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Rätselhaftes Kopfnicken im Südsudan

Im Südsudan, dem jüngsten Land der Welt, staunen Wissenschaftler über eine rätselhafte Krankheit. Tausende Kinder leiden am sogenannten Kopfnicksyndrom. Die Gesundheitsbehörden des Südsudans haben bereits die Weltgesundheitsorganisation zur Hilfe gerufen.

Von Niklas Schenck | 07.12.2011
    Das Usratuna-Krankenhaus im Zentrum von Juba, unter zwei Ventilatoren im Warteraum drängen sich knapp hundert Patienten. Sie wollen Dr. Anna Mary Otim sehen, die einzige Ärztin hier. Das kann Stunden dauern. Denn für manche Patienten wie die 13 Jahre alte Joice Kiko muss sich Dr. Otim trotz des Andrangs viel Zeit nehmen. Die Mutter Elena muss der Ärztin ausführlich berichten.

    "Meine Tochter war acht, das war im Jahr 2006, und irgendwann begann sie beim Anblick von Essen, mit dem Kopf zu nicken. Also habe ich entschieden, sie einfach von den anderen Kindern zu isolieren. Sie schläft seither alleine und isst alleine."

    Erst 2010 hielt Elena Kiko die Ausgrenzung und Stigmatisierung ihrer Tochter nicht mehr aus. Gegen den Willen ihres Mannes brachte sie Joice in eine kleine Klinik in ihrer Heimatprovinz Western Equatoria. Von dort wurde Joice nach Juba überwiesen, in die Hauptstadt des Südsudans. Bei Dr. Otim landen alle Patienten mit dem Kopfnicksyndrom, die es bis nach Juba schaffen.

    "Die Patienten sind fast immer zwischen fünf und 14 Jahre alt, wenn sie beginnen, mit dem Kopf zu nicken. Meistens beim Anblick von Essen."

    Auch Kälte löst bei manchen Kindern die rätselhaften Attacken aus. Sie seien beim Nicken nicht ansprechbar, sagt Dr. Otim. Sie hörten auf zu wachsen und blieben geistig zurück. Anekdotischen Berichten zufolge sterben viele der Kinder, weil sie sich während einer Attacke am offenen Feuer der Kochstelle verbrennen oder beim Wasserholen ertrinken. Als die Ärztin weitererzählen will, beginnt Joice plötzlich zu stöhnen.

    Ein epileptischer Anfall. Bei Joice ist das Kopfnicken nach ein paar Jahren einer regulären Epilepsie gewichen. Sie kauert am Boden, die Mutter und ein Bruder versuchen, sie zu beruhigen.

    Forscher untersuchten die Ernährungsgewohnheiten der Patienten, suchten nach Spuren giftiger Munition aus dem 21 Jahre währenden Bürgerkrieg im Sudan, und zogen Kriegstraumata als Ursache einer psychosomatischen Erkrankung in Betracht. Im Südsudan - dem Gebiet mit den meisten Fällen - spricht die Weltgesundheitsorganisation WHO von 5000 bis 8000 Kranken. Die südsudanesische Regierung ging deshalb von einer drohenden Epidemie aus und wandte sich an das amerikanische Zentrum für Krankheitskontrolle und Prävention, CDC. Begleitet hat die CDC-Forscher Abdinasir Abubakar von der WHO. Er glaubt inzwischen nicht mehr an eine Epidemie:

    " Seit dem Friedensabkommen 2005 werden uns immer mehr Fälle der Krankheit berichtet, aber wahrscheinlich hatten die schon vorher begonnen. "

    Inzwischen ist klar: Bei dem Kopfnicksyndrom handelt es sich um eine neurologische Krankheit. Abnormale Hirnströme verringern kurzfristig den Muskeltonus im Nacken, sodass der Kopf nach vorne fällt. Eine internationale Forschungsgruppe, an der auch Andrea Winkler von der Technischen Universität München beteiligt war, veröffentlichte vor drei Jahren MRT-Bilder von Kopfnickpatienten. Sie sahen verkleinerte Gehirne, zudem Schäden am Hippocampus und an Gliazellen. Doch woher stammen diese Schäden?

    Die Symptome der Krankheit lassen sich mit Anti-Epileptika mildern. Die Ursachen aber bleiben unklar. Der erst Verdächtige: der Parasit Onchocerca Volvulus, der von Kriebelmücken übertragen wird. Er löst Flussblindheit aus. Denn überall, wo das Kopfnicksyndrom vorkommt, ist auch Flussblindheit endemisch. Lassen sich die beiden Krankheiten also auf den gleichen Erreger zurückführen? Nein, sagt Andrea Winkler. Ihr Team untersuchte das Nervenwasser von Kindern mit Kopfnicksyndrom und fand dabei keine Anzeichen, dass die Parasiten von der Haut ins Gehirn gelangt waren.

    Die Ursachen der Krankheit bleiben also rätselhaft. Zumindest eines gilt inzwischen aber als gesichert, so Abdinasir Abubakar:

    "Wir gehen nicht mehr davon aus, dass die Krankheit ansteckend ist. In vielen Familien sind ein oder zwei Kinder betroffen, aber nie alle. Auch haben wir keine Bakterien oder Viren gefunden, die das Kopfnicken auslösen könnten."

    Wenigstens das scheint klar: Eine Epidemie droht nicht. Mütter wie Elena Kiko können ihre kranken Kinder gefahrlos zur Schule schicken - gemeinsam mit anderen Kindern. Forscher wollen die Generation erkrankter Kinder über die nächsten Jahre begleiten. Sie brauchen dringend verlässliche Daten, die klären, ob die Krankheit progressiv ist und letztlich zum Tod führt. Die Gesundheitsbehörden im jungen Staat Südsudan haben derweil eine einmalige Chance: Sie können mit der Ungewissheit aufräumen, die für die Stigmatisierung tausender Kinder verantwortlich ist.