Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Ruhrfestspiele Recklinghausen
Pubertierender und Revolution auf zwei Bühnen

Mit zwei spannenden Arbeiten gehen die Ruhrfestspiele Recklinghausen ihrem Ende entgegen: "Der Mann aus Oklahoma" von Lukas Linder zeigt die Welt eines Pubertierenden, der auf sich selbst in erwachsender Form trifft. Wenige Kilometer weiter hatte Heiner Müllers "Der Auftrag - Erinnerung an eine Revolution" mit Corinna Harfouch Premiere.

Von Dorothea Marcus | 11.06.2015
    Lukas Linder, Anno Bechte und Lene Grösch auf dem "Heidelberger Stückemarkt"
    Lukas Linder der Autor des Stückes "Der Mann aus Oklahoma“ hier mit Anno Bechte und Lene Grösch auf dem Festival "Heidelberger Stückemarkt" 2015. (Theater und Orchester Heidelberg/Foto: Annemone Taake )
    Fred ist 13 und hat es schwer. Er wird gemobbt in der Schule. Die Mutter ist ein zynisches Biest. Die Lehrerin spielt in der Schule die Väter gegeneinander aus - aber Freds Vater ist gleich ganz verschwunden.
    "Mutter: Seit zwei Stunden stehe ich hier und schreie: Familienrat. Fred: Aber ich war doch in der Schule! - Mutter: Wenn jeder macht was er will, ist das der Untergang der Mutter. - Fred: Es tut mir leid. Ist was passiert? Mutter: Vater ist verschwunden. Tut mir leid, wenn dich das verwirrt. Fred: Wo ist er denn hin? Mutter: Da bin ich die falsche Ansprechperson. Vater wäre die richtige. Aber der ist ja weg."
    Kein Wunder, dass sich Fred immer wieder in Traumwelten flüchtet, inspiriert von kernig-machohaften Privatdetektiven aus Krimis. In seinem echten Leben tauchen dagegen nur männliche Versager auf: Der Vater seiner Schulfreundin, ein Ringer, schafft nicht mal, ein Buch zu zerreißen. Der neue Freund der Mutter stellt ihn entweder mit dem Schnuller still oder weiht ihn in sein ausschweifendes Sexleben ein.
    Welt eines Pubertierenden
    Als Fred eines Tages glaubt, seinen Vater in einer Luxusvilla zu entdecken, trifft er dort schließlich auf eine ältere Version seiner selbst. Grotesk zeigt Autor Lukas Linder, wie absurd, realitätsverzerrt und ungerecht sich die Welt für einen Pubertierenden anfühlt. Leider geht der Witz in Marc Lunghuß' Inszenierung für das Schauspiel Leipzig gründlich verloren. Anstatt Linders Humor mit Trockenheit zu betonen, wird er in Klamauk und lärmenden Klischees ertränkt. Spannend ist nur das Bühnenbild: in einem Kasten aus hautartigen Schuppen schnellen Klappen oder Faltbilder auf. Alles findet nur in Freds verspieltem Inneren statt.
    Schade nur, dass alle Figuren so infantil und unsympathisch überzeichnet sind. Der 13-jährige Fred ist ein Erstklässler mit Scoutranzen, Brustbeutel und Kuschelhase, die Lehrerin ist eine sadistische Effizienz-Bestie, die Mutter eine kettenrauchend kalte Marlene Dietrich. Doch das macht Freds' Perspektive kurz vor dem Erwachsenwerden nur lächerlich. Eine zu grelle Groteske, die die zarteren Aspekte dieser Selbstfindung unter den Tisch fallen lässt.
    Heiner Müllers "Der Auftrag - Erinnerung an eine Revolution"
    Selbstfindung auf größerer Ebene gibt es zeitgleich in Marl: Heiner Müllers Stück "Der Auftrag - Erinnerung an eine Revolution" handelt von drei Abgesandten des französischen Konvents, die bei jamaikanischen Sklaven eine Revolution gegen die britischen Kolonialherren entfesseln sollen. Als Napoleon an die Macht kommt, stehen sie plötzlich ohne Auftrag da. Wohin mit dem linken Bewusstsein? Tom Kühnel und Jürgen Kuttner inszenieren für das Schauspiel Hannover einen Zirkus aus prächtigen Theatervorhängen. Darüber thronen die Worte Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, darin zappeln Müllers Abgesandte als Clowns in den Farben der Trikolore. Revolutionen sind in Zeiten von Pegida und Wutbürgertum wie Zirkusattraktionen: fern, nostalgisch, irgendwie von gestern. Die Schauspieler sprechen kaum: Meist bewegen sie nur die Lippen zu einem Text vom Band, sonor und fast monoton gelesen von Heiner Müller selbst im Jahr 1980. Der Nachhall eines Nachhalls.
    "Das Theater der weißen Revolution ist zu Ende ... wir verurteilen dich zu Tode, Debusson."
    Corinna Harfouch spielt den übriggebliebenen Revolutionär und Verräter Debusson in weißem Pierrot-Kostüm. In der zentralen Stelle des Stücks spricht sie selbst - jenen berühmten Text, in dem der Beamte von der kafkaesken Entfremdung zwischen revolutionärem Grundgedanken und seiner Realisierung im echten Leben spricht.
    "Ich stehe zwischen Männern, die mir unbekannt sind, in einem alten Fahrstuhl. Ich bin gekleidet wie ein Angestellter. Mein Kragen scheuert am Hals. Ich habe einen Termin beim Chef."
    Die große Schauspielerin Harfouch selbst wurde einst durch Heiner Müller berühmt: Sie spielte die Lady Macbeth unter seiner Regie, noch zu DDR-Zeiten. Es ist großartig, wie sich ihre leicht veralbernde Distanzierung im Laufe des Monologs zu melancholischem Ernst wandelt.
    "Wie erfüllt man einen unbekannten Auftrag? Was kann mein Auftrag sein in dieser wüsten Gegend jenseits der unbekannten Zivilisation?"
    Debusson wird zum Verräter der Revolution, weil er letztlich dem guten Leben erliegt - es ist geradezu ergreifend, wie Harfouch mit dem Verrat ein verschämt-erotisches Tänzchen hinlegt und zum Schluss von der "Schande des Glücks" spricht, der sie nicht widerstehen kann. Genau das ist es wohl, was mit dem linken Bewusstsein letztlich passiert ist. Opulent wird das begleitet von einer Live-Band, einem live animierten Comic-Strip oder live gefilmten Sitcom-Acts revolutionärer Helden. Trotzdem fragt man sich am Ende: Hätte man dem großen melancholischen Abgesang auf Revolutionen nicht doch noch ein wenig konstruktive Hoffnung beimischen können?