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Schnelle Neuorganisation

Neurologie. - Noch stehen lange Weltraumflüge von Menschen nur auf dem mittel- bis langfristigen Zeitplan der Raumfahrtagenturen, doch sie wollen gut vorbereitet sein. Daher haben deutsche Neurologen Nervenzellen auf einer chinesischen Orbitalmission mitfliegen lassen, um zu sehen, wie sich die Neuronen in der Schwerelosigkeit verhalten.

Von Thomas Wagner | 01.06.2012
    Der erfolgreiche Start der chinesischen Trägerrakete "Langer Marsch" im Zuge der Mission "Shenzhou 8" ist auch bei den Wissenschaftlern der Fachgruppe Membran-Physiologie der Universität Hohenheim ein Grund zur Freude. Denn sie haben an Bord der Kapsel mehrere Versuchscontainer auf die Reise ins All geschickt.

    "Also so einen Container kann man sich im Grunde genommen vorstellen wie eine Zigarettenschachtel, also nicht besonders groß. Wenn man sich jetzt vorstellt, dass dieser Container 14 Tage überleben muss, 16 Tage sogar, mit lebenden Zellen, dann braucht man da einiges an Technik, die dahinter steckt","

    erklärt Biologin Claudia Ulbrich von der Fachgruppe Membranphysiologie. Die Mini-Container aus Hohenheim wurden in der so genannten Sim-Box integriert, die der Raumfahrtkonzern Astrium eigens für die Shenzhou-Mission entwickelt hatte. Sie enthielten eine eigentümliche Fracht: Menschliche Nervenzellen, die gezielt über zwei Wochen der Schwerelosigkeit ausgesetzt wurden. Denn Professor Wolfgang Hanke vom Lehrstuhl für Membranphysiologie hatte im Vorfeld des Experimentes auf Tagungen immer wieder gehört,

    ""dass russische Raumfahrer, die sehr lange im All gewesen sind, über mentale Defizite berichtet haben, beispielsweise nach über 700 Tagen in Schwerelosigkeit. Und es hat sich dann die Frage gestellt, was der Grund für diese Defizite ist."

    Ein Grund könnte darin bestehen, dass sich die Struktur der Nerven- und Gehirnzellen unter dem Einfluss der Schwerelosigkeit verändert. Um dies herauszufinden, entwickelten die Forscher der Universität Hohenheim ein umfangreiches Versuchs-Szenario: Auf so genannten "Parabel-Flügen" wurden Nervenzellen wenige Sekunden der Schwerelosigkeit ausgesetzt, auf Flügen mit so genannten "Sound Rockets", die nur sehr kurz im All unterwegs sind, etwa 15 Minuten. Mit der chinesischen Mission "Shenzhou 8" konnten die Proben erstmals über einen längeren Zeitraum hinweg beobachtet werden. Bei all diesen Experimenten stießen die Hohenheimer Forscher auf erstaunliche Ergebnisse – beispielsweise auf Veränderungen der zellulären Skelett-Struktur, des so genannten Zytoskeletts. Claudia Ulbrich:

    "Wenn man sich das auf dem Bild anschaut, kann man sich das vorstellen wie so ein Spinnennetz. Also, das sind lauter kleine Fäden, die kreuz und quer durch die Zelle laufen, von der Membran, also vom Äußersten der Zelle, bis nach Inneren zum Zellkern."

    Nach nur sehr kurzer Einwirkung von Schwerelosigkeit, die etwa 30 Sekunden dauerte, wurde diese Skelettstruktur der Nervenzellen zunächst komplett zerstört. Doch schon nach wenigen Augenblicken, die Forscher sprechen von wenigen Minuten, gelingt es einer Nervenzelle, eine neue Skelett-Struktur aufzubauen. Doch wie unterscheidet die sich vom ursprünglichen Aufbau? Hier dauern die Untersuchungen der Zellproben aus dem chinesischen Shenzhou-8-Projekt noch an. Für Professor Wolfgang Hanke lautet dabei die spannende Frage,

    "ob es nach 16 Tagen komplett reorganisiert, also genauso wie vorher ist, oder ob es nach einer langen Zeit zwar auch wieder stabil ist, aber anders aussieht."

    Mit Gewissheit lässt sich allerdings bereits jetzt sagen: Die Kommunikation zwischen den einzelnen Nervenzellen wird unter dem Einfluss der Schwerelosigkeit langsamer.

    "Also wir wissen aus Experimenten, dass die Ausbreitung von Aktionspotentialen auf Nervenfasern in der Schwerelosigkeit um einige Prozent reduziert ist. Die Konsequenz ist eigentlich, dass die gesamte Datenverarbeitung im gesamten Nervensystem langsamer arbeitet. Es handelt sich hier um eine Reduktion von der Größenordnung her um fünf Prozent."

    Ob dies aber Einflüsse auf die mentale Leistungsfähigkeit eines Menschen hat, ist fraglich. Wolfgang Hanke verweist auf Erbkrankheiten, die die Geschwindigkeit der Verständigung zwischen den Nervenzellen gleich um 30 Prozent herabsetzen – ohne äußerlich erkennbare Auswirkungen. Was die Hohenheimer Forscher aber noch mehr überrascht, ist die Fähigkeit einer jeden einzelnen Nervenzelle, Schwerkraft zu detektieren – eine Fähigkeit, die eine Nervenzelle nach Ansicht von Wolfgang Hanke gar nicht benötigt.

    "Zum Beispiel verfügt der Mensch dezidiert über ein Organ, nämlich über das innere Ohr, zur Schwerkraft-Wahrnehmung. Das heißt: Der Mensch ist eigentlich gar nicht darauf angewiesen, dass jede einzelne Zelle Schwerkraft wahrnehmen kann. Auch Pflanzen und Tiere haben dezidierte Organe, mit denen sie Schwerkraft wahrnehmen können. Soll heißen: Wo liegt der Sinn darin, dass einzelne Zellen Schwerkraft wahrnehmen können. Das wissen wir einfach nicht."

    Auch hier erhoffen sich die Hohenheimer Wissenschaftler durch eine Auswertung der Shenzhou-8-Proben weiter Erkenntnisse. In naher Zukunft soll eine neue Probe zudem an Bord einer russischen Rakete auf die Reise geschickt werden. Denn Erkenntnisse über die Auswirkungen von Schwerelosigkeit auf Nervenzellen werden vor allem im Vorfeld von Langzeit-Weltraummissionen an Bedeutung gewinnen. Dessen ist sich Professor Wolfgang Hanke sicher.

    "Für langfristige Missionen wäre es ein enormes Problem, wenn Zytoskelett-Schädigungen auftreten würden. Das würde für Astronauten oder für heranwachsende Organismen problematisch sein. Das muss man vorher wissen. Ich gehe jetzt persönlich davon aus, dass das nicht zu entscheidenden Problemen führen wird. Man muss aber einfach die Daten haben, um abschätzen zu können, inwieweit da Risiken für längerfristige Missionen existieren."