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Reprogrammiert statt embryonal

In Barcelona hat heute der Weltkongress der Stammzellforscher begonnen, das weltweit größte Treffen der Zunft mit mehr als 3000 Teilnehmern. Verstärkt setzten die Forscher inzwischen sogenannte reprogrammierte Zellen ein, die weniger ethische Probleme als embryonale Stammzellen aufwerfen. Der Wissenschaftsjournalist Michael Lange berichtet im Gespräch mit Gerd Pasch.

08.07.2009
    Gerd Pasch: Vor gut zehn Jahren wurden in den USA erstmals embryonale Stammzellen des Menschen im Labor gezüchtet. Seitdem boomt die Stammzellforschung weltweit. Auch die USA sind mit ihrem neuen Präsidenten Barack Obama nun wieder voll im Geschäft, legte die Bush-Regierung den Forschern ja noch Fesseln an. Wenn heute in Barcelona der Weltkongress der Stammzellforscher beginnt, so ist dies ein wissenschaftliches Großereignis mit mehr als 3000 Teilnehmern aus aller Welt. Dabei ist wohl für die Patienten bei dieser Forschung noch nicht soviel herausgekommen. Michael Lange, willkommen im Studio. Gibt es überhaupt schon Patienten, die mit embryonalen Stammzellen behandelt werden?

    Michael Lange: Es gibt erst sehr wenige Patienten, die mit Zellen aus embryonalen Stammzellen behandelt werden. Aber man muss natürlich sagen: Zehn Jahre wissenschaftliche Grundlagenforschung - bis zur Klinik ist das noch nicht sehr lang. Das dauert in der Regel noch deutlich länger. Im Januar hat eine Studie begonnen, und zwar von der amerikanischen Firma Geron aus San Francisco. Die hat ein Präparat in die klinische Studie gebracht, und zwar werden da Nervenvorläuferzellen, die aus menschlichen embryonalen Stammzellen entstanden sind, für Rückenmarksverletzte angeboten. Die werden ausprobiert in einer kleinen klinischen Studie. Das ist bisher alles.

    Pasch: Wann werden denn weitere klinische Studien folgen?

    Lange: Es stehen relativ viele kleine klinische Studien in den Startlöchern. Es geht immer nach dem gleichen Prinzip. Also immer embryonale Stammzellen als Quelle, menschliche embryonale Stammzellen, und aus denen entstehen dann Vorläuferzellen für bestimmte Gewebe, und diese Vorläuferzellen werden in die Patienten gespritzt. Die nächste Studie, die möglicherweise beginnt, ist die Studie der Firma Advanced Cell Therapeutics, ACT, aus den USA. Die will Menschen mit Augenerkrankungen behandeln, insbesondere der Makuladegeneration. Die soll in drei bis vier Monaten beginnen, sagt die Firma. Aber die Genehmigung der Zulassungsbehörde, der FDA in den USA, liegt noch nicht vor.
    Pasch: Der medizinische Durchbruch steht also noch aus. Welche Bedeutung haben denn embryonale Stammzellen heute in den Forschungslabors?

    Lange: Da ist die Bedeutung immer größer geworden. Es sind wirklich inzwischen Hunderte Arbeitsgruppen, die mit embryonalen Stammzellen forschen. Und die meisten entwickeln sogenannte Krankheitsmodelle. Das heißt, sie benutzen die Stammzellen, um daraus krankes Gewebe nachzubauen. Sie simulieren Krankheiten, sie spielen sozusagen im Reagenzglas Krankheiten nach. Und da gibt es inzwischen wirklich Dutzende Krankheiten, die sich so nachahmen lassen. In Barcelona auf der größten Stammzellenforschertagung aller Zeiten, da geht es hauptsächlich um diese Laborverfahren, wo wirklich an diesen Zellen Medikamente ausprobiert werden können, Heilverfahren ausprobiert werden können. Und so ist der indirekte Nutzen durch diese Stammzellen weit größer, als der direkte Nutzen für die Medizin.

    Pasch: Nicht aus Spanien, sondern aus England kommt die Meldung, dass erstmals Spermien aus embryonalen Stammzellen gezüchtet worden sind. Was ist denn von dieser Meldung zu halten?

    Lange: Das kommt nicht so überraschend. Es ist schließlich schon vor drei Jahren gelungen, das Gleiche bei Mäusen durchzuführen, in den USA und auch in Japan. Jetzt ist es eben erstmals auch beim Menschen angeblich gelungen. Also embryonale Stammzellen sind entstanden aus einem Embryo, der künstliche Befruchtung entstanden ist. Aus dessen innerer Zellmasse werden Stammzellen gewonnen, und diese Stammzellen wurden dann weiterentwickelt, in diesem Fall eben zu Spermien. Es ist allerdings die Frage, wie reif diese Spermien wirklich sind. Man konnte sie nicht ausprobieren. Man hätte ja dazu eine Eizelle mit diesem Spermium befruchten müssen und einen Embryo eigens herstellen müssen. Das wollte man auch in Großbritannien, wo die Forscher ja sehr große Freiheit genießen, nicht. Deshalb ist nicht ganz klar, was diese Spermien wirklich können. Die Wissenschaftler, die sich bisher zu dieser Studie geäußert haben, kommen zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Die Zellen sehen anscheinend aus wie richtige Spermien. Ob sie funktionieren wie richtige Spermien, das ist allerdings unklar. Und man muss noch dazusagen: Für die künstliche Befruchtung, für unfruchtbare Männer sind diese künstlichen Spermien ungeeignet. Denn sie stammen ja nicht von diesem Mann selbst, sondern von einem Embryo, der wiederum durch künstliche Befruchtung hergestellt wurde. Also da ist sicherlich kein Ausweg in dieser Richtung zu erwarten.

    Pasch: Kommen wir zu einem anderen Aspekt: In der Forschung war zuletzt immer häufiger von reprogrammierten Stammzellen die Rede. Da gab es auch den Nobelpreis letztes Jahr. Sind durch die Züchtung dieser Zellen die embryonalen Stammzellen im Grunde nicht längst überholt?

    Lange: Also in den Labors, muss man sagen, ist es in der Tat so, dass es inzwischen fast genauso viele Labors gibt, die mit den reprogrammierten pluripotenten Stammzellen arbeiten, also mit diesen sogenannten iPS- oder piPS-Zellen. Was auch ganz klar ist, und das sieht man auch bei der Tagung in Barcelona: Der Wissenschaftler, der die als erste 2006 entwickelt hat, Shinya Yamanaka, ist der große Star von Barcelona. Allerdings ist die Bedeutung für die Medizin bei diesen Zellen noch unklar. Ich denke, dass vor allen diese Krankheitsmodelle, die ich eben beschrieben habe für die embryonalen Stammzellen, in den nächsten Jahren Stück für Stück ersetzt werden. Das heißt, nicht mehr embryonale Stammzellen werden verwendet, sondern eben reprogrammierte Zellen, iPS- oder piPS-Zellen, wie die Fachleute sagen.

    Aber ob die reprogrammierten Zellen auch für die Therapie das Gleiche können, das steht überhaupt noch nicht fest, und da wird es sicherlich auch noch fünf Jahre, vielleicht auch noch zehn Jahre dauern, bis man das sehen kann, bis die ersten klinischen Studien mit diesen Zellen beginnen. Wenn sie beginnen, dann ist es in der Tat so, dass sie tatsächlich die embryonalen Stammzellen ablösen könnten - aber das muss man abwarten.