Donnerstag, 25. April 2024

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Schiller. Leben - Werk - Zeit. Eine Biographie

Peter André Alts "Schiller" ist ein zweibändiges gelehrtes Buch von insgesamt eintausendvierhundert Seiten, das trotzdem auf Fußnoten verzichten kann und statt dessen mit einem knappen Anmerkungsregister der Quellennachweise auskommt. Es enthält verlässliche Daten und Fakten, die bei der Rekonstruktion der Lebensabschnitte eines Dichters helfen, an deren glücklichem Ende Werke wie die "Räuber", die "Wallenstein"-Trilogie oder "Johanna von Orleans" das Licht der Welt erblickten. Es erzählt zum Beispiel, dass Schiller am Heiligen Abend 1798 drei Schreiber einstellte, die den Mittelteil des "Wallenstein" sauber kopieren mussten und dass Goethes Diener Georg Gottfried Rudolph den "Wilhelm Teil" in Rekordzeit siebenmal abschrieb, ohne sich ein einziges Mal zu verschreiben. Oder es berichtet im Zusammenhang mit der ästhetischen Abhandlung "Über das Erhabene", wie des Autors Erscheinung bei den Zeitgenossen süffisante Spekulationen darüber auslöste, ob nicht das Erhabene in dem zu höfischer Steifheit gebändigten langen schlaksigen Kerl mit der gewaltigen Hakennase geradezu verkörpert sei, und zwar auf eine ziemlich unbehagliche, irritable Art. "Einen Cherubim mit dem Keime des Abfals" nannte ihn Jean Paul.

Beartrix Langner | 06.02.2001
    Die Porträts, die Schillers Äußeres überliefern, sind so widersprechend, als hätte er seine Stiefbrüder zum Modellstehen geschickt. Gefallener Engel, Bohemien, Gewaltmensch, edler Räuber - Friedrich Schiller war seinen Mitmenschen unheimlich, seinen Anhängern heilig, den Nachgeborenen des späten zwanzigsten Jahrhunderts meistens nur noch lästig. Seine Biographen haben je nach Gusto das deutsche Misere, die Last eines unglücklichen Bewusstseins oder Deutschlands Größe auf ihn gehäuft. Peter André Alts Schiller-Biografie ist von anderer Art, sie ist ein Netzwerk oder, medizinisch gesprochen( Schiller war auch ausgebildeter Arzt), ein Hologramm aus Nerven, Knochen und Sehnen; ausgeräumt das verweste Fleisch der alten Ideologien, der Staub zweihundertjähriger professoraler Betriebsamkeit. Hierzu André Alt:

    "Als Germanist hatte ich das Gefühl, dass es an der Zeit sei, gewissermaßen anknüpfend an die Resultate der Einzelforschung eine Synthese zu riskieren und verschiedene Schillerbilder, die sich modelliert hatten in den letzten Jahren, aufeinander zu beziehen und zu versuchen, eine Einheit daraus zu gewinnen, z.B. der Geschichtsdenker Schiller, der Erzähler Schiller, den Zeitkritiker und den politischen Kopf Schiller zu profilieren, ob man damit der eigenen Zeit ein ganz spezifisches Schillerbild stiftet, steht auf einem andern Blatt. Es ist sicherlich ein Anliegen da, die Modernität von Schiller zu zeigen."

    Alt ist seit fünf Jahren Professor für neuere deutsche Literatur an der Ruhr-Universität Bochum, mit fünfunddreißig war er der jüngste Lehrstuhlinhaber und ist es geblieben. Auch seine Schiller-Biografie atmet, wie die seiner gediegensten Vorgänger Reinhard Buchwald und Benno von Wiese, noch den Geist gepflegter Bürgerlichkeit und rhetorischer Vornehmheit, doch sie zeichnet sich ebenso durch kühle Rationalität und Lust an der Theorie aus. Das scheint der klassischen Leiche gut zu tun. Philologisch strenge Textanalyse und ein geräumiger historischer Kontext, in den eingebettet Schillers Leben überraschende Perspektiven auf die politische Geschichte Ende des 18. Jahrhunderts eröffnet, sind methodisch sorgsam verbunden. In acht Kapiteln schreitet der Biograph den Werkkreis chronologisch ab, dokumentiert Theorie- und Formbildungsprozesse und sucht statt hermeneutischer historisch-soziologische Zusammenhänge aus ihnen zu formieren. Solcher Zugang über das Gesellschaftssystem, über die Zwänge des Literaturmarktes und die Finessen eines taktisch operierenden Berufs Schriftstellers statt über geistesgeschichtlich hinreichend erschöpfte Motive und Topoi schärft die Intellektualität des Autors und holt ihn zurück auf Augenhöhe der Gegenwart: ein respektvolles und vor allem ein theoretisch ergiebiges Verfahren, setzt es doch Schiller in den heurigen politologischen und soziologischen Diskurs sinnvoll wieder ein - was auf dem Theater ja längst und immer wieder geschieht.

    Modern ist dieser Autor deswegen, weil er auf die erste Modernisierungskrise in Europa antwortet, die in Europa am Ende der Aufklärung sichtbar wird, nach der Französischen Revolution sichtbar wird, die im Dilemma der theoretischen Kultur sichtbar wird, das ist modern an Schiller, dass er erstmals die Moderne zu einer Position der Selbstreflexion über die eigenen Möglichkeiten und Grenzen führt.

    Dem historisch vorgebildeten, der enzyklopädischen Fülle an Informationen geduldig folgenden Leser erschließt sich an dem sorgsam herausgearbeiteten Programm dieses Autors, die polirischen Krisen des Feudalismus und der bürgerlich-demokratischen Emanzipation am Ende 18. Jahrhunderts geistig zu bewältigen, womöglich auch das eigene Dilemma der theoretischen Kultur am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Es handelt sich bei Schiller um einen radikalen Vordenker der politischen Kultur des bürgerlichen, des zivilen Europa.

    Das Faszinierende am jungen Schiller ist, dass er ein souveräner Analytiker von Ordnungen der Macht ist und dass er diese Ordnungen der Macht in ihren räumlichen und hierarchischen Strukturen erschließt. Man fragt sich zuweilen, wenn man ein Drama wie den Fiesco oder auch den Don Carlos liest, woher weiß der das eigentlich, man hat das Gefühl, er ist dabei, wenn an den Nervenpunkten der politischen Entscheidungszentralen die Würfel fallen, er ist dabei, wenn am Kabinettstisch entschieden wird, er kennt sich aus mit den höfischen Rankünen und Intrigen, woher kennt er das, er kennt es vermutlich nur auf einer andern Ebene, nämlich durch die Auseinandersetzung mit dem Ordnungssystem der Hohen Karlsschule, deren Eleve er war. Er ist ein Experte der Macht, und dieser Experte der Macht schreibt gerade in den frühen Dramen an einer Anatomie der Macht im psychologischen und im politischen Sinne, und das fand ich faszinierend.

    Schiller als Analytiker der strukturellen Macht politischer Institutionen: Aus solchem Befund ergeben sich weitreichende Konsequenzen. Der im deutschen Idealismus tradierte, klaffende Zwiespalt zwischen dem Reich des schönen Scheins und dem kapitalisierten literarischen Markt um 1800, zwischen dem Autor als freiem Produzenten und als höfischem Untertan, der den frühen Stuttgarter und den späten Weimarer Schiller biografisch stets in zwei Teile riss, deren einer dem progressiv-revolutionären Geschichtsbild der Unken, deren anderes dem konservativen Evolutionismus der bürgerlichen Schiller-Verehrer gehörte, wird geglättet und weicht dem Modell eines deutschen Intellektuellen zwischen Herrschaft und Öffentlichkeit, taktischem Kalkül, politischer Ohnmacht und heftig verteidigter poetischer Autonomie. Hierzu André Alt:

    "Ich glaube, man muss sehen, dass Schillers Denken auch frühzeitig schon durch einen konsequenten Legalismus geprägt war. Denken Sie nur an den Schluss der Räuber, denken Sie an diese fragwürdige, in sich inkonsistente Verteidigung der Gesetze , die da am Schluss geltend gemacht wird. Auch im Fiesco soll am Ende ja der Staat, der Status quo erhalten werden, auch im Carlos geht es nicht um den Sturz des mächtigen Mannes , sondern es geht um eine gemäßigte Reform. Also so revolutionär, wie man es gelegentlich las, ist auch der junge Schiller nicht. So ist dann vielleicht auch der Bruch nicht so massiv zwischen dem jungen Schiller und dem, der dann den Status quo verteidigt. Man muss auf der andern Seite die politische Sprengkraft der klassischen Kunstidee sehen, die eben immer ihr Ziel im Auge behält, den Umbau dieses absolutistischen Staates herbeizuführen. Das darf man nicht vergessen. Ich betone also vielleicht weniger den Bruch als eine gewisse Kontinuität eines politischen Denkens, das in seinen jungen Jahren nicht so extrem war, wie man oft sagte und auf der ändern Seite in seiner klassischen Periode nicht so unpolitisch war, wie man lange Zeit vermutet hat."

    So bahnt Alt zugleich den Weg zu einem anderen Verständnis der ästhetisch-politischen Debatten um die europäische Zukunft und Schillers zentralen Ort in ihnen, zu Lesarten, die den "machtbewussten Publizisten", "seine angespannte Intellektualität", den Wechsel zwischen Genres und literarischen Techniken als spekulativ-aggressive Opposition einer offenen literarischen "Reflexionskultur" gegen die "Zweckrationalität" einer undurchdringlich kon-ventionalisierten und reglementierten Gesellschaft erkennen lassen. Dazu André Alt:

    "Was kann ein einzelner tun, und welche Macht besitzt das System? Das politische System wird mit verschiedenen Chiffren bei Schiller dargestellt. Da gibts die Chiffre Schicksal. Schicksal ist nichts anderes als das Nicht Steuerbare. Das nicht Steuerbare kann etwas sein, das sehr wohl in einer anonymen Ordnung der Macht vorhanden ist, etwa wenn es um die Verwaltungsstäbe der kaiserlichen Hofs geht. Das ist etwas, was nicht kontrollierbar ist. Was kann der Mensch inmitten dieses Systems überhaupt tun? Die Antwort auf diese Frage ist bei Schiller durchaus pessimistisch eingefärbt. Seine Handlungsoptionen sind außerordentlich begrenzt. Das Zweite: Schiller hat ganz dezidiert Stellung bezogen zum Patriotismus seiner Zeit, und er war ein Kosmopolit, er hat die nationalen Optionen, die sich im Umfeld des Aufstiegs von Napoleon in Deutschland bereits in der Publizistik derzeit geltend machten, nicht teilen können. Schiller war kein Patriot, er ist deshalb auch nicht zu beanspruchen für eine nationale Hagiographie, für eine nationale T Mythengeschichte. Sondern Schiller ist immer ein europäischer Denker gewesen, und ich lese etwa die Jungfrau von Orleans durchaus auch als ein kritisches Stück über den Patriotismus, über die Konsequenzen des Patriotismus."

    Chapeau, Herr Alt, das musste mal heraus.

    Hierzu André Alt:

    "Johanna stirbt nicht als Heilige, zwar wird sie verklärt, sie steigt in den Himmel auf, aber dieser Himmel ist leer, das ist ein Himmel ,der keine Erlösung, keine Verheißung bietet, Johanna ist vor allen Dingen das Opfer, das Opfer einer patriotischen Idee, und das ist ein Leitmotiv, das Schillers Auseinandersetzung mit der Politik in der klassischen Periode bestimmt, das Leitmotiv der Distanz gegenüber dem Patriotismus, das etwa auch die Xenien, die Spottverse, die er zusammen mit Goethe schreibt, transportieren."

    Peter-André Alt entdeckt in dem utopischen Visionär den Ideologen der bürgerlichen Gesellschaft und zugleich den Ideologiekritiker des klerikal-patriorischen Reichsgedankens, einen Intellekt von Voltairscher Verschlagenheit und Eleganz - was durch die Befunde der Sprach- und Textanalysen und unter Einbeziehung neuerer Einzelforschungen insbesondere zu den Dramen wohl auch hinreichend gesichert scheint. Freilich geht der "Cherubim mit dem Keime des Abfals" damit endgültig zum Teufel. Dieser Schiller ist ein brillanter, pragmatischer Intellektueller, der an der Subversion des Denkens bis in tiefste Textschichten festhielt, der die Moral von der Politik abgrenzen wollte und ästhetische Erziehung als soziologisches Surrogat, als Massenmedium verstand,, aber keiner mehr, den man lieben oder hassen könnte, dessen Frauengeschichten oder Lebensgewohnheiten man unbedingt kennenlernen möchte. Kurz: Alt eliminiert das psychologische Subjekt der Biografie, statt mentaler Nähe sucht er das Geistergespräch, er beurteilt den lebensgeschichtlichen Widerspruch zwischen bios und graphé, Leben und überlieferter Schrift als im Wesentlichen versöhnt und eröffnet an seiner Stelle den kahlen Schauplatz der Ideen und Visionen eines säkularen bürgerlichen Europa. Hierzu André Alt:

    "Wir reden immer von Biografie, aber es werden doch Biografien geschrieben unterschiedlichster Prägung, es werden Lebenserzählungen geschrieben, es werden Biografien über Autoren geschrieben, in denen die Werke überhaupt keine Rolle spielen, das finde ich völlig absurd, aber das ist ein Genre das sich durchaus etabliert hat am Markt, und was es eben sehr selten gibt, das sind Werkbiografien, Wissenschaftler schreiben ja kaum Biografien, die meisten Autoren von Biografien sind keine Wissenschaftler, das ist kein Zufall, und in der Wissenschaft ist die Biografie erst allmählich wieder als Genre rehabilitiert worden , ich bin Literaturwissenschaftler, ich kann keine Biografie schreiben, die eine Intimbiografie ist, sondern ich muss eine Werkbiografie schreiben, insofern kann ich mit diesem Vorwurf, dass die Einfühlung fehle, gut leben.

    Der von der früheren Germanistik so erfolgreich domestizierte Idealist Schiller, der visionäre Träumer, so argumentiert Alt mit Adorno, war in Wahrheit ein intellektueller Gewaltmensch, der Gewalt und Terror als Mittel der politischen Veränderung ablehnte und zugleich in Gestalt eben dieses beharrlichen poetischen Idealismus als Sozialtechnik äußerst erfolgreich sublimierte. Diese Grundhypothese macht das Buch hochinteressant und teilweise spannend wie einen guten Krimi. Denn freilich müssen die Philologen, die Textforscher, wie die Insektenforscher auch, ihr Forschungsobjekt erst töten, um den Tathergang aufzuklären