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Schauplatz von Stellvertreterkriegen

Die Ereignisse der vergangenen Woche waren nur ein weiterer Punkt in der langen Reihe von Gewaltausbrüchen im Libanon. Doch das erste Mal erhob die Hisbollah die Waffen gegen die eigenen Landsleute - Waffen, die die Miliz vor allem aus dem Iran mit Syriens Hilfe bekommen hat. Aber auch die libanesische Regierung ist fremdem Einfluss ausgesetzt: dem der USA, die das Land zur Musterdemokratie im "Neuen Nahen Osten" erkoren hat. Der Zedernstaat als Schauplatz für einen Stellvertreterkrieg.

Von Birgit Kaspar | 16.05.2008
    Freudenschüsse der Oppositionsanhänger. Im Libanon sprechen derzeit die Waffen - auch wenn es gilt, einen vermeintlichen Sieg zu feiern. Das soll sich ab sofort ändern. Denn von heute an verhandeln die prowestliche Regierung sowie die von Iran und Syrien unterstützte Opposition in Katars Hauptstadt Doha über eine Beilegung der Krise. Katars Premierminister Sheikh Hamad bin Jassim al-Thani versprach, dass man intensive Gespräche führen werde bis zu einer Übereinkunft und der Wahl eines neuen Präsidenten:

    "Wir haben uns geeinigt, dass alle Waffen und Bewaffneten von den Straßen abgezogen werden. Dass die Straßen, der Hafen und der Flughafen wieder geöffnet werden und dass die Armee die volle Verantwortung für den Schutz des zivilen Lebens übernimmt."

    Den Status quo ante wiederherstellen lautet die Devise. Es wird im Libanon als erster positiver Schritt gesehen, aber er wird mit einer gehörigen Prise Skepsis in der Bevölkerung aufgenommen. Denn damit sind nach den schlimmsten Kämpfen seit dem Ende des Bürgerkrieges 1990 die tiefer liegenden Probleme noch nicht gelöst.

    Bei den Gewaltausbrüchen kamen in der vergangenen Woche mindestens 65 Menschen ums Leben, 200 wurden verletzt. Es war das erste Mal, dass die radikal-schiitische Hisbollah ihre Waffen gegen die eigenen Landsleute erhoben hat - und damit ein Versprechen brach. Ob der Dialog in Doha Erfolg haben wird, sei noch vollkommen offen, meint Paul Salem von der Carnegie Stiftung für internationalen Frieden:

    "Ich glaube, wir befinden uns in einer Pause, in der es möglich ist, eine Einigung zu erzielen. Die Arabische Liga versucht dies durch die Bildung einer neuen Regierung, in der beide Lager großen Einfluss haben werden. Aber die Standpunkte liegen noch weit auseinander. Sollte das nicht sehr bald gelingen, besteht die Gefahr, dass die Militäraktion der letzten Woche wieder aufflammt und möglicherweise Gebiete erreicht, die bisher noch unberührt geblieben sind."

    Die Kämpfe zwischen der Hisbollah-Miliz und ihren Verbündeten gegen bewaffnete Regierungsanhänger hatten sich auf das weitgehend moslemische Westbeirut, die überwiegend von Drusen bewohnten Berge südöstlich der Hauptstadt sowie die nordlibanesische Stadt Tripoli beschränkt. Der Osten Beiruts, wo mehrheitlich Christen leben, sowie andere Landesteile sind von der Gewalt weitgehend unberührt geblieben.

    Nachdem die Schiiten-Miliz kurzzeitig die Kontrolle über weite Teile Westbeiruts übernommen hatte, übergab sie die militärische Kontrolle an die libanesische Armee. Die libanesischen Soldaten hatten sich aus den Kämpfen herausgehalten - was zu Kritik seitens der Regierung und ihrer Anhänger führte. Auch Paul Salem ist der Ansicht, die Armee hätte mehr tun können:

    "Sie kann sicher nicht gegen eine der großen konfessionellen Gemeinschaften antreten, die Schiiten oder irgendeine andere. Aber zwischen einer heftigen Konfrontation und dem Abseitsstehen, wenn eine Miliz im Grunde zivile Wohnviertel übernimmt, zwischen diesen beiden Extremen gibt es einen Mittelweg."

    Die Armee, die einzige staatliche Institution im Libanon, die hohes Ansehen genießt und als Symbol der libanesischen Einheit gelten kann, ist ein Spiegelbild der libanesischen Gesellschaft. Sie besteht aus Sunniten, Schiiten, Christen und Drusen. Das Armeekommando hatte aus Sorge vor einer Spaltung der Truppe deutlich gemacht, dass die Armee sich nicht einmischen könne. Ganz davon abgesehen, dass auch die libanesische Armee der Hisbollah-Miliz militärisch unterlegen wäre.

    Das Leben kehrt in die Beiruter Straßen zurück. Die Geschäfte öffnen vorsichtig ihre Türen, auch die berüchtigten Verkehrsstaus gehören erneut zum Alltag. Der Flughafen und der Hafen sind wieder geöffnet - mit Erleichterung lauschten die Beiruter dem Anflug der ersten Maschine der Middle East Airlines gestern Abend - der Libanon ist wieder mit der Außenwelt verbunden. Auch die jungen Männer mit Walkie-Talkies, die sich als Repräsentanten der militärisch siegreichen Opposition in den Beiruter Vierteln niedergelassen hatten, sind seit dem Morgen verschwunden.

    Es wird nicht lange dauern, bis die überlebensgroßen Poster von Ex-Premier Rafic Hariri und seinem Sohn Saad wieder an den Hauswänden hängen. Symbole sind wichtig in unsicheren Zeiten. Doch eine Botschaft ist nun in den Köpfen der Menschen verankert: Die Waffen der Hisbollah sind unantastbar. Sie standen und stehen im Mittelpunkt des Konfliktes, erklärt die Hisbollah-Expertin Amal Saad-Ghorayeb:

    "Der Konflikt hat sich, seit der Ermordung Rafic Hariris, um die Bewaffnung der Hisbollah gedreht und ihre Bemühungen, die Widerstandsbewegung gegen Israel zu schützen."

    Denn die "Partei Gottes" - wie ihr Name übersetzt heißt - sehe sich in erster Linie als Miliz zur Befreiung arabischen Landes von der israelischen Besatzung und nicht so sehr als politische Partei, die die Interessen der Schiiten im Libanon vertritt. Saad-Ghorayeb:

    "Hisbollahs Hauptanliegen ist es, die eigenen Waffen zu schützen und sicherzustellen, dass der Libanon nicht ein Satellitenstaat der USA und Israels wird. Sie will die arabische Identität des Libanon erhalten und die Allianzen mit Iran und Syrien garantieren. Der Zedernstaat soll keinesfalls als proamerikanisches Vorzeigeland herhalten."

    Das sieht die prowestliche Regierung unter Premierminister Fuad Siniora anders. Sie will das Gewaltmonopol des Staates durchsetzen und die gut trainierte und hoch gerüstete Hisbollah-Miliz wenn möglich in die libanesische Armee integrieren. In dem Maße, wie sie die Hisbollah unter staatliche Kontrolle bringt, glaubt die Regierung auch, sicherstellen zu können, dass der Einfluss der Syrer gebannt werden kann. Deshalb müsse man sich in Doha vorrangig mit der Waffenproblematik auseinandersetzen, betonte der sunnitische Mehrheitsführer Saad Hariri:

    "Dieser Dialog sollte zunächst die Frage des Waffenbesitzes klären. Nicht nur die Waffen der Hisbollah, sondern auch die all ihrer prosyrischen Alliierten. Danach können wir uns mit anderen Fragen beschäftigen: der Präsidentenfrage, der Frage der Regierungsbildung, der des Wahlrechtes, aber vor allem der des zivilen Friedens, der Koexistenz und der Etablierung eines Staates, der diesen Namen verdient hat."

    Hinter dem Streit um die Waffen der Hisbollah stehen zwei völlig unterschiedliche Visionen für den 4,5-Millionen-Einwohner-Staat in der Levante: Die Hisbollah sieht den Widerstand gegen Israel und gegen den amerikanischen Einfluss als vornehmstes Staatsziel. Die Regierungskoalition hingegen träumt von einem stark westlich ausgerichteten Staat, einem glamourösen Zentrum für Geschäftsleute, Touristen und Vergnügungssuchende. Das Problem für den Zedernstaat: Diese Visionen, hinter denen jeweils rund die Hälfte der Bevölkerung steht, schließen einander aus.

    In den von der Hisbollah überrannten Büros der Zukunftsbewegung von Saad Hariri werden die Scherben zusammengekehrt. In der benachbarten kleinen Süßwarenhandlung im gemischt sunnitisch-schiitischen Stadtteil Ras el-Naba trinkt Bassam mit seinem Freund Nizaar nachdenklich nach Kardamom duftenden, arabischen Kaffee. Bassam seufzt:

    "Im Grunde leben wir friedlich zusammen. Sunniten und Schiiten haben ihr ganzes Leben zusammen verbracht. Aber nach dem Tod Rafic Hariris entzündeten die politischen Führer dieses konfessionelle Feuer zwischen Sunniten und Schiiten. Außerdem drängt Amerika die Siniora-Regierung zu schlechten Entscheidungen. Was immer die Amerikaner wollen, Siniora tut es. Sie haben dieses konfessionelle Feuer entzündet, um ihre Politik durchzusetzen."

    Der Einfluss ausländischer Mächte, die Interessen im Libanon haben oder den Zedernstaat für ihre Interessen nutzen, sei sehr groß, sagt Paul Salem von der Carnegie Stiftung.

    "Die Hisbollah wird sehr stark beeinflusst, denn ihre Waffen werden vor allem vom Iran geliefert, mithilfe Syriens. Die gesamte militärische Infrastruktur wird von außen geliefert und finanziert."

    Das gebe der Schiitenpartei eine ausgeprägt regionale Rolle, mache sie zu einer Stellvertreterarmee für Iran und Syrien. Aber auch die gegenwärtige libanesische Regierung habe sehr enge Beziehungen zu den USA und Saudi-Arabien und müsse deren Belange berücksichtigen.

    "Denn beide Staaten unterstützen die Regierung vielleicht unter ganz bestimmten Bedingungen. Sollte die Regierung Konzessionen machen, die für Washington oder Riyadh nicht akzeptabel sind, dann könnte sie möglicherweise deren Unterstützung verlieren."

    US-Präsident George W. Bush hatte den Libanon nach dem Mord an Rafic Hariri im Februar 2005 und dem anschließend erzwungenen Abzug der Syrer aus dem Zedernstaat zu seiner Musterdemokratie im sogenannten "Neuen Nahen Osten" auserkoren. Ziel Washingtons ist es, den Libanon in den westlichen Orbit zu ziehen, auch mit dem Hintergedanken, den Druck auf Israel an seiner Nordgrenze zu erleichtern und den Weg für einen baldigen Frieden zu ebnen. Die Hisbollah, die auf der amerikanischen Liste der Terrororganisationen steht, ist den Amerikanern dabei ebenso ein Dorn im Auge wie der verbliebene Einfluss der Syrer.

    Aber auch der Machtkampf der USA mit dem Iran schlägt sich im Zedernstaat nieder. Deshalb habe der gegenwärtige Konflikt zwischen der Regierung Siniora und der Hisbollah sehr starke Elemente eines Stellvertreterkrieges, neben den innerlibanesischen Aspekten eines normalen politischen Streites zwischen zwei Parteien, meint Paul Salem:

    "Die größeren und schwerer wiegenden Konfrontationen finden auf der Stellvertreterebene statt. Die Konfrontation zwischen den USA und Iran ebenso wie die Spannungen zwischen Israel und Syrien sowie zwischen den USA und Syrien. Es ist ein Stellvertreterkrieg mit Elementen eines libanesischen Konfliktes."

    Für Syrien ist die Hisbollah eine wichtige Karte im Poker mit Israel um eine Rückgabe der 1967 besetzten Golanhöhen. Denn mithilfe der Hisbollah-Aktivitäten an der Grenze zu Israel kann Damaskus militärischen Druck ausüben, ohne selbst israelische Gegenschläge einstecken zu müssen. Als Gegenleistung steht Syrien als politischer Verbündeter und als Transitland für Waffenlieferungen an die Hisbollah aus dem Iran zur Verfügung. Weder Damaskus noch Teheran kontrollierten jedoch die Hisbollah, betont Saad-Ghorayeb:

    "Es ist vielmehr, dass die Interessen von Syrien und Iran sich mit denen der Hisbollah überschneiden. Im Libanon tun sie das hundertprozentig. Wenn es so aussieht, als erfülle die Hisbollah nur die Wünsche der Syrer und Iraner, so stimmt das nicht, denn sie verfolgt im Grunde ihre eigenen Belange."

    Nach dem militärischen Sieg der Hisbollah in der vergangenen Woche ist die prowestliche Regierung deutlich geschwächt. Auch ihre Verbündeten, die USA und Saudi-Arabien, mussten einen politischen Rückschlag einstecken. Die Frage ist nun, wie die Schiiten-Partei das politisch ummünzen kann. Beide Seiten wollen keinen Bürgerkrieg, sie wissen, sie müssen einen Kompromiss finden. Es liege im Interesse der Hisbollah, eine baldige Einigung über eine Regierung der nationalen Einheit, ein neues Wahlrecht sowie die Präsidentschaftswahlen zu erzielen. Saad-Ghorayeb:

    "Sie wollen eine schnelle Lösung der Krise. Je länger sie andauert, desto schwieriger wird es für die Hisbollah, ihre militärischen Gewinne zu nutzen. Es könnte sein, dass die Regierung versucht, das auszunutzen."

    Eines scheint klar: Die Hisbollah will den Libanon nicht in ein Hisbollahstan verwandeln, sonst wäre sie anders vorgegangen. Im Gegenteil, es nutze der Schiiten-Partei in gewisser Weise, wenn die Regierung prowestliche Elemente enthalte. Denn dies biete eine Art Schutz vor einem frontalen Angriff der Israelis oder der Amerikaner, meint Paul Salem:

    "Deshalb, glaube ich, ziehen sie eine etwas komplexere Lösung vor, in der die libanesische Armee eine Rolle hat, der libanesische Staat erhalten bleibt, selbst mit seinen prowestlichen Elementen. Gleichzeitig wünschen sie aber genug Einfluss, damit sie tun und lassen können, was sie wollen."

    Vor allem mit Blick auf ihre Rolle als militante Widerstandsbewegung gegen Israel. Das ist auch der Grund, warum Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah immer wieder betont, dies sei kein konfessioneller Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten, sondern ein politischer. Doch die Erlebnisse der vergangenen Woche haben vor allem bei den Sunniten, aber auch bei den Drusen, tiefe Wunden hinterlassen. Hier könnte der Keim für einen Bürgerkrieg gelegt worden sein, wenn nicht ein tragfähiger Kompromiss zwischen beiden Seiten gefunden wird.

    "Greift zu den Waffen”, ruft ein junger Mann und reckt die Arme gen Himmel. Im Viertel Tarek al-Jadide, wo standhafte Sunniten leben, herrscht helle Aufregung. Ein schiitischer Lebensmittelhändler hatte zum Gewehr gegriffen und in eine sunnitische Beerdigungsgesellschaft geschossen. Einige der Trauernden hatten zuvor seinen Laden mit Steinen beworfen. Der Schiit erschoss zwei Sunniten.

    "Wir werden mehr Gewalt haben als im Irak. Dies ist der Beginn eines großen Bürgerkrieges."
    Ein 55-jähriger Mann, der seinen Namen nicht nennen will, ist aufgebracht. Die Hisbollah sei nun der schlimmste Feind der Sunniten.

    "Wir werden genug Waffen bekommen, aus dem Norden, übers Meer, vielleicht von Israel. Ich bin Moslem, aber wenn der Krieg beginnt, werde ich mit Israel zusammenarbeiten gegen die Hisbollah. Ich werde es tun."

    Die Sunniten im Libanon fühlen sich gedemütigt und schutzlos. Paul Salem ist überzeugt, wenn die Lage nicht in akzeptabler Weise für die Sunniten gelöst werde, dann werden zahlreiche Parteien sich so schnell wie möglich bewaffnen.

    "Vor allem die Sunniten werden es versuchen, und es wird wahrscheinlich zwei Formen annehmen. Auf der einen Seite die gemäßigten und auf der anderen Seite die radikal-islamistischen Aktivisten. Hilfe könnten sie aus Saudi-Arabien und anderen sunnitischen Staaten bekommen, wie Ägypten und Jordanien und natürlich von al-Qaeda-nahen Jihadi-Netzwerken."

    Ein solcher sunnitisch-schiitischer Bürgerkrieg wäre das schlimmste Szenario für die Hisbollah, denn es würde das panarabische Image, das sie sich geben möchte, zerstören. Amal Saad-Ghorayeb:

    "Das ist die große Gefahr. Wenn die Spannungen andauern, könnte die Schiiten-Miliz, ohne es zu wollen, das Monster eines Bürgerkrieges kreieren. Sie haben den Anhängern von Drusenführer Walid Jumblatt und Sunnitenführer Saad Hariri durch ihre Attacken einen guten Grund geliefert, sich nächstes Mal zu rächen."

    Das sollen die Gespräche in Katars Hauptstadt Doha verhindern. Das Regierungslager benötigt dafür Zusicherungen, dass die neue Machtbalance nicht bedeutet, die Syrer könnten durch die Hintertür wieder die Politik kontrollieren. Die Hisbollah will Garantien, dass die prowestliche Fraktion sich nicht zum Handlanger Washingtons machen lässt, wenn es um ihre Entwaffnung geht. Die jeweiligen ausländischen Alliierten beider Lager müssen äußerst behutsam vorgehen, wenn sie den Libanon nicht in eine Situation treiben wollen, in der das Land unter ihrem Druck implodiert und sie sich nur noch um seine Überreste streiten können.

    Mittelfristig besteht die beste Chance des Zedernstaates darin, dass Syrien und Israel einen Friedensvertrag abschließen. Wenn das gelänge, sagt Paul Salem, dann werde Beirut bald nachziehen, und die Hisbollah würde mithilfe der Syrer entwaffnet.

    "Wenn es aber keinen Frieden zwischen Israel und Syrien gibt, dann können die Libanesen mit den massiven Stellvertreterkriegen auf ihrem Territorium nicht fertig werden. Das Land ist zu klein, wir können Iran und Syrien, die Israel und die USA nicht stoppen, es ist unmöglich."

    Das Schicksal des Zedernstaates hängt wieder einmal an einem seidenen Faden.