem Gespräch nicht unhöflich sein möchte oder eine langweilige, also monotone Situation überstehen muss. Denn Gähnen ist auch eine Stressreaktion des Körpers:
    "Wenn man Müdigkeit zulässt und sagt: schön, dass ich müde bin, vielleicht schlafe ich auch gleich ein und gönne mir das auch, dann wird man wahrscheinlich weniger gähnen. Die Müdigkeit wird ja dann zum Stress, wenn ich merke, es passt gar nicht."
    Beim Gähnen steigen Herzfrequenz und Durchblutung leicht
    Es dient auch generell dem Spannungsabbau – so wurde zum Beispiel bei Fallschirmspringern beobachtet, dass sie häufig "herzhaft" gähnen, bevor sie das Flugzeug verlassen. Und es steigert gleichzeitig die Aufmerksamkeit: Raubtiere gähnen zum Beispiel kurz vor Fütterung oder Jagd.
    Es ist eine kurze Weckreaktion, beim Gähnen steigen Herzfrequenz und Durchblutung auch etwas; es wird einmal die Lunge mit etwas mehr Luft inklusive Sauerstoff durchlüftet, was zu der Spekulation führte, dass Sauerstoffmangel vielleicht etwas damit zu tun hat, aber wenn man den Sauerstoff im Blut misst, dann stellt man fest: vor, während und nach dem Gähnen ändert sich der Sauerstoffgehalt nicht.
    Eine weitere Hypothese besagt, dass durch Gähnen die "Arbeitstemperatur" des Gehirns reguliert wird. Bei Ratten jedenfalls konnte der amerikanische Psychologe Andrew Gallup zeigen:
    "Der Gähnreflex wird ausgelöst, sobald die Temperatur des Gehirns minimal von der Idealtemperatur von 37 Grad abweicht. Es verstärkt den Blutfluss ins Gehirn und kühlt es."
    Schlafforscher Ingo Fietze bleibt im Hinblick auf das menschliche Gähnen dennoch skeptisch:
    "Dass das Gehirn gekühlt wird durch das Gähnen, das hat vielleicht eher was mit dem Kreislauf zu tun. Dass in der Phase des Gähnens der Blutstrom ins Gehirn etwas schneller stattfindet, das ist eine These, die bisher nicht erwiesen werden konnte, sag nie "nie", es ist auch nicht beweisen, dass dem nicht so ist, aber zukünftige Techniken, wo wir die Hirntemperatur nicht nur oberflächlich, sondern auch in der Tiefe messen werden können, wird vielleicht auch diesem Phänomen mal nachgehen."
    Gähnen als sozialer Reflex
    Der Gähnforscher Gallup ist übrigens auch überzeugt, dass Häufigkeit und Dauer etwas mit der Größe und Komplexität des Gehirns einer Spezies zu tun haben. Dafür spricht einiges, denn Gähnen ist nicht nur ein physiologischer, sondern auch ein sozialer Reflex:
    "Ihr kennt es vielleicht auch: Ihr seid mit Menschen zusammen in einem Raum, der eine gähnt, und alle anderen müssen auf einmal auch gähnen."
    Es ist ansteckend, was junge Internet-Blogger zu sogenannten "Challenges", Wettbewerben, animiert: Gähner um Gähner erschienen auf dem Bildschirm:
    "Wenn ihr einmal gähnt, ist die Challenge vorbei."
    Neurowissenschaftler vermuten, dass die Ansteckung mit Spiegelneuronen zu tun hat, also mit Strukturen im Gehirn, die das direkte Nachahmen des Verhaltens anderer auslösen. Dabei spielt die emotionale Nähe zwischen Individuen eine entscheidende Rolle, wie Primatenforscher aus Atlanta nachgewiesen haben. Sie zeigten Schimpansen Videos von verschiedenen gähnenden Affen:
    "Die Schimpansen gähnten deutlich mehr, wenn sie Artgenossen aus der eigenen Gruppe sahen. Das zeigt, dass ansteckendes Gähnen ein Maßstab für Empathie ist."
    Ein Zeichen von Übermüdung oder Erschöpfung
    Diese Fähigkeit, Gefühlsregungen anderer zu erkennen und mitzufühlen, hat aber nicht jeder, auch das zeigten "Gähntests". Säuglinge und Kleinkinder lassen sich nicht anstecken, weil die Empathiefähigkeit erst nach und nach entwickelt wird. Und auch Menschen mit Autismus reagieren meistens nicht.
    Andererseits gähnen manche Menschen deutlich mehr als andere. Ist das ein Krankheitssymptom? Professor Ingo Fietze:
    "Es ist mit Sicherheit ein Zeichen von Übermüdung oder Erschöpfung, wenn das aber ausgeschlossen ist, dann würde ich sagen, Gähnen ist kein Zeichen irgendeiner Art einer inneren Erkrankung."
    Apropos krankhaft: Das Gähnen zu unterdrücken ist – medizinisch gesehen – eher ungesund.
    "Das Unterdrücken eines solchen Reflexes macht aus meiner Sicht überhaupt keinen Sinn, natürlich ist es nicht gesellschaftsfähig, aber da sollten wir uns eher nicht ändern und den Reflex unterdrücken, da sollte die Gesellschaft sich ändern", meint der Schlafforscher Fietze mit einem kleinen Seitenhieb auf unsere moderne Non-Stop-Gesellschaft, die Müdigkeit und das natürliche Bedürfnis nach Pausen "unterdrückt".
    Übrigens: Gähnen wird häufig auch schon ausgelöst, wenn man das Geräusch hört, etwas darüber liest oder bloß daran denkt.