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EU-Sanktionen
"Davon wird Putin nicht zittern"

Der SPD-Politiker Egon Bahr äußerte sich skeptisch über die Ausweitungen der EU-Sanktionen gegen Russland. Man müsse sich die Frage stellen, ob diese Präsident Putin wehtäten, sagte Bahr, einer der Architekten der Ostpolitik, im Deutschlandfunk.

Egon Bahr im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 26.07.2014
    Foto des SPD-Politikers Egon Bahr
    Egon Bahr, SPD-Politiker und einer der Architekten der Ostpolitik (afp / John Macdougall)
    Er habe den Eindruck, dass man Putin übel nimmt, dass er "kein Demokrat nach unserer Machart ist", sagte Bahr. Er war einer der entscheidenden Mitgestalter der Ende der 60-Jahre eingeleiteten Ostpolitik. Er betonte, man könne aus Putin keinen Demokraten nach westlichem Vorbild machen. "Putin wird in den Zeitungen lesen: Wir müssen hier aufgrund des amerikanischen Druckes Sanktionen machen, aber sie sollen euch nicht wehtun", sagte Bahr und fügte an: "Na, davon wird er nicht anfangen zu zittern".

    Das Interview in voller Länge:
    Jürgen Zurheide: Die 28 EU-Regierungen, oder genauer, die entsprechenden Botschafter in Brüssel haben sich darauf verständigt, die Wirtschaftssanktionen gegen Russland zu verschärfen. Das müssen die Regierungschefs allerdings in dieser Woche oder wann auch immer noch en detail beschließen. Und damit sind wir bei der spannenden Frage: Kommt der Kalte Krieg zurück? Darüber wollen wir reden mit Egon Bahr, dem Außenpolitiker der Sozialdemokraten, den ich jetzt ganz herzlich am Telefon begrüße. Zunächst einmal nach Berlin, guten Morgen, Herr Bahr!
    Egon Bahr: Guten Morgen, Herr Zurheide!
    Zurheide: Herr Bahr, fangen wir doch noch mal an: Wenn jetzt Wirtschaftssanktionen beschlossen werden oder werden sollen, was löst diese Debatte bei Ihnen aus?
    Bahr: Angst. Über Dummheit oder Kurzsichtigkeit, und zwar deshalb, weil wir uns daran gewöhnt haben oder hatten, nachdem wir 1970 mit Moskau über den Moskauer Vertrag verhandelt haben, dass Wandel durch Annäherung bedeutet, es geht um die Interessen der Staaten, es geht nicht um die Ideologie. Niemand hat damals versucht, einen zu bekehren, entweder zum Kommunismus - ich habe nicht versucht, die zu Sozialdemokraten zu machen, sondern wir haben die Interessen der Staaten an der Verbesserung der Beziehungen in den Mittelpunkt gestellt. Das war auch der Erfolg.
    Und jetzt habe ich das Gefühl oder den Eindruck jedenfalls, als ob man im Grunde Putin übel nimmt, dass er kein Demokrat nach unserer Auffassung und nach unserer Machart ist. Und da kann ich nur daran denken, was der weise Präsident Bush der Ältere gesagt hat am Ende des Kalten Krieges: Russland muss sich nach seinen Traditionen entwickeln. Und zu seinen Traditionen gehört bekanntermaßen die Demokratie nicht. Das heißt, weder Putin noch seine Kinder noch seine Enkel werden Demokraten nach unserer Machart und unserem Verständnis sein. Wie auch immer - sollen die wie Amerikaner werden mit Todesstrafe oder die Engländer mit einer Monarchie oder wie in Singapur, noch anders? Nein, es wird eine Demokratie à la russe werden, und das soll uns eigentlich genügen.
    Zurheide: Darf ich dazwischengehen und fragen, wo gibt es denn für Sie einen Punkt oder hat es für Sie möglicherweise einen Punkt bei Verhandlungen im Sinne Wandel durch Annäherung gegeben, wo Sie gesagt haben, na ja, hier kann ich aber jetzt nicht mehr, weil die andere Seite macht irgendetwas, was so sehr gegen meine eigene Werteordnung verstößt, dass ich da nein sagen muss? In so einer Lage fühlen sich ja viele heute. Haben Sie so einen Punkt für sich mal gehabt?
    Bahr: Ja, selbstverständlich. Ich habe den Punkt gehabt, dass die Russen vorgeschlagen haben, alle Grenzen in Europa müssen unverletzlich, unverrückbar und unangreifbar sein. Und das war alles unannehmbar, denn mit ging es doch darum oder musste es gehen, nach unserer Verfassung, dass wir eines Tages die Grenze zwischen der Bundesrepublik und der DDR verändern friedlich oder aufheben. Das hat niemand damals für möglich gehalten, und das haben wir mit dieser Formel dann geschafft.
    "Das war damals möglich, weil die Wirtschaft der Politik vorausgeeilt war"
    Zurheide: Jetzt hat es damals, ich habe es selbst noch einmal nachgelesen, weil ich nicht mehr genau wusste, wann es war, genau 1970, also bevor die Verträge, über die Sie gesprochen haben, die Ostverträge, verhandelt wurden oder abgeschlossen wurden, hat es dieses berühmte Röhrengeschäft gegeben. Also noch mal in der Kurzfassung für diejenigen, die das nicht mehr erinnern: Damals haben Thyssen und Mannesmann Stahl und Rohre geliefert, die Deutsche Bank hat das Ganze finanziert, und durch diese Rohre ist nachher Gas zurückgeflossen, das hat Ruhrgas bekommen. So. Das war ein Geschäft in einer Zeit, in der es ja nun wahrlich Spannungen gab. Ich sage noch mal, es war Kalter Krieg. Wie war das damals möglich?
    Bahr: Das war damals möglich, weil die Wirtschaft der Politik vorausgeeilt war. Sie haben selbst in einer früheren Zeit gegen die Bedenken von Adenauer ihre Wirtschaftsgeschäfte mit Russland entwickelt, und nachdem der Vertrag geschlossen war, blühte der Handel direkt auf.
    Zurheide: Und Sie sagen, das hat etwas gebracht? Oder andersherum, wenn wir es in die jetzige Zeit übersetzen und sagen, na ja, Dinge wie dieser Absturz oder Abschuss des Flugzeuges MH17 - das sind katastrophale Entwicklungen. Kann man die so ausblenden, Herr Bahr?
    Bahr: Nein, man kann sie nicht ausblenden. Ich bin in diesem Punkte, muss ich sagen, etwas ruhiger geworden, weil ich feststelle, dass die Amerikaner mit ihren Feststellungen die russischen Angaben zu bestätigen scheinen, dass das ein Versehen und nicht eine bösartige Absicht des Abschusses gewesen ist.
    Zurheide: Wobei, ich will da jetzt nicht Sie zu sehr unterbrechen, aber das ist natürlich für die fast 300 Opfer trotzdem - das Wort Katastrophe reicht nicht.
    Bahr: Natürlich. Das ist eine - es ist schrecklich, es ist ein Drama. Aber das ist nicht mehr zu ändern. Die Frage ist nur, ist das bösartig gewesen, ist das mit Absicht gewesen? Und da, mit aller Vorsicht gesagt, scheint es so, dass die Amerikaner sehr, na sagen wir mal, kooperativ und nicht im Sinne des Kalten Krieges agieren, und dass weckt ein bisschen Hoffnung. Wir dürfen doch nicht vergessen, wir haben doch durch Schröder seinerzeit die Gasleitung bekommen. Das war für uns ein Zeichen von Stabilität und Sicherheit. Wir haben das gebraucht, übrigens auch für Europa, nicht nur für Deutschland, und die Russen haben gebraucht. Das war Stabilität, und das zu gefährden, wäre jetzt ein Rückschlag, der zum Schaden Europas ausgehen könnte.
    Zurheide: Ist der Gedanke, dass man über Sanktionen, also über Bestrafung ein bestimmtes Verhalten erzielt, ist der so falsch?
    Bahr: Im Prinzip nicht, aber praktisch ja. Ich gehe davon aus, dass der Putin Zeitung lesen lässt. Und dann muss er lesen, also wir müssen hier aufgrund des amerikanischen Druckes Sanktionen machen, aber sie sollen euch nicht weh tun. Na, davon wird der nicht anfangen zu zittern, nicht? Ich sehe im Augenblick, wenn ich mir angucke, wir haben einen Grundkonflikt mit Amerika - NSA, Ausspähen gegen das deutsche Verfassungsprinzip und auch Verfassungspflicht der Bundesregierung, die Würde des einzelnen Menschen, seine private Unversehrtheit zu garantieren. Wir haben auf der anderen Seite eine Situation zu Moskau, in der es im Augenblick gar nichts nutzt, dass die beiden die einzigen sind, Putin und Merkel, die keine Dolmetscher brauchen, um sich zu verständigen. Wir haben auf der dritten Seite das große, offene Projekt der europäischen Baustelle. In dieser Situation kann ich mir eigentlich nicht vorstellen, dass die Kanzlerin in Urlaub geht - was ihr gewünscht ist und was sie auch verdient als eine wirklich fleißige Frau. Aber de facto wird sie doch arbeiten müssen. Sie wird sich entlasten müssen von den Routinegeschichten, aber ansonsten hat sie viel zu tun, und das -
    "Die Ukraine kann kein Mitglied der NATO werden"
    Zurheide: Was, Herr Bahr, kann das Ende all dieser Konflikte sein, und vor allem, wo ist dann am Ende der Platz der Ukraine?
    Bahr: Der Platz der Ukraine ist jedenfalls in drei Punkten, glaube ich, weitgehend einverständlich zwischen Putin und Obama abgesteckt. Erstens: Die Ukraine kann kein Mitglied der NATO werden. Sie gehört weder dem Osten noch dem Westen.
    Zurheide: Und wenn die Ukrainer das selbst wollten oder zumindest ein Teil der Ukrainer? Wie antworten Sie dann?
    Bahr: Bitte?
    Zurheide: Wie antworten Sie dann, wenn die Ukrainer das möglicherweise selbst wollten, oder ein Teil der Ukrainer?
    Bahr: Das scheint nicht so zu sein, denn ich sehe, dass gleichzeitig in der Ukraine nicht mit großer Begeisterung, aber hingenommen wird, dass sie den Russen sagt, die Ukraine ist noch lange nicht reif für eine Vollmitgliedschaft in der EU. Und dann bleibt natürlich ein Punkt, der übersehen wird: Die Ukraine ist das schrecklich bedauernswerte Land, in dem die Grenze zwischen lateinischem und orthodoxem Christentum mittendurch geht. Und das wird auch so bleiben, das wird sich nicht ändern. Die im Osten sind orthodox, die im Westen sind lateinisch, also katholisch im Wesentlichen. Und das wird auch so sein, und das führt dann dazu, dass es eine wie immer geartete Föderation geben wird. Im Prinzip könnte für die Ukraine eine ähnliche Regelung oder ein Ergebnis herauskommen wie für Finnland oder Österreich. Die sind bekanntlich auch nicht Mitglieder der NATO, aber Vollmitglieder der westlichen Gesellschaften.
    Zurheide: Das war Egon Bahr zur schwierigen Lage des aktuellen Ost-West-Konfliktes und der Frage, kommt der Kalte Krieg zurück. Herr Bahr, ich bedanke mich herzlich für Ihre Einsichten und Ihre Bereitschaft, mit uns zu reden. Danke schön!
    Bahr: Ihnen auch alles Gute!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.