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Russland und die Ukraine
Steinmeier: Politische und diplomatische Mittel nicht diskreditieren

Frank-Walter Steinmeier (SPD) hat seine Russland-Doppelstrategie von Dialog und Sanktionen als wirkungsvoll verteidigt. "Die wirtschaftlichen Wirkungen finden bereits statt und sie sind für Russland ausgesprochen negativ", sagte der Bundesaußenminister im "Interview der Woche" im DLF. Außerdem sprach Steinmeier über das deutsch-amerikanische Verhältnis sowie über Vermittlungsbemühungen im Nahen Osten.

Frank-Walter Steinmeier im Gespräch mit Klaus Remme |
    Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier bei einer Pressekonferenz vor einer blauen Flagge
    Steinmeier: "Russland hat diese Krise in dieser Schärfe ganz ohne Zweifel ausgelöst durch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim." (afp / Alfredo Estrella)
    Klaus Remme: Herr Minister, zunächst einmal vielen Dank für die Gelegenheit, mit Ihnen ausführlich zu sprechen im Interview der Woche. Sie sind seit gut sieben Monaten im Amt und quasi von Tag Eins mit mehreren Krisen gleichzeitig beschäftigt. Wir kommen gleich auf diese Krisen. 100 Tage Schonfrist gab es für Sie mit Sicherheit nicht. Sind Sie urlaubsreif?
    Frank-Walter Steinmeier: Ich wünschte, dass ich vor mir einen ununterbrochenen Urlaub von mindestens zwei Wochen sehen könnte. Ich befürchte allerdings, dass das ein Urlaub mit Unterbrechungen sein wird. Trotzdem freue ich mich auf ein paar Tage in Südtirol.
    Remme: Keine Krise hat Sie so sehr beschäftigt wie eine, die man bei Amtsantritt wahrscheinlich so nicht vorhersehen konnte, nämlich die in der Ukraine. Mit dramatischen Stunden Ende Februar in Kiew, mit Bildern danach, die wir uns so eigentlich alle nicht vorstellen konnten. Wir kommen gleich auf die politischen Implikationen. Ich würde ganz gerne von Ihnen wissen, ob diese Krise Sie persönlich verändert hat?
    Steinmeier: Na ich weiß nicht, ob sie mich persönlich verändert hat, dazu werde ich mich vielleicht in ein, zwei Jahren befragen, aber sie hat sicherlich meine Vorstellungen der Belastbarkeit der europäischen Friedensordnung erheblich verändert. Ich bin nicht davon ausgegangen, dass hier in Europa noch einmal eine militärische Auseinandersetzung in der Folge von Grenzkorrekturen sieben Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges stattfinden wird. Russland hat diese Krise in dieser Schärfe ganz ohne Zweifel ausgelöst durch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim. Und da gilt es auch nichts abzuschwächen - das bleibt der Fakt. Und trotzdem müssen wir versuchen, wie aus dieser Ukrainekrise, wie sie im Journalistenjargon heißt, keine militärische Auseinandersetzung wird, die völlig außer Kontrolle gerät.
    Remme: Sie haben von Anfang an für eine Doppelstrategie plädiert: Gesprächsbereitschaft einerseits, Sanktionsbereitschaft andererseits. Ihr Ziel war Deeskalation - das Gegenteil ist geschehen. Gehört zur Ehrlichkeit jetzt schon, dass diese Strategie gescheitert ist?
    Die Nachteile von Ultimaten
    Steinmeier: Nein, wir müssen ja dagegen halten, für welch andere Strategien plädiert worden ist. Und da bitte ich doch auch einen kleinen Blick in die Geschichte zurück zu machen, denn es gibt auch Belege für die ganz andere Strategie. Und die ganz andere Strategie heißt: Ultimaten und grenzenloses Verschärfen einer Situation. Meine Philosophie ist immer, dass ich sage: In der Außenpolitik bindet das Ultimatum nicht nur denjenigen, an den es sich richtet, sondern auch denjenigen, der es ausspricht. Und wohin das führt, das haben wir in größeren Auseinandersetzungen im Irak oder vielleicht auch zuletzt in Libyen gesehen. Und wenn wir heute einen Blick auf die Weltkarte werfen, kann ich auch nicht recht empfinden, dass das glückliche Lösungen waren. Mit anderen Worten: Wir müssen uns der Schwierigkeit in der ganzen Komplexität wirklich stellen. Es gibt keine Annäherungsweise an einen solchen Konflikt, die zu 100 Prozent Garantie verspricht. Und deshalb bin und bleibe ich dafür, dass man eine sorgfältige Balance finden muss zwischen einerseits natürlich Druck erhöhen und auf der anderen Seite immer wieder Bereitschaft zeigen zu Gesprächs- und Verhandlungsmöglichkeiten.
    Remme: Halten Sie es für möglich, dass diese geduldige Haltung gegenüber Wladimir Putin dazu beigetragen hat, dass noch immer schwere Waffen über die Grenzen geliefert werden, dass Gruppen ertüchtigt werden, die Flugzeuge vom Himmel holen und Opfer würdelos behandeln?
    Steinmeier: Ich verstehe das mit der zurückhaltenden Behandlung nicht. Denn wir müssen ja uns im Klaren sein: Was haben wir denn wirklich in unserem Instrumentenkasten drin?! Vielleicht gibt es einige, die sagen, wir sollten militärisch antworten auf die russisches Politik. Vielleicht gibt es in Deutschland den ein oder anderen, der sagt, wir sollten die Bundeswehr engagieren, um dort gegen Russlands Vorhaben militärisch zurückzuschlagen. Ich bin dieser Meinung nicht. Und ich glaube, die große Mehrheit der Menschen in Deutschland ist es auch nicht. Wenn wir also nicht die Mittel der militärischen Gegenwehr haben, dann sind es eben politische und diplomatische Mittel. Und die sollten wir nicht diskreditieren. Das ist ein wertvolles Gut, mit dem wir auch operieren können.
    Und ich sehe es überhaupt nicht so - und im Übrigen Russland auch nicht -, als ob diese Instrumente völlig wirkungslos wären. Wenn Sie mal einen Blick auf die nüchternen Zahlen werfen, dann sehen Sie, dass, noch bevor Sanktionen ausgesprochen worden sind gegenüber Russland, Russland rund 100 Milliarden Dollar verloren hat. Warum? Weil unsichere Investitionsbedingungen im Lande herrschen und deshalb Investments vom Westen im Augenblick nicht stattfinden und weil Kapitalflucht aus Russland anhält. Sprich, Oligarchen bringen ihr Geld außer Landes. Will sagen, das sind alles Wirkungen einer Politik, die wir verantwortet haben. Und ich sehe darin keine Schwäche.
    Remme: Die Sanktionsverschärfungen zeigen: Alles läuft auf substanzielle wirtschaftliche Strafen zu. Spätestens an dem Punkt verfolgen ja die 28 EU-Staaten durchaus unterschiedliche Interessen. Gibt es Sanktionen, wo Deutschland sagen wird: Stopp, die können wir uns nicht leisten?
    Steinmeier: Noch mal, ich finde es zu kurz gegriffen, dass wirtschaftlich negative Konsequenzen erst dann eintreten, wenn wir über eine nächste Phase von Sanktionen reden. Die wirtschaftlichen Wirkungen finden bereits statt und sie sind für Russland ausgesprochen negativ. Es gibt in Russland eine Diskussion darüber. Es gibt gerade in der letzten Woche immerhin vom ehemaligen Finanzminister Kudrin - ein nach wie vor enger Berater von Putin - ein öffentlich nachzulesendes Interview, in dem er Russland davor warnt, dass die gegenwärtige Politik die Stabilität der russischen Wirtschaft gefährden könnte. Das alles spricht dafür, dass die Folgen auch unserer Politik in Russland angekommen sind. Natürlich, soweit Russland es weiterhin zulässt, dass Waffen und Kämpfer über die russisch-ukrainische Grenze in die Ostukraine hinüber kommen und auf diese Weise Separatisten unterstützt werden, muss man den Druck weiter erhöhen. Dafür haben wir jetzt die Voraussetzungen geschaffen. Und wenn Sie danach fragen: Gibt es Sanktionen, an denen einige Länder nicht mitwirken? So ist es ja öffentlich geworden, dass einige, die nach wie vor sehr stark in der rüstungswirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Russland engagiert sind, Rüstungsmaterial liefern, dass die natürlich im Bereich Sanktionen in der Rüstungswirtschaft sehr viel zurückhaltender sind als andere.
    Remme: Können Sie sich eine Situation vorstellen, in der Deutschland sagen muss: Nein, diese Forderung können wir nicht mittragen, weil sie für uns einfach zu drastische Konsequenzen hätte?
    Steinmeier: Natürlich kann ich mir das vorstellen. Ich kann mir auch Situationen vorstellen, in denen andere europäische Mitgliedsstaaten nur solche Sanktionen vorschlagen, die Deutschland und wenige andere treffen. Damit wäre ich nicht einverstanden. Wenn es negative Folgen gibt, dann müssen sie auch in Europa insgesamt getragen werden. Und dann muss ein Paket möglicher Sanktionen so ausgewogen sein, dass dort Rüstungswirtschaft, Finanzwirtschaft, Hochtechnologie und vieles andere betroffen wird.
    Remme: Sie haben das Stichwort "Rüstungsgeschäfte" eben genannt. Haben Sie Verständnis dafür, wenn der Eindruck entsteht, dass Frankreich noch einmal schnell unter einem möglichen Sanktionsschlagbaum durchschlüpfen will, um ein vertraglich vereinbartes Milliardenprojekt auch zu liefern?
    Nach wie vor rüstungswirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Russland und europäischen Staaten
    Steinmeier: Das ist das Beispiel, was in der Öffentlichkeit am stärksten diskutiert wird. Und viele achten auch darauf, dass es das einzige diskutierte Beispiel ist und bleibt. Aber ich kann Ihnen versichern, es gibt auch einige andere europäische Staaten, die in ähnlicher Art und Weise rüstungswirtschaftliche Zusammenarbeit mit Russland nach wie vor betreiben und sich gern hinter dem französischen Beispiel verstecken. Wenn man es ernst meint, dann jedenfalls kann die Rüstungswirtschaft bei zukünftigen Sanktionsbeschlüssen nicht ausgenommen bleiben.
    Remme: Haben Sie Verständnis dafür, dass Lieferverträge, so wie die Franzosen es sehen, eingehalten werden müssen?
    Steinmeier: Ob ich Verständnis habe, ist weniger interessant. Ich muss zur Kenntnis nehmen, dass Frankreich sich jedenfalls nur auf Sanktionsbeschlüsse einlassen wird, die zukünftige Kontrakte betreffen wird.
    Remme: Haben Sie denn Ihren französischen Amtskollegen versucht, von diesem Vorhaben abzubringen?
    Steinmeier: Glauben Sie mir, nicht nur ich, auch viele andere Europäer haben über die Frage der Sanktionen im Rüstungsbereich gesprochen, auch mit den Franzosen gesprochen. Am Ende muss man auch Fakten akzeptieren und sich die Welt nicht schöner reden als sie ist.
    Remme: Herr Minister, um den Komplex Ukraine abzuschließen - es wird viel über die Wirksamkeit, die Möglichkeit, die Grenzen von Sanktionen, von Sanktionsstufen geredet. Hat die Forderung, die Weltmeisterschaft 2018 nicht in Russland auszutragen, in dieser Diskussion ihren berechtigten Platz?
    Sportereignisse nicht instrumentalisieren
    Steinmeier: Es ist die größte außenpolitische Krise der letzten Jahrzehnte. Und diejenigen, die verantwortlich sind dafür, dass Hunderte von Menschen bei einem Flugzeugabsturz, der vermutlich ein Abschuss war, ums Leben gekommen sind, müssen zur Verantwortung gezogen werden. Mit derselben Ernsthaftigkeit müssen wir diskutieren, wie wir die gegenwärtige Krise überwinden und Russland zu einer vernünftigen Politik, zu einer Politik mit Verantwortung für den Frieden in Europa zurückbringen. Ob die ganze Debatte um sportliche Großereignisse da hinein gehört, will ich mal offen lassen. Ich finde, das sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt Nebenaspekte.
    Die Weltmeisterschaft wird in vier Jahren stattfinden - ich weiß nicht, wie die Welt in einem Jahr aussehen wird, nicht in zweien, geschweige denn in vier Jahren. Insofern scheint mir das eine Debatte zu sein, die etwas an den Haaren herbeigezogen ist. Im Übrigen will ich sagen: Vielleicht sollte man sich mal darüber verständigen, ob sportliche Großereignisse, wie Olympiaden oder Weltmeisterschaften im Fußball, so überhaupt noch stattfinden sollen. Wenn nicht nur Russland, sondern auch der Veranstaltungsort Katar, sogar letztens Brasilien, bestritten wird, dann lässt sich ja in der Tat die Frage stellen: Wo denn eigentlich dann noch? Also ich finde, jedes Mal ein sportliches Großereignis wie eine Fußballweltmeisterschaft zu instrumentalisieren, das scheint mir auch nicht der richtige Weg zu sein, um mit schärfsten politischen Krisen und Konflikten umzugehen.
    Remme: Wechseln wir das Thema, Herr Minister. Sprechen wir - wenn Sie erlauben - ein paar Minuten über Amerika. Auch so ein Fall, wo häufig Werte zitiert werden. Und mit offizieller Rhetorik versucht man, den Streit häufiger zu entschärfen, indem man sagt: 'Wir verfolgen gemeinsame Werte und haben in einem Punkt eine wichtige Meinungsverschiedenheit'. Sie haben bei Brookings im Februar eine Rede gehalten zum transatlantischen Verhältnis, wo Sie gesagt haben, dass dieser eine Punkt allerdings - so Ihre Warnung - alles andere gefährde. Wie passt das zusammen?
    "Verhaltensweisen, die sich unter Freunden und Partnern nicht gehören"
    Steinmeier: Ja, zunächst einmal würde ich sagen, Herr Remme, es ist nicht öffentliche Rhetorik, sondern ich bin wirklich der Auffassung, dass das transatlantische Verhältnis eine Bedeutung hat, die wir selbst nicht kleinreden sollten. Aber wenn ich das sage, bin ich auch sehr dafür, dass wir mit den Amerikanern gemeinsam offenen und ehrlichen Austausch haben sollten darüber, was stört. Und für mich ist keine Frage, dass die Aktivitäten amerikanischer Geheimdienste in Deutschland nicht nur gegenüber der Öffentlichkeit ganz allgemein, sondern auch, weil offensichtlich größere Anteile der politischen Verantwortlichen in Deutschland abgehört worden sind, dass das ein Vertrauensbruch war. Der Eindruck ist verstärkt worden, dass es jüngst Hinweise darauf gab, dass offensichtlich auch Spitzel angeworben worden sind. Und das sind einfach Verhaltensweisen, die sich unter Freunden und Partnern nicht gehören. Und deshalb war es unvermeidlich, dass wir da auch ganz klar sagen, wo aus unserer Sicht Grenzen zu ziehen sind.Nur, der Unterschied ist der: Ich kann für mich nicht den Schluss daraus ziehen, dass wir deshalb nach irgendeinem Ersatz für das transatlantische Verhältnis suchen. Sondern im Gegenteil, wir müssen uns vor der Illusion hüten, als sei dieses transatlantische Verhältnis, die Partnerschaft mit Amerika ersetzbar. Und das sage ich mit Blick auf die vielen Krisen rund um die Welt, bei denen es darum geht, dass wir Schritte zur Entschärfung oder gar politische Lösungen hinkriegen. Vieles wird ohne die Amerikaner nicht funktionieren - ein Blick in den Nahen Osten ist vielleicht hinreichender Beleg dafür. Und deshalb: Ja, manches fällt schwer, aber wir müssen uns eben bemühen, das, was stört, zu bereinigen, zu lösen und das Verhältnis auf neuer Grundlage, sprich mit Aufrichtigkeit, Offenheit und Ehrlichkeit neu zu beleben.
    Remme: Aktuelle Zahlen des Pew Research Centers belegen einen massiven Vertrauensverlust der Deutschen in die amerikanische Regierung. Auffällig ist, dass in anderen westeuropäischen Ländern das so zumindest nicht zu messen ist. Das führt mich zu der Frage: Wird diese Kontroverse vielleicht auch mit deutscher Gründlichkeit allzu ernst genommen?
    Steinmeier: Das kann auch sein, Herr Remme. Ich würde eher noch einen anderen Grund nach vorne stellen. Ich glaube eher, dass die Enttäuschung bei uns besonders groß ist, weil die Deutschen sich als einen der ganz engen Verbündeten und Partner der Amerikaner gesehen haben. Und das ist vielleicht sogar noch einmal gehypt worden - wie unsere Kinder sagen würden - nach dem Amtsantritt von Obama, indem die ohnehin großen Hoffnungen auf Amerika noch einmal ins fast unermessliche gesteigert worden sind. Ich kann mich noch erinnern, ich habe damals in einer Fernsehsendung gesessen bei der ersten Wahl von Obama und habe damals Ihrem Kollegen gesagt: 'Ein bisschen bedauere ich Obama, weil die riesenhaften Erwartungen, die jetzt alle aus aller Welt, auch von Europa auf ihn einstürmen, die kann kein einzelner Mensch erfüllen.' Und ein bisschen, glaube ich, hat sich das gerächt, dass die Erwartungen so hoch waren und die Möglichkeiten selbst eines so großen Landes wie Amerika, wie der USA, gemessen an den Konflikten, so relativ klein sind.
    Remme: So, jetzt machen wir uns daran, befreundete Länder auch zu überwachen. Ist das die richtige Konsequenz?
    Steinmeier: Was heißt "zu überwachen"?! Das, was der Innenminister zu Recht überlegt, ob wir unseren Schutz verstärken müssen, mit dem wir wenigstens feststellen, ob wir überwacht werden, ich finde, daran kann man nichts aussetzen.
    Remme: Ein Blick auf den Nahen Osten. John Kerry hat viel investiert und er hat gezeigt, in welch dramatischem Ausmaß die USA an Einfluss in der Region verloren haben. Sie waren im Frühjahr - wenn ich es richtig in Erinnerung habe - eine Zeit lang vergleichsweise optimistisch, was die "Kerry-Mission" anging. Was haben Sie unterschätzt?
    Steinmeier: Also zunächst Mal bleibe ich dabei: Es gehörte in der damaligen Situation viel Mut dazu, auch und selbst für einen amerikanischen Außenminister, nach vielen gescheiterten Missionen im Nahen Osten, die Gespräche zur Zwei-Staaten-Lösung wieder aufzunehmen und die USA in die Hauptverantwortung zu bringen. Und tatsächlich, wir hatten einige Wochen, einige Monate lang den Eindruck, dass das Momentum so günstig und der Druck der Amerikaner so groß war, dass beide Seiten - Israel und Palästina - sich hätten bewegen müssen und eine Vereinbarung unterschrieben hätten, die dann die Details einer Zwei-Staaten-Lösung in einer zweiten Phase hätten ausverhandeln lassen. Dazu ist es nicht gekommen. Ich will jetzt keine Schuldzuschreibungen machen. Es war wie immer, am Ende war auf beiden Seiten nicht die Bereitschaft, mit der notwendigen Kompromissbereitschaft auf den amerikanischen Vorschlag einzugehen. Aber Sie haben schon Recht, darin steckt natürlich auch ein Scheitern der internationalen Politik. Und ich kann Ihnen versichern: Niemand war enttäuschter als der amerikanische Außenminister selbst, als beide Seiten die Unterschriften und die Zustimmung zu dem amerikanischen Vorschlag verweigert haben.
    Remme: Hierzulande wird in der Folge der aktuellen Ereignisse im Nahen Osten über Antisemitismus diskutiert. Sie haben sich dazu geäußert. Vermissen Sie ähnlich deutliche Worte von Vertretern des Islams?
    "Eine fast ritualisierte Kommentierung der Auseinandersetzungen"
    Steinmeier: Ich bin froh darüber - und ich glaube nicht nur ich -, dass sich der Zentralrat der Muslime sehr deutlich und öffentlich geäußert hat gegen jede Form von Rassismus und Antisemitismus, gerade auch angesichts der jüngsten Ereignisse im Nahen Osten. Aber das Problem liegt noch etwas tiefer nach meiner Ansicht. Wir haben auch bei diesem Gaza-Konflikt - der dritte jetzt innerhalb von sechs Jahren - eine fast ritualisierte Kommentierung der Auseinandersetzungen. Und ich würde trotzdem sagen: Es hat sich Einiges verändert in diesen letzten sechs Jahren, und leider im Nahen Osten nicht zum Besseren. Gerade der - es fällt mir schwer zu sagen - Erfolg der radikalsten sunnitischen Gruppierungen wie der ISIS hat ja Rückwirkungen auch auf das Geschehen etwa im Gazastreifen. Selbst die Hamas kommt unter Druck von noch radikaleren, noch militanteren Gruppierungen und das erklärt ein wenig und zum Teil die Dynamik, die wir gegenwärtig in der Auseinandersetzung haben.
    Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier und Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in Tel Aviv
    Außenminister Steinmeier und Israels Ministerpräsident Netanjahu (AFP / DAN BALILTY)
    Wir müssen dafür arbeiten, dass schnellstmöglich ein Waffenstillstand erreicht wird. Ich bin froh, dass die Ägypter sich ins Geschäft zurückgemeldet haben. Es wird aber nicht gehen ohne andere Teile der arabischen Liga. Katar muss sich beteiligen an diesen Bemühungen, die Hamas zum Waffenstillstand zu bringen. Halten wird das Ganze nur, wenn wir zwei Dinge zueinander bringen: Wenn wir auf der einen Seite dafür sorgen, dass Raketen und anderes schweres Gerät nicht mehr in Schulen, Hospitälern im Gazastreifen gelagert werden, die Zivilbevölkerung sozusagen als Geisel genommen wird und eine Demilitarisierung des Gazastreifens eingeleitet wird auf der einen Seite. Aber nachhaltig wird ein Waffenstillstand nur sein, wenn das einhergeht mit einer spürbaren Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen im Gazastreifen. Und dazu muss Israel bereit sein.
    Remme: Wie schwierig ist es für Sie als Außenminister, nach dem "Staatsräson-Diktum" der Kanzlerin, Israel für sein Verhalten - etwa den Siedlungsbau - in diesem Zusammenhang zu kritisieren?
    Zivile Opfer müssen vermieden werden
    Steinmeier: Ich glaube, der Vorteil deutscher Außenpolitik ist, dass sie auf beiden Seiten im Nahen Osten gehört wird - in Israel und in Palästina. Und das hat am Ende auch etwas mit Aufrichtigkeit zu tun. Wir sagen den Palästinensern, dass wir aufgrund unserer gemeinsamen grausamen Geschichte ein besonderes Verhältnis zu Israel haben und uns verantwortlich fühlen. Und wir sagen gegenüber Israel, dass der Siedlungsausbau alles andere als hilfreich war für die verschiedentlichen Bemühungen, zu Frieden im Nahen Osten zu kommen, also unsere Haltung, die eine ist, die sich nicht zurückhält mit Kritik, wo sie notwendig ist. Aber wir müssen auch Verständnis haben, dass Israel es nicht hinnehmen kann, dass, wie in den letzten Wochen täglich, 70, 80 Raketen aus dem Gazastreifen nicht nur auf unbewohntes, weitgehend unbewohntes Gebiet, sondern auch auf die dichter besiedelten Gebiete in Israel abgeschossen werden. Und dass ein Land wie Israel dann auch Gegenwehrmaßnahmen ergreifen muss, ich finde, das müssen auch wir Deutschen verstehen. Ich sage noch mal: Zivile Opfer müssen soweit wie nur irgendwie möglich vermieden werden. Und deshalb brauchen wir dringendst möglich einen Waffenstillstand. Aber es ist ebenso wenig hinnehmbar, dass die Hamas die Menschen im Gazastreifen als menschliches Schutzschild missbraucht für die Waffen und die Raketen, die in den Kellern von Schulen, Krankenhäusern und Wohnhäusern lagern. Das ist ebenso wenig hinnehmbar.
    Remme: Sie haben bei Ihrem Amtsantritt eine grundsätzliche Selbstüberprüfung Ihres Ministeriums angekündigt. Die läuft, wenn ich es richtig sehe. Gibt es erste Ergebnisse, wo Sie sagen: 'Das drückt sich schon in meiner Amtsführung aus' oder ist es dafür noch zu früh?
    "Riesen Kluft zwischen europäischen und internationalen Erwartungen an Deutschland"
    Steinmeier: Na, dafür ist es jetzt noch ein bisschen zu früh. Aber ich mache ja selbst große Lernerfolge. Was mir aus meiner ersten Amtszeit noch in guter Erinnerung war und das war auch ein bisschen der Auslöser für diese sogenannte Selbstüberprüfung oder wie wir es nennen englisch "Review der deutschen Außenpolitik", also was mir noch in Erinnerung war aus meiner ersten Amtszeit, dass es eine riesen Kluft gibt zwischen europäischen und internationalen Erwartungen an Deutschland, an deutsche Außenpolitik und der Bedeutung und Wichtigkeit, die wir Außenpolitik zumessen. Und wir haben eine sehr interessante Umfrage durchgeführt, etwa mit der Fragestellung: 'Sind die Deutschen bereit, eigentlich mehr Verantwortung in der Außenpolitik zu übernehmen oder eher nicht?' Und das Interessante war schon, dass mehr als 30 Prozent sagen, das könnten sie sich vorstellen und das sei eigentlich auch an der Tagesordnung. Aber eben knapp 70 Prozent sagen: 'Das soll auf keinen Fall und möglichst überhaupt nicht in Frage kommen'. Da sehen Sie, dass es da eine riesen Kluft gibt zwischen öffentlichen Erwartungen und der Bereitschaft der Deutschen, mehr Verantwortung zu tragen. Die muss man aber kennen, um dann auch daraus den politischen Auftrag erkennen zu können. Und dazu gehören schlicht und einfach zwei Dinge, nämlich erstens zu sagen: 'Wir in Deutschland, uns mag es wirtschaftlich besser gehen als vielen anderen um uns herum, aber außen- und sicherheitspolitisch leben wir eben nicht auf einer Insel.'
    Und das Zweite ist, dass wir endlich aufhören sollten, den Begriff von Verantwortung immer in eins zu setzen mit militärischem Engagement oder Auslandseinsätzen. Das ist nicht mein Votum, sondern ich sage gerade im Gegenteil: Wer nicht will, dass wir am Ende über den Einsatz von Militär entscheiden, der muss sich frühzeitiger engagieren, der muss auch zur Verfügung stehen, wenn es darum geht, in vielleicht zunächst aussichtslosen Situationen mit eigenen Vorschlägen, mit eigenem Engagement nach Lösung zu suchen, die Zuspitzungen vermeiden oder die dazu beitragen, wo Zuspitzungen und Konflikte schon eingetreten sind und stattfinden, nach Entschärfungen zu suchen. Dafür kriegt man nicht immer Lob - das habe ich selbst erfahren -, aber das ist eine Art von Verantwortung in der Außenpolitik, wie ich sie verstehe und von der ich finde, dass sie Deutsche auch tragen sollten.
    Remme: Herr Minister, vielen Dank für das Gespräch.
    Steinmeier: Danke schön.
    //Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.//