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Raus aus dem Elfenbeinturm

Die enge Verzahnung von Praxis und Theorie war ein Markenzeichen der Berufsakademien, von denen es acht in Baden-Württemberg gab. Sie firmieren nun als "Duale Hochschulen", bleiben aber ihrem Motto treu: Jeder Student, jede Studentin ist zugleich auch Azubi.

Von Stefanie Meinecke | 10.07.2010
    Das Gebäude der Fakultät "Sozialwesen" hat Wohnhausatmosphäre. Keine endlosen Gänge und Waschbeton-Flure, dafür offene Türen und ein Blick ins Grüne. Die Treppe führt hoch zum Büro des Dekans. Das ist ein "ganz Netter", sagt Marina, die hier im zweiten Semester studiert. Das mit dem "nett" sei nicht nur so dahin gesagt. An der Dualen Hochschule lernt man sich schnell kennen, - zwangsläufig, - lächelt sie. Hier wird im Kurssystem studiert, in kleinen Gruppen - 25, 30 Leute, getaktet nach Stundenplan. Kurze Wege, kompakte Studieneinheiten, klare Strukturen. "Ja", sagt Marina, "dieses Studium ist verschult" - aber "Nein" - das störe sie überhaupt nicht. Im Gegenteil:

    "Der Kontakt zum Dozenten ist super, es ist überhaupt eine angenehme Atmosphäre. Wie in der Schule eben. Also ich weiß, nicht ob ich an der Uni so straight weiterkommen würde wie an der DHBW. Da ist halt mein Stundenplan, da kann ich keine Kurse auslassen, da ist alles eben festgeschrieben, - was mir hilft. Manche mögen das vielleicht nicht. Aber ja - Stundenplan, Vorlesungsplan - alles geregelt."

    Wenn alles gut geht, wird die 20 Jährige die DH in zwei Jahren mit dem Bachelor of Arts in Sozialer Arbeit verlassen. Sie wird bis dahin noch unglaublich viele Impulse in ihrer praktischen Arbeit beim Jugendamt im Bereich Familienhilfe erhalten und mit einem reichen Erfahrungsschatz aus Kenia zurückkehren - dort wird sie drei Monate in einem Waisenhaus arbeiten.
    "Also, wenn ich aus der Praxis zurückkomme, dann sehe ich zum Beispiel die ganzen Theorien der Sozialen Arbeit kritischer, weil ich halt in der Praxis merke, dass sie nicht so leicht umzusetzen sind. Und unsere Dozenten sind auch ganz oft aus der Praxis. Wir haben zum Beispiel in Recht einen Familienrichter aus Stuttgart. Ja, wir haben einfach ganz viele vom Fach, wo die Praxis dann auch in der Theorie schon spürbar ist."

    Das regelmäßige Eintauchen in Realität der Arbeitswelt beflügelt die Studenten, sagt Professor Günter Rieger, der Dekan der Fakultät Sozialwesen. Praxis berührt, stachelt an und zwingt zur Reflexion. Am Puls der Zeit zu lehren und zu prüfen - an der DH oberstes Gebot -

    "Na ja als Lehrender hier ist man in einer anderen Form auch noch mal herausgefordert, weil die Studenten sich auch nicht alles erzählen lassen. Die fragen konsequent und immer nach. Das ist manchmal lästig, weil man nicht jede Theorie immer auch unmittelbar auf Praxis anwenden kann. Das ist aber auch immer ne Herausforderung auch selber nachzudenken: Hat man sich nicht vielleicht in irgendeine schöne Theorie verstiegen und: Wie kann man das auf Praxisfälle herunterbrechen?"

    Die enge Verzahnung von Praxis und Theorie schärfe die Persönlichkeit der Studierenden, auch deren Blick auf eigene Grenzen, so Rieger. Als Beispiel nennt er die Sozialarbeiterin, die Erziehungshilfe leisten soll; sie muss ihre Instrumente kenne, die Hilfsangebote, den rechtlichen Rahmen, die Dynamik eines Gesprächs:

    "Das kann man natürlich im Studium vermitteln, indem man Wissen vermittelt: Wie führt man Gespräche, worauf ist zu achten, welche ethischen Aspekte gibt´s dabei etc. Das kann man in einem beschränkten Umfang auch üben lassen in Rollenspielen. Aber damit kann man noch immer nicht mit Klienten arbeiten. Soziale Arbeit muss auch in der Praxis erlernt werden, um zu einem Können zu werden, damit man Wissen zu Können machen kann."

    "Wissen in Können umwandeln" - das ist das Credo der Dualen Hochschule Baden-Württemberg. Die Idee entstand vor mehr als 40 Jahren in der Nahwehe von 68, beschreibt Professor Joachim Weber. Er ist der Rektor der DH Stuttgart.

    "Anfang der 70er-Jahre hatte man den Gedanken gefasst, man könnte eine neue Art Hochschule konzipieren. Die Idee kam von großen Häusern, - das war Daimler, Bosch und Alcatel-SEL und alle drei hatten den Gedanken, eine neue Art Hochschule zu kreieren."

    Schneller, effizienter und praxiserprobter ins wirkliche Leben... so die Vision. Am Elfenbeinturm der akademischen Lehre wurde nicht gerüttelt; er wurde erst gar nicht errichtet. Installiert wurde von Anfang an der Dreimonats-Rhythmus, in dem Theorie und Praxis sich abwechseln. Semesterferien? Fehlanzeige. Die Studierenden haben über ihren Ausbildungsvertrag bei den Firmen einen Urlaubsanspruch wie jeder andere Arbeitnehmer - zwischen 25 und 30 Tage im Jahr - die allerdings meistens für´s Büffeln draufgehen, sagt Norman, 24 Jahre alt, er studiert Mechatronik:

    "Im Endeffekt ist es schon so, dass man sich anstrengen muss und dass es mit einem Studium an der Uni nicht zu vergleichen ist, dadurch, dass man die Praxisphasen hat, in denen man ja auch Arbeiten schreiben muss. Die drei Monate Theoriephase sind ziemlich gepresst, das ist ein ziemlich hohes Niveau - auch von der Konzentration her und in der Praxisphase nimmt´s vielleicht ein bisschen ab - aber es immer noch hoch."

    Rektor Weber nennt das lächelnd "Intensivprogramm"; die Abbrecherquote an sei übrigens beeindruckend gering und die allermeisten Absolventen würden dann auch in den Feldern arbeiten und Karriere machen, für die sie ausgebildet wurden.

    Passgenaues Personal für die Bedürfnisse von Industrie und Wirtschaft? Kaderschmiede, gelenkt von Firmen und Betrieben? Man kann die enge Vernetzung von Wirtschaft und Wissenschaft auch kritisch sehen:

    "Das war von vornherein die große Befürchtung, dass man sagt: Jetzt wird das eine ausgelagerte Firmenhochschule. Dem kann man klar widersprechen. Denn das klare, zeitgemäße Abwägen zwischen theoretischem und praktischem Denken, Wissen und tun, das ist eine unserer Künste, die wir jetzt mit 40 Jahren Erfahrung auch glauben im Griff zu haben. Aber es ist nicht immer ganz einfach. Sonst wird das ein Wunschkonzert irgendwelcher Interessenträger und das kann nicht der Sinn einer modernen Hochschule sein."

    Flankiert wird das Bestreben um Unabhängigkeit nun auch durch den akademischen Ritterschlag für die Berufsakademie: Als Duale Hochschule Baden-Württemberg erging ein ausdrücklicher Forschungsauftrag an die Lehrenden; außerdem will man den Master-Abschluss einführen - im Laufe des kommenden Jahres soll es soweit sein und spätestens dann, lächelt Rektor Weber zufrieden, bietet die DH so ziemlich alles, was hochengagierte junge Menschen von einer Hochschule erwarten dürfen.